Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 17. Juni 1855

Würzburg 17/6 55

Liebe Eltern!

Es ist jetzt grade Sonntag Nachmittag, den ich gewöhnlich als den einzigen disponiblen Nachmittag dazu zu benutzen pflege, eine Irrfahrt à mon gout in die schöne Umgegend zu machen, um ein Blatt meines nun bald vollen Skizzenbuchs auszufüllen und nebenbei mir meine alte liebe Thier- und Pflanzenwelt wieder etwas anzusehen, welche ich ja von Rechts wegen die ganze Woche hier jetzt vollständig vergessen muß. Da nun aber seit gestern, nach mehreren Wochen sehr schöner, aber heißer Tage (bis über 30°) ein wahres Novemberwetter mit furchtbarem Sturm, Kälte und Regen eingetreten ist, so muß ich hübsch auf meinem Stübchen sitzen, und da, denke ich, kann ich nichts Bessres thun, als mit euch zu plaudern. Es ist mir ohnehin jetzt oft so recht schwer ums Herz, daß ich mich gar nicht einmal so recht gründlich mit euch aussprechen kann. Das Briefpapier ist doch eine gar zu dürftige Gedankenbrücke und grade für einen gemüthlichen Ideenaustausch ganz ungenügend. Deßhalb freue ich mich ungeheuer auf Deinen Besuch, lieber Vater und Bruder; dann werde ich einmal mein volles Herz so recht ausschütten können. Denn so voll wie jetzt, ist es noch selten gewesen, und grade jetzt habe ich hier doch keinen Menschen, dem ich es anvertrauen könnte und möchte. Die Hauptsache ist, daß in den letzten Wochen eine sehr bedeutende, und, wie ich hoffe, recht günstige, Umstimmung und Veränderung in meinen speciellen Lebensansichten eingetreten ist. Vor allem betrifft diese Metamorphose meine früher höchst einseitige und vorurtheilsvolle Anschauung über das Studium der Medicin, mit welchem ich jetzt, – dank sei es Virchows unvergleichlichen Collegien und der guten Klinik Bambergers, – so ziemlich ganz ausgesöhnt bin, wenigstens so weit, daß ich nun bestimmt und selbst mit einem gewissen Interesse dasselbe von Anfang bis zu Ende durchführen werde. Hoffentlich seid ihr darüber nicht weniger als ich erfreut. Mein ganzes Innere hat dadurch wirklich eine wesentlich beruhigende Umstimmung erfahren. Was ist das doch für eine große Beruhigung, wenn man sich ein bestimmtes, festes Ziel gesteckt hat, auf das man nach Kräften und mit Ruhe hinarbeiten kann. An der Aufwendung aller meiner Kräfte solls dabei gewiß auch nicht fehlen, zumal da mir dabei im Hintergrunde als herrlichster Lohn aller Mühen immer die Palme einer naturwissenschaftlichen Reise in tropische Meere vorschwebt, die ich als die Krone aller irdischen Wünsche ja doch nur auf diese Weise zu verwirklichen hoffen darf. Mit der nöthigen Ruhe ists aber freilich eine ganz andere Sache und je mehr ich mich diese mir anzueignen bemühe, desto unruhiger und stürmischer wird der wilde, ungestüme Kampf der widerstreitenden und wetteifernden Gedanken und Bestrebungen in meiner Brust. Namentlich ist es die alte, liebe Noth mit dem Zeitmangel, die mich jetzt entsetzlicher, denn je quält. Wie gerne möchte ich alle die zahlreichen Wissenschaften und Künste, durch deren Complex die Naturwissenschafta (zu denen ich als nur angewandten Zweig auch die Medicin rechne) aufgebaut wird, mir ernstlich und gründlich aneignen und doch reicht die so äußerst karg und spärlich zugemessne Zeit doch kaum hin, um nur das Allgemeinste, Oberflächlichste von allen und nicht einmal in einem einzigen Etwas Vollständiges, zu erfassen. Wenn mich die Wahrheit dieses schrecklichen Gedankens b ergreift, wie das jetzt natürlich täglich der Fall ist, dann