Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 8. Juli 1853

Würzburg 8/7 53

Liebe Eltern!

Ich benutze den Abend von Mimmis Geburtstag, um wieder ein Stündchen mit euch zu plaudern. Die ganze Feier dieses Familienfestes hat für mich darin bestanden, daß ich heute Mittag mit meiner Wirthin deren vielgeliebte Gans verspeist habe, welche sie Wochenlang für den heutigen Tag genudelt hatte. Es ist nämlich heute zugleich hier der letzte (wirklich der letzte, schade! schade!) Feiertag in diesem Sommer, das Fest des heiligen Kilianus, für die hiesige Stadt ein Hauptfest. Besagter Heiliger hat nämlich einmal seine Füße in einer hiesigen Quelle gewaschen, und seitdem springt diese Quelle, über welcher nachher eine große Kirche erbaut wurde, alle Jahr nur einmal und zwar am heutigen Tage! während sie sonst das ganze Jahr versiegt ist!! Und diese Quelle besitzt an diesem Tage die wunderbarsten Eigenschaften, macht Sehende blind (oder vielmehr umgekehrt!) u.s.w.!!! Da ist denn wieder einmal das ganze Landvolk von Unterfranken in großen Processionen in die Stadt gezogen und bietet alles auf, um ein Fläschchen dieses köstlichen Heilwassers (nämlich abgestandenen Regenwassers, welches der Küster tags zuvor in das sonst leer stehende Wasserbecken gefüllt hat) zu erangeln. Es ist wirklich ein ergötzlicher, und doch trauriger Anblick, dies verdummte Bauernvolk, wie es sich mit dem andern Pöbel um ein paar Tropfen Wassers drängt, stößt, schlägt u.s.w. und überseelig ist, wenn es damit ein Kreuz auf die Stirne machen und sich die Augen einreiben kann. Diese Macht der Pfaffen und des Aberglaubens ist hier noch fabelhaft. ||

Zu diesem großen Fest also opferte meine Wirthin ihre theure Gans, die ich mir auch vortrefflich schmecken und wozu ich eine Flasche Wein für 15 xr (4 Sgr) holen ließ, mit der wir auf die Gesundheit meiner geliebten Schwester anstießen. Ich hatte anfangs einen lange beabsichtigten Spaziergang heute machen wollen; aber bei einer beständigen Hitze von 25° den ganzen Tag, wobei kein Wölkchen den ganzen Himmel trübte, mußte ich diesen kühnen Plan wohl aufgeben und mich damit begnügen, heute Abends die Hitze und den Schweiß des Tages etwas in den kühlen Mainfluthen abzuwaschen. Aber gedacht habe ich heute recht viel an mein liebes Ziegenrücker Geschwisterpaar, und mich mit euch Lieben in No 6 und 8 über ihr Glück gefreut, und Gott um seinen fernern Segen für sie gebeten! Sie werden gewiß heute recht glücklich und seelig sein; es ist ja das erstemal, daß Mimmis Geburtstag am Ziel ihrer Wünsche gefeiert wird, und daß ich von einem Geburtstage meiner Schwägerin nicht bloß in spe sprechen kann. Deßhalb habe ich auch mir das Vergnügen machen zu dürfen geglaubt, auch meinem Ziegenrücker Pärchen in seiner Waldeinsamkeit ein paar Bocksbeutel zu schicken. Ihr seid doch nicht böse darüber? Ich selbst trinke ja nie welche, und da darfa ichs wohl einmal wagen, mit dem Verschicken an Andere etwas üppig zu sein; besonders, als ich hörte, daß er bei euch gut angekommen ist, und euch Freude gemacht hat! – ||

