Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Ziegenrück, 13. Oktober 1853

Ziegenrück 13/10 53.

Liebe Eltern!

Hoffentlich habt ihr beide euch jetzt von euren abentheuerlichen Reisen hinlänglich erhohlt, und namentlich wünsche ich, daß Mammas Rücken von dem bösen Falle sich wieder ganz a recreirt hat. Wir befinden uns hier fortdauernd sehr munter und vergnügt; ich fühle mich jetzt gesünder und sorgloser, als seit langer Zeit, wovon die Ursache gewiß ebenso sehr in der Abgeschlossenheit von allem wüsten Menschentrouble, als in der unerschöpflichen Herrlichkeit der Natur in dem hiesigen Bergparadies liegt; ja die Hypochondrie ist jetzt stellenweis so in den Hintergrund gedrängt, daß ich wieder mitb einer sonderbaren Art von Lebenslust und Sinn für die Zukunft in mein künftiges Leben, mag es nun fallen, wie es will, neugierig hineinzublicken wage, was mir seit langer Zeit vergangen war. Item, es ist hier mein Tusculanum! Wir haben nach eurer Abreise, je nachdem die undurchdringlichen Nebel in den Thälern sich Morgens senkten oder aufstiegen, abwechselnd noch mehrere wunderschöne Herbsttage, die sich von denen während eures Hierseins nur durch größere Kälte, bunte Wälder und Herbstlichkeit unterschieden, und gelinden Landregen gehabtc. An einem der erstern Tage, der wirklich ganz frühlingsmäßig war, machte ich mit Karl einen Ausflug nach der Hakenmühle, nach der wir Papa so gern ein mal hingebracht hätten. Es ist allerdings etwas weit (wir gingen um 3 Uhr Nachmittags aus und kamen erst Abends 7 wieder) aber der Weg dahin (über das Conrod und den Lasterberg, immer weiter westlich in die Schluchten hinein, längs der Saale hin) ist auch überaus lohnend; und wie herrlich liegt erst die Mühle selbst! in einer ganz engen, beiderseits von hohen Waldwänden eingeschlossenen, ganz einsamen Schlucht der Saale, über welche ein schwindlicher Steg zu den Felsen des andern Ufers hinüberführt! Es ist ein sehr ansehnliches hohes und mit vielen Nebengebäuden versehenes Haus, das einen in dieser Einsamkeit sehr überrascht. || Der reiche und industriöse Besitzer, Hr. Herold, ein sehr netter Mann führte uns in dem ganzen neuen Bau herum und

zeigte uns die sehr industriöse Einrichtung. Es befand sich in dem Bau außer einer gewöhnlichen Wassermühle, Säge-Mühle, Öl Mühle etc noch eine sehr kunstreiche und zierliche neue amerikanische Dampfmühle. –

Eine fast noch entzückendere Parthie, als diese (vorigen Sonnabend) machte ich vorgestern (Dienstag den 11ten). Carl hatte nämlich früh Termin in „der Liebsten“ (Liebschütz). Ich begleitete ihn früh um 7 über die Hemmkoppe und die Liebschützer Höhe (wo Papa ja wohl auch die schöne Aussicht nach Süden und Osten, namentlich in das Saalthal nach Lobenstein zu gesehen hat), auf welcher ich noch lange allein gemüthlich herumbummelte und Moose und Flechten suchte. Dann ging ich auf dem alten Weg zurück und rutschte (halb kullerte ich) den nördlichen, der Hemmkoppe zugekehrten steilen Abhang hinunter, wo ich unten an einen allerliebsten Bach gelangte, der sich hier in die Saale ergoß. Auf der beiliegenden Skizze ist dieser Bach mit B bezeichnet. Dann kletterte ich den steilen mit D bezeichneten Abhang längs der Saale hin und gelangte so nach 2 Stunden an den Anfange des überaus herrlichen Ottergrunds (ganz oben rechts in der Ecke, südsüdwest vom Schloß gelegen) dessen Pracht mir schon Karl so schön geschildert hatte, der aber noch alle meine Erwartungen übertraf und sich dreist mit den schönsten und wildesten Bergbächen des Thüringer Waldes, ja sogar des Harzes vergleichen kann. Denn abgesehen von derd reichen Flora der zierlichsten Moose, die mir den ganzen folgenden Tag Material fürs Microscop lieferten, besitzt dieser überaus schöne Ottergrund, der alle andern Naturschönheiten Ziegenrücks in sich vereint, eine solche Fülle und Abwechslung von prachtvollen Bäumen, düstern Bergabhängen, lieblichen Wiesengründen und romantischen Felsparthien an dem Ufer seines wild über Blöcke dahin tosenden und niedliche Cascaden bildenden Bergbachs, daß iche mich kaum nach mehreren Stunden davon trennen konnte. ||