möchte ich allemal verzweifelnd und das ungenügende Maß meiner schwachen Kräfte verwünschend die Hände in den Schoß legen. Was soll ich jetzt auch anfangen, wo ich Tag für Tag von früh 7 bis Abends 7 Uhr (mit nur 1, höchstens 2 Stunden Unterbrechung) durch Collegien (freilich meist nur praktische Curse, die nicht halb so viel Kraft und Thätigkeit des Geistes, als die theoretischen Vorlesungen, erfordern) gefesselt bin? Wo soll ich da Zeit zu dem Selbststudium hernehmen. Kaum kann ich mit der größten Mühe wirklich nur so viel Minuten zusammensparen, um in den Handbüchern mich über die mir nochc unverständlichen Kunstausdrücke etc zu belehren. An ein eigentliches specielles Studium, namentlich an die repetitio, mater studiorum, ist da natürlich gar nicht zu denken. ||

d Meine Collegiennoth, die ich euch neulich schon schilderte ist noch dadurch completirt worden, daß nachträglich noche, was mir freilich sehr erwünscht und eigentlich nur die reine Erholung nach den medicinischen Strapatzen des Tages ist, ein zootomischer Praeparirkursus, 2mal wöchentlich Abends von 5–7 zu Stande gekommen ist, wo ich mit noch 7 andern, meist sehr netten Leuten bei meinen speciellen Gönnern und Freunden, den beiden Privatdozenten der Zoologie und vergleichenden Anatomie, Dr. Dr. Leydig und Gegenbaur, niedere Wirbelthiere seciren lerne. (Für mich freilich fast nur Repetitorium, wobei ich aber doch manche hübsche kleine Handgriffe lerne.). f N. B. Der erstere, Leydig, ein gar zu lieber Kerl, von dem ich euch schon öfter geschrieben habe, ist jetzt endlich zu unserer aller größten Freude (trotz aller Gegenmachinationen Köllikers, der ihn g schändlichh egoistisch behandelt hat) zum professor extraordinarius ernannt worden. Es war aber auch die höchste Zeit. Denn als ich herkam, war er wirklich (da er von Haus aus ein ganz armer Kerl, aus den niedrigsten Ständen, ist) in der größten Noth, und auf dem Punkte, umzusatteln, d. h. i die Privatdocentur (deren Weg allerdings nicht mit Rosen bestreut ist) aufzugeben und sein Heil als practischer Arzt zu versuchen. Ein lehrreiches Beispiel! Doch dies beiläufig. –

Auch die beiden einzigen Wochentage, die ich noch Abends von 5–7 Uhr frei hatte, sind jetzt dadurch ausgefüllt worden, daß Koelliker mir auf höchst zuvorkommende (und fürj ihn fast unbegreiflich liberale) Weise dask vergleichend anatomische Museum eröffnet hat. Ich darf mir jederzeit von ihm den Schlüssel dazu holen und dann nach Lust und Belieben mir alle Praeparate ansehen. Selbst die Schränke mit den höchst interessanten und lehrreichen Spirituspräparaten stehen mir offen und ich darf mir diese wenigstens von außen ansehen (was ich nicht einmal in Berlin bei Mueller konnte, der mir bloß die Skelette etc. zur Disposition stellte). Daß ich nun eine so herrliche, günstige Gelegenheit, so viel Seltnes und Merkwürdiges zu sehen (was l in der NaturWissenschaft wirklich die Hauptsache ist, da hier die eigne Anschauung über Alles geht), nicht unbenutzt vorübergehen lasse, könnt Ihr denken. Aber sonderbar! Während früher, und namentlich noch im vorigen Semester mir dieses Ansehen der höchst interessanten, zootomischen Präparate, der höchste Genuß gewesen wäre, so ist dieser jetzt mit so viel bitterm Beigeschmack versetzt, daß ich gar nicht so recht aus vollem Herzen mich über alle die Naturwunder freuen kann. Es fehlt ja durchaus die Ruhe, ohne welche ein solcher Genuß nicht möglich ist. Wo soll ich die Zeit hernehmen, um die Sammlung zum gründlichen Studium