Deinen Geburtstag, mein liebes Mutterchen, habe ich still für mich, im Geiste bei euch, gefeiert; Nachmittag machte ich einen Spaziergang auf die höchste Spitze des Nikolausbergs, auf welchem das Käppele steht, und welcher der höchste Punkt in der ganzen Umgegend ist. Ich war noch nie so hoch herauf gelangt und wurde nun durch eine ganz prachtvolle Aussicht fast über ganz Franken und weiter, namentlich b den Main hinunter, herrlich überrascht. Nach Norden erschien am Horizont der Spessart, nach c Westen die Rhön mit ihren höchsten Spitzen, nach Osten die Fränkischen Gebirge. Ganz herrlich machte sich das Mainthal mit seinen unzähligen Windungen und Biegungen, die ich weit hinunter übersehen konnte; ach wie sehnlich wünschte ich euch her, um mit mir den herrlichen Genuß zu theilen. Wenn d man so etwas allein genießt, ist es doch immer nur die halbe Freude. Auch die Beleuchtung war ganz einzig, gigantische Wolkenschatten über die Berge verstreut. Und zu allen diesem kamen nun noch reizende botanische Bescheerungen, wie ich sie lange nicht genossen. Zuerst fand ich einen niedlichen Waldmeister mit blauer Blüthe (Asperula arvensis), dann eine schöne, ebenfalls noch nie gefundene Doldenpflanze (Turgenia latifolia), dann ein sehr merkwürdiges Farrnkraut (Botrychium Lunaria) mit einer Fruchtähre oder Traube, und endlich einen reizenden, wilden, rosenrothen Flachs (Linum tenuifolium). Soviel Schätze auf einmal waren mir lange nicht geboten worden! Ich war ganz selig. Ich verlief mich übrigens in dieser Seeligkeit, diesem Suchen, Schauen und Bewundern ziemlich weit, in eine mir vorher ganz || unbekannte Gegend und bekam schließlich ein tüchtiges Gewitter auf den Hals, dessen donnernder Widerhall in den Schluchten und Thälern sich gar nicht übel machte. Aber auch diese Durchnässung sollte nicht umsonst für mich sein. Als ich wieder auf den Gipfel des Nikolausbergs gelangte, breitete sich vor mir und zu meiner Rechten (nach Süden und Osten) ein prächtiger doppelter Regenbogen aus, dessen unteres Ende tief zu meinen Füßen hinabreichte und auf der Mainbrücke zu stehen schien. So hatte ich vom Berge aus den Anblick eines Regenbogens im Thal, hinter dem in weiter Ferne wiederum blaue Berge als Hintergrund dienten, ein merkwürdiges Schauspiel, das ich erst einmal und zwar auf dem Inselsberg im Thüringer Wald gehabt hatte. Wenn ihr noch mit mir diese Freuden hättet theilen können, so wäre dieser Nachmittag der vergnügteste hier verlebte gewesen! Aber das beste kommt noch. Als ich seelensvergnügt nach Hause sang und sprang, sah ich, an einer Mauer der Vorstadt angekommen, wie die Sträflinge die Fläche derselben von Unkraut säuberten. Unter diesem war mir schon lange ein schönes großes schwefelgelb blühendes Fingerkraut aufgefallen dase ich gar zu gern in der Nähe beschaut hätte, und als ich jetzt eins herunterholen konnte, fand sichs: || denkt euch meine freudige, staunende Überraschung! daß es Potentilla recta war, die Schenk in der ganzen Flora von Wuerzburg vergeblich gesucht zu haben angiebt, und an der er so schon oft genug, ohne es zu ahnen, vorbeigelaufen war. Natürlich lief ich schnurstracks mit meinem köstlichen Funde zu ihm und theilte ihm meine Entdeckung mit. Das Gesicht hättet ihr sehen sollen! Anfangs schien er stumm überrascht; dann sagte er halb ärgerlich, halb freundlich: „Sie sind doch halt n Teufelskerl; wo habn ‘s das wieder aufgegabelt?“ – – – Meinen Stolz und meine Freude könnt ihr euch denken! –

Schon am Sonntag wanderten wir mit einem netten Schweizer (Kaufmann, den ich schon in Berlin kennen gelernt hatte) hinaus und ich mußte ihm meinen neu entdeckten Fundort zeigen; dann gingen wir noch einmal auf den Nikolausberg, wo ich noch eine, mir ganz neue, große Seltenheit, die langbegehrte Althaea hirsuta, fand. O gaudium! –

Ich habe übrigens jetzt ein nettes Paket Heu, das ungefähr 4 Bänden meines Herbariums entspricht, zusammengebracht, theils aus der Flora Herbipolitana, teils aus dem hiesigen botanischen Garten, und bekomme oft ordentlich Angst vor dem Transport desselben nach Berlin! –

Aber diese pflanzlichen Genüsse werden zum Theil noch durch die thierischen überwogen. Hierunter verstehe ich die vergleichende Anatomie, welches wirklich eine einzige Wissenschaft ist! Wir seciren jetzt tüchtig Schnecken, Muscheln u.s.w. ||

Im Übrigen ist von meinem Leben und Treiben nicht viel Neues mitzutheilen, als das die Zeit immer kürzer zugemessen wird. Es geht auf das Ende des Semesters los; die Professoren verdoppeln, da sie keine Möglichkeit sehen, fertig zu werden, ihre Stunden u.s.w. Übrigens muß ich Dich, liebe Mutter, noch um einen Tag Reiseaufschub bitten. Den 13., Sonnabend, nämlich wird bei Kölliker experimentirt, was ich keinenfalls verlieren möchte, so daß ich erst Sonntag, den 14ten früh von hier abreisen kann. Du bist wohl damit einverstanden? Von Büchern nimm nicht zu viel mit, höchstens Göthes Wahrheit und Dichtung und Immermanns Münchhausen. Ich bringe ja von hier auch noch mehrere mit! –

Für Deinen Bericht über Deine Studien, die geographische Gesellschaft etc, lieber Vater, den besten Dank. Wenn Herr Diezel in Stuttgard in seiner Schrift über Frankreich die Franzosen so herunter macht, so bin ich ganz mit ihm einverstanden. Ich kann das übermüthige, glatte Volk nicht ausstehen und zanke mich immer mit Schenk darüber, der sie in Schutz nimmt. Ich kann mich nicht mit ihrem falschen geschliffenen Wesen befreunden, obwohl ich voriger Tage von einem sehr höflichen französischen Schweizer (Marcel Chiffele de Fribourg) ein hübsches Geschenk bekommen habe, das ich lange vergeblich zu erwerben gesucht. Ich hatte ihm nämlich ein paar anatomische Zeichnungen gemacht, wofür er mir ein sehr seltnes Bild von Kölliker, das sehr schön und natürlich ist, schenkte! – [Briefschluss fehlt]

a gestr.: s; b gestr.: nach; c gestr.: O; d gestr.: s; e korr. aus: daß

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
08.07.1853
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37471
ID
37471