Wie schade, daß ihr ihn nicht besucht habt; das nächste Mal dürft ihr dies ja nicht versäumen. Der einzige schlimme Umstand ist, daß er etwas abgelegen ist. Am nächsten würde man noch hinkommen, wenn man über das ganze Conrod quer wegging und dann durch die Saale watete. Letzteres versuchte ich auf dem f Rückweg, da ich Karls große Wasserstiefeln anhatte, kam aber nicht ganz durch, da das jenseitige Drittheil der Saale etwas zu tief war. Als ich Mittag nach Hause kam, sah ich wie der höhere Waldstrolch aus, so daß Mimmi die Hände über dem Kopf zusammenschlug und ich selbst mich im Spiegel bewunderte. Die ganze Tour machte mich sehr müde und vergnügt zugleich. –

Am Sonntag haben wir mit Doctors Steins Leben zu lesen angefangen. Vorgestern Abends waren wir unten, da der Frau Doctorin Geburtstag war. Wir waren sehr vergnügt. Es sind doch ganz umgängliche Leute. Ich werde jetzt viel von ihnen mit meiner Mysogynie aufgezogen. So veränderte der Dr., als er mich gestern in Moose ganz vertieft fand, die Schöpfungsgeschichte folgendermaßen: „Und Gott sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; und er schuf um ihn Laubmoose und Lebermoose und Flechten und 1 Microscop!“

– Ich habe jetzt mit sehr viel Interesse und Nutzen die populäre Astronomie von Rauch, die Du, liebe Mutter, mir mitbrachtest, gelesen. Es ist ein sehr lehrreiches, vor allen sehr faßlich und verständlich für Laien geschriebnes Buch, das gewiß auch Dir, lieber Vater, die Hauptzüge der Astronomie vollkommen klar machen wird, was Du ja immer gewünscht hast. Lies es nur einmal. Ich hatte vorher auch kaum eine Idee davon, und bin durch einmaliges Lesen dieses Buchs sehr aufgeklärt worden. –

– Wenn Ihr Georg Quinke noch seht, so grüßt ihn herzlich und sagt ihm, er möchte doch, wenn es anginge, in Königsberg Physiologie bei Helmholtz hören. Er gilt in Würzburg für den exaktesten der jetzigen Physiologen, der namentlich alle in das Gebiet der Physik schlagenden Capitel der Physiologie mit großer mathematischer Genauigkeit behandelt hat. || Die Hefte von Pouillet-Mueller und den dritten Band von Lehmann schickt mir ja recht bald mit der Hose mit, per post, da ich den 23sten abreisen werde. Wenn ihr es mit der Eisenbahn, auch als Eilfracht, schickt, kommt es zu spät. –

Mimmi ist ein paar Tage unwohl gewesen, jetzt aber wieder besser. Ich habe mich eigentlich etwas über das kleine Ding geärgert, da sie in manchen Dingen gar zu unvorsichtig ist. So hat sie z.B. von Diät auch nicht die geringste Spur von Idee. Sie meint immer, wenn sie von allen Sachen nur ein ganz klein bischen äße, könnte das gar nichts schaden. Als sie den ersten Tag Diarrhoe gehabt hatte, aß sie zu Mittag Gurkengemüse, Äpfel etc alles durch einander und trank dazwischen Wasser!! So kann sie auch jetzt, da ihr der Dr. strenge Diät verordnet hat, noch gar nicht darein finden und meint, das wäre nur alles übertriebene Ängstlichkeit, ihr schadete Nichts. Fast wäre es gut, wenn ihr Mama einmal einen ordentlichen diätarischen Speisezettel g sendete! – Aber, abgesehen davon, „ist es nicht ein gar zu nettes Frauchen?“ Papa?? – Im übrigen leben wir sehr vergnügt und neckisch zusammen.

Sehr viel haben wir an unsre arme, arme Tante Bertha gedacht, und ihre Leiden von Herzen bedauert. Aber wenn ihr das nur etwas hülfe! Es ist doch gar zu hart und grausames Leid, nachdem es ihr im Sommer so viel besser gegangen, nun wieder ganz elend und flach dazuliegen. Da möchte man wirklich oft den lieben Gott fragen, wie er so etwas zugeben kann! –

Wir grüßen sie alle recht von Herzen und lassen ihr baldigste Linderung der Qual wünschen, wozu Gott helfen möge! Auch an Großvater, Bertha (Cousine), Heinrich und Theodor, der nun auch wohl wieder eingetroffen sein wird, die besten Grüße von eurem alten Ernst H. —

In Betreff der Stollbergschen Angelegenheit triumphirten Mimmi und ich sehr über euren Brief, gegenüber unserm schwarzkuckerigen Karl, der bestimmt gehofft hatte, ihr würdet ihm davon abrathen! –

Da übrigens Wachsmuth nicht wieder geschrieben hat, so scheint Steinbach die Stelle angenommen zu haben. Das hätte Karl wieder von seiner übertrieben aufopfernden Freundschaft.h ||

Schöne, zum Theil seltne, Cryptogamen Laub- und Lebermoose im Ottergrund habe ich gefunden: Mnium punctatum ein allerliebstes Moos.

Ferner Racomimitrium aciculare Fontinalis antipyretica Fegatella conica etc etc.

a gestr.: erho; b eingef.: mit; c eingef.: gehabt; d eingef.: der; e korr. aus: mich; f gestr.: Hin; g gestr.: , von; h Text weiter am rechten Rand: Da übrigens … Freundschaft.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
13.10.1853
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37478
ID
37478