zu benutzen oder auch nur alle Sachen einmal ordentlich mit Verstand anzusehen. Und selbst die wenigen Stunden, die ich darauf verwenden kann, kommen mir wie schlecht angewandt und dem nothwendigen medicinischen Studium entwendet vor. So geht mir's auch mit dem Microscopiren, zu dem ich ebenfalls gar nicht mehr die nöthige Ruhe finden kann. Es ist wirklich, als wäre ein böser Geist über mich gekommen der mich sonder Rast und Ruhe stachelte, jetzt einzig und allein der pflichtmäßigen Medicin nachzugehen. Da ist es denn allerdings ganz gut, daß ich von früh bis Abend ins Colleg getrieben werde, so daß mir schließlich gar keine freie Zeit mehr übrigbleibt. Aber auf die Dauer ist das doch 1 höchst ungemüthliche und wirklich unerträgliche Existenz. Zur Ruhe glaube ich, werde ich freilich nie kommen, denn grade das rastlose Immervorwärtsstreben ist mein Leben. Aber wenigstens so viel Zeit möchte ich gewinnen, um das einmal Angefangene gründlich und gediegen ausführen zu können. Hoffentlich werde ich später bei euch in Berlin wenigstens dazu Zeit und Ruhe finden. Vorläufig wünsche ich, daß dies Sommersemester bald vorüber ist und freue mich ungeheuer auf meine Alpenreise, m an deren endliche Verwirklichung ich kaum glauben kann; und demnächst auf den Winter, wo ich nur wenige Collegia, aber desto mehr freie Zeit zum Ausflicken der zahlreichen und großen Löcher in meinen Kenntnissen, sowie zur practischen Ausbildung (in dem ich dann wirklich schon practiziren werde) haben werde. – ||

Die eben erörterten Verhältnisse, namentlich der schreckliche Zeitmangel, sind es aber nur zum kleineren Theil, welche mir mein jetziges Leben, obgleich es inn vieler Beziehung, namentlich in Hinsicht der Befestigung meiner nächsten Lebensaufgabe, sich so sehr günstig umgestaltet hat, so sehr ungemüthlich erscheinen lassen. Das ist vor Allem der höchst empfindliche Mangel eines Freundes, dem ich mein ganzes Herz ausschütten könnte und der mich ganz versteht. Ich fange nun allmählich an, die Hoffnung, einen solchen zu finden, vollständig aufzugeben o. 3 Jahre habe ich nun in meiner Studienzeit danach vergeblich gesucht. Bekanntschaften habe ich genug gemacht, zum Theil auch sehr nette und liebenswürdige. Ja, was man so gewöhnlich „einen guten Freund“ nennt, habe ich in Menge gefunden. Da habe ich nicht wenige Freunde, die ganz meine speciellen Lieblingsbeschäftigungen auch zu den ihrigen machen, andere, obgleich nur wenige, die auch meine allgemein menschlichen, meine moralischen und religiösen Ansichten so ziemlich theilen, noch andere, mit denen ich recht gern die Mußestunden des alltäglichen Lebens zubringe – aber einen rechten Freund, der das Alles in sich vereinigte, der p in allen verschiedenen Richtungen, wie verschieden er auch sonst in Temperament oder Individualität wäre, wenigstens dieselben Grundansichten und Grundsätze hätte, der geht mir vollständig ab und ein solcher ist es doch nur, mit dem man „Herz in Herz und Seel' in Seele drängen“ kann. Ich muß doch wirklich ein ganz sonderbares und abnormesq Kraut sein, daß ich so gar keinen ganz gleichgestimmten Altersgenossen finden kann. Freilich mag ich, ganz abgesehen von allen individuellen, zum Theil gewiß sehr unangenehmenr und abstoßenden Absonderlichkeiten, die ich mich aber jetzt immer mehr abzulegen bestrebe, noch viele recht ideale und falsche Ansichten von der Welt, vom Leben und seinen Aufgaben haben. Aber im Ganzen glaube ich diese Aufgabe in der Art, wie Ihr, liebe Eltern, und auch Du, mein lieber Bruder, mich wohl kennt, doch richtig und wahr aufgefaßt haben und die einzelnen Unrichtigkeiten und Sonderbarkeiten, die mich noch vielfach beherrschen, hoffe ich ja, je mehr ich ins Leben hinaustrete, immer mehr abzuschleifen und abzuwerfen, wozu mir s ein wenig Praktik, auch in der Medicin, gewiß sehr behülflich sein wird. Und doch kann ich unter meinen Freunden nur wenige finden, die ihre Lebensaufgabe in eben der Art auffaßten. Am t meisten glaube ich hierin noch mit dem edlen, vortrefflichen Richthoffen zu harmoniren, dessen Bekanntschaft ich leider diesen Winter in Berlin viel zu sehr vernachlässigt habe. Demnächst würden sich wohl u Weiß und Lachmann anschließen. v Hier glaubte ich in Beckmann einen solchen Freund gefunden zu haben, und in mehrfacher Beziehung ist dies auch der Fall. Um so mehr w bin ich jetzt betrübt, bei längerer Dauer unserer Bekanntschaftx einige Grunddifferenzen unserer Lebensansichten aufzufinden, die ein völliges Ineinanderaufgehen derselben ausschließen. Ich würde y euch von diesen ganzen Verhältnissen nicht so ausführlich schreiben, wenn es michz nicht, namentlich in den letzten Wochen so außerordentlich viel beschäftigtaa und selbst in meinem innersten Wesen erschüttert bb, oft wirklich stundenlang von allen andern Gedanken abgezogen hätte. [Übrigens will ich dabei auch, liebe Eltern, ausdrücklich, auch für die Zukunft, gebeten haben, solche Stellen meiner Briefe, in denen ich euch meine innersten Gedanken und Ansichten, die Niemand weiter zu erfahrencc braucht, mittheile, namentlich wenn ich euch über Persönlichkeiten (wie z.B. meine Freunde) schreibe, solche Stellen Niemandem, außer Karl und Mimmi, mitzutheilen, am allerwenigsten meinen Berliner Freunden (selbstverständlich!)]. –

Ich hattedd nämlich neulich mit Beckmann, mit dem ich im Übrigen ganz vortrefflich harmonire, mehrere Stunden lang ein sehr ernstes Gespräch, in dem wir unsre allgemeinen Grundansichten über Naturforschung, über die Natur selbst, endlich auch über das Leben der Seele, über Unsterblichkeit etc. austauschten. Dabei ergab es sich denn allmählich, daß Beckmann in Betreff des letztern Punktes, was also Gott, Unsterblichkeit, Seelenleben etc anbetrifft, ganz andere Anschauungen hat, als ich. ee Meine Ansichten hierüber kennst Du, lieber Vater, da Du sie selbst fast vollständig theilst. || Beckmann steht dagegen hier ganz auf dem Standpunkt, den allerdings die [bei] weitem überwiegende Mehrzahl der jungen Naturforscher einnimmt, auf dem rein materialistischen und rationalistischen, den z. B. Burmeister in der reinsten und edelsten Weise vertritt und den Du, lieber Vater, noch neulich in Carl Vogts Broschüre „Köhlerglauben und Wissenschaft“ ff vollständig klar und deutlich in seinen Grundzügen ausgesprochen gefunden hast. Wie Du Dich erinnerst, bestehen die Grundzüge dieser reinen Verstandesanschauung der Dinge, darin, daß die Seelenthätigkeit lediglich als Function der Nervensubstanz im Gehirn und Rückenmarkgg angesehen wird, daß mithin eine selbstständige, unsichtbare Seele ebensowenig existirt, als eine Unsterblichkeit, als ein Gott. An die Stelle des letztern tritt 1 blinde, bewußtlose Naturnothwendigkeit, der wir alle ebenso wie alle Materie, die an sich gleichwerthig ist, unterworfenhh sind. Glaube existirt nach dieser Anschauung natürlich ebensowenig als Religion. Diese sind bloß da, um den großen, ungebildeten Haufen der Menschheit zu zügeln und zusammenzuhalten. Die Naturforscher allein sind berufen, die Wahrheit für sich zu entschleiern, die Materie als das allein in der Welt nach bestimmten, blinden, unabänderlichen Naturgesetzen Waltende ii zu erkennen. – Die weitern Konsequenzen ergeben sich aus diesen Grundsätzen von selbst. Ich werde übrigens darüber mündlich mich mit Dir noch weiter expectoriren. Im Ganzen war ich auch grade nicht sehr überrascht, bei Beckmann diese rein materielle und rationalistische Ansicht ausgeprägt zu finden, da, wie gesagt, die bei weitem überwiegende Mehrzahl der jungen Naturforscher und Ärzte derselben vollständig huldigt (wie ich nach eigner, 3jähriger Erfahrung weiß) und da sie von jj einem Theil der Koryphäen der neuern Naturwissenschaft, vor allem eben von Carl Vogt, Burmeister und Virchow vertreten wird, während die meisten andern derselben, kk wie namentlich A. v. Humboldt und Johannes Mueller, ein geheimnißvolles, vollständiges Stillschweigen über diesen Cardinalpunkt beobachten. Auch kann ich mir soweit ich jetzt die Naturwissenschaft in ihrem innern Wesen erfaßt habe, vollständig auf meine Art erklären, wie jene Leute auf Grund der durchaus exacten, rein empirischen, neuern Naturforschung, bei der die auf die Empirie, d. h. auf Experiment und Beobachtung gestützte Inductive Methode, die Induction und Analogie, alles gilt, bei der es ll Princip und erste Aufgabe aller Forschung ist, die Thatsachen der wunderbaren, irdischen Natur auf bestimmte, unabänderliche, chemische und physikalische Gesetze zurückzuführen, wie jene Leute auf Grund jener rein verständigen Anschauung der Dinge zu diesem Resultat gelangten. Der Grundfehler dieser ganzen Richtung, die übrigens gegenwärtig für den Aufbau der jungen Naturwissenschaft als einer auf exacter Empirie gegründeten, höchst wichtig und fruchtbar ist, wenngleich sie später nach meiner Überzeugung in sich selbst zusammenstürzen muß, ist meiner Ansicht nach der, daß sie noch da zu erklären und chemisch physikalische Gesetze anzuwenden sucht, wo diese nichts mehr gelten, und wo auch nichts mehr zu erklären ist, nämlich auf dem Gebiete des Geistes, wo an die Stelle des Verstandes und des Wissens der Glaube, die subjective Überzeugung von Dingen, die die Sinne uns nicht mehr zur Überzeugung bringen, tritt. Sie läugnet aber dies ganze Gebiet ab, weil sie es nicht sinnlich wahrnimmtmm. Ich meinerseits bin vollkommen überzeugt, daß beide Gebiete, nämlich das Wissen vom Sinnlichen, und das Glauben an das Übersinnliche, sich nicht gegenseitig ausschließen, wie jene meinen, sondern daß [sie] sich im Gegentheil zu einer vollständigen Weltanschauung ergänzen, daß das eine da aufhört, wonn das Andere anfängt. Ich begreife auch, wie gesagt recht wohl, wie jene rein rationell materiellen Naturforscher zu dieser ungebührlichen Ausdehnung der oo Verstandesforschung auf Gebiete, wo sie nicht mehr hingehört, kommen; ich begreife meinerseits aber nicht, wie man mit dieser Überzeugung leben kann. Ich begreife am allerwenigsten, wie man dabei ein edler, guter Mensch sein kann, wie jene es in der That doch sind. ||

Beckmann ist, abgesehen von diesen rein materiellen Lebensansichten (im edelsten Sinne des Wortes!) der beste und edelste Mensch, den Du Dir denken kannst. Ich möchte sagen, sein ganzes Leben strafte diese pantheistische Anschauung Lügen, indem es mirpp durchgängig qq nach den Gesetzen desselben Christenthums geregelt erscheint, das er confessionell abläugnet. Beckmann ist in seinem ganzen Thun und Denken so rein, moralisch, edel, gut, wie es der beste Christ nur sein könnte. Er wird hier von Professoren und Studenten allgemein als das Muster eines tüchtigen, fleißigen, kenntnißreichen, liebenswürdigen, rein sittlichen Menschen geliebt. (Dasselbe kann man übrigens, allerdings auch wohl mit gewissen Einschränkungen, von seinem Lehrer, Virchow, der unstreitig den bedeutendsten Einfluß auf ihn ausgeübt hat, sagen). Beckmann ist bei all seinem Rationalismus ein 100mal, nein 1000mal bessrer und vollkommnerer Mensch als ich mit meiner christlichen Überzeugung, so daß ich ihm in jeder andern Beziehung nur als bestem Vorbild nacheifern muß. Wie hoch muß man nicht einen solchen Character achten! Dies ist mir grade das Unbegreiflichste an der Sache. Ich für meine Person gestehe euch offen, daß ich, wenn ich diese materielle Ansicht von meinem Leben hätte, rr ein solches Leben nicht zuss führen tt und auszuhalten im Stande wäre. Wenn ich nicht die festeste Überzeugung von einer von diesem Körper ihrem Wesen nach getrennten, nicht untrennbar mit ihm verbundenen, selbständigen Seele, von einem die ganze Welt erhaltenden und unsre Geschicke leitenden Gott, von einem bessern, jenseitigen, geistigen Leben hätte, ich hätte schon längst das Schicksal des unglücklichen, jungen Ribbeck, von dessen freiwilligen Tod Du mir in Deinem letzten Brief schreibst, getheilt, und hätte, ebenso freiwillig, diesem irdischen Leben, das doch trotz aller irdischen und geistigen Genüsse und Freuden so höchst unvollkommen und mangelhaft ist, und eben durch diese Mangelhaftigkeit und Dürftigkeit in jeder Beziehung allen reinen und wahren Genuß verbittert, und im Ganzen so höchst unbefriedigt und leer läßt, ein Ende gemacht.

Ich würde dann vielleicht garuu einmal vv dem Beispiele jener Elenden folgenww, xx zu denen der größte Theil der Materialisten gehört und wie ich sie auch unter meinen Altersgenossen, namentlich den Medicinern, zu Dutzenden nennen kann, welche auch von Religion, Glauben, Seele nichts wissen wollen, denen aber das reine und moralische, sozusagen humane Streben jener edleren, feineren Rationalisten, zu denen Beckmann gehört, abgeht, und deren einziges Princip darin besteht, nicht in diesem Leben möglichst Viel zu leisten (wohin doch die letzteren streben) sondern lediglich dasselbe möglichst zu genießen. Alles ihr Denken und Thun ist nur darauf gerichtet, sich möglichst viel Genuß, mag dieser nun feiner oder gröber, sinnlicher oder geistiger sein, zu verschaffen. Dies Princip leitet ihr ganzes Handeln und vermag sie allein zu Anstrengungen zu bewegen. Wie innerlich leer und elend muß die große Menge dieser Leute sich doch fühlen! Nein, dann lieber doch gleich diesen jämmerlichen Lebensfaden, der immer nur zu Unvollkommenheiten führt, abschneiden und in ewiges Nichts sinken. Daß ich dies Leben ertrage, daß ich, in beständigem Hinblick auf ein vollkommnes Jenseits, das Diesseits möglichst zur Ausbildung und Vervollkommnung meiner unsterblichen Seele zu benutzen strebe, das verdanke ich allein dem Christenthum, seiner göttlichen, tiefen Wahrheit, welche mir durch euch, liebe Eltern, sowie durch meine trefflichen Merseburger Lehrer, namentlich Simon, erschlossen und verständlich gemacht worden ist, wofür ich Gott nicht genug danken kann. Ohne dieses meine Kräfte richtig leitende, religiöse Princip würde ich gewiß ein ganz unbrauchbarer und schlechter Mensch werden, wozu ich von Natur alle Anlage habe, da ich nicht einmal begreifen kann, wie ein Mensch ohne ein solches Princip, edel und gut sein kann.

– Ich würde euch diese ganzen Ansichten und Gedanken nicht so ausführlich mitgetheilt haben, wenn sie mich nicht grade in den letzten Wochen, namentlich seit jenem ernsten Gespräch mit Beckmann, so vielfach beschäftigt und wirklich tief erschüttert hätten. Ich bin weit entfernt, Beckmann seine entgegengesetzten Ansichten, zu denen eine rein rationelle Betrachtung der Dinge von selbstyy führen muß, zu verargen. Ja wenn ich das verabscheuungswürdige und gewiß höchst verwerfliche heuchlerische Frömmelwesen || unserer pietistischen, orthodoxen Ultramontanen mit ihrem höchst unchristlichen und exclusiven Geistlichen Hochmuth betrachte, wenn ich an das nicht viel schlechtere, geistlose, hierarchische Formelwesen, die unwahre Scheinreligion der katholischen Kirche denke, wie es uns hier täglich in der crassesten, widerlichsten, unwürdigsten Form entgegentritt (wie noch neulich in extremster Weise bei der Frohnleichnamsprocession, die wirklich nichts als 1 großartiger Götzendienst war) – dann kann ich es nur zu wohl begreifen, wie grade die edelsten, von Selbstsucht freiesten, gebildetsten Geister sich mit Abscheu von jenem Zerrbild christlicher Religion wegwenden und lieber ins entgegen gesetzte Extrem verfallen.

– Aber andererseits ist doch leider nicht zu leugnen, daß eine solche wesentliche Grunddifferenz in Auffassung der höchsten und wichtigsten Lebensfragen, wie sie zwischen Beckmann und mir obwaltet, doch ein vollständiges Ineinander aufgehen der Gedanken und Ansichten, wie es zwischen 2 wahren, sich verstehenden Freunden sein muß, und wie ich es wirklich zwischen Beckmann und mir zu finden hoffte, ausschließen muß, und das ist es grade, was mir so viel zu schaffen macht. Denn so kann ich mit Beckmann immer nur ebenso wie mit vielen andern Freunden verkehren, wie es z. B. auch mit Hein der Fall ist. Denn auch der Umgang mit dem letztern ist keineswegs so vertraut, wie mein vielleicht allzu idealer Hang nach einem trauten Herzensfreund mich es früher immer hoffen und wünschen ließ. Je mehr ich Hein durch und durch, auch in seinem kleinsten Verhältnisse, kennen lerne (wie dazu jetzt natürlich die beste Gelegenheit ist, und wie das namentlich auf unsrer gemeinschaftlichen Fußreise war, wo man überhaupt die Leute am gründlichsten Durchschauen lernt), desto mehr sehe ich ein, daß er ein viel zu sehr von mir verschiedener Character ist, um an mir, wo wie ich wirklich mich gebe, Gefallen zu finden. Ihr kennt ihn selbst gut genug und ich brauche euch deßhalb nichts weiter über ihn zu sagen. In seinem Verhalten gegen andere Menschen, in Gesellschaften etc ist er, wie ihr wißt, wirklich musterhaft und kann deßhalb mir, dem leider alles, was man so „guten Ton“, Tact etc nennt, gänzlich abgeht, nur zum beständigen Vorbild dienen. Deßhalb wird er auch von den verschiedensten Menschen geachtet, ist überall, wo er hinkommt, beliebt und weiß mit allen Menschen gut auszukommen, wie verschieden sie auch sein mögen. Diese neutrale, überall die Gegensätze vermittelnde, die Streitenden aussöhnende, unpartheische Haltung, welche den Grundzug seines Characters bildet, ist gewiß etwas sehr Schönes, und diese war es auch, die mich schroffen, eckigen, einseitigen Menschen sehr zu ihm hinzog, weil ich eine solche sanfte, glatte, beständig sich selbst gleiche Oberfläche an mir gar sehr und schmerzlich vermissen muß. Aber andererseits wird es mir immer klarer, daß unter dieser schönen Oberfläche im Grunde doch ziemlich wenig Tiefe ist, und ebenso wenig Entschiedenheit, wenigstens was grade die Hauptfrage betrifft. Ich wenigstens kann hierin nicht recht aus ihm klug werden, so wie er auch nicht aus mir. Und so kommt es denn, daß ich auch mit ihm auf keinem innigeren Fuße stehe, als mit vielen andern Freunden. Doch nun genug von diesen Herzensangelegenheiten, mit denen ich euch bald ermüdet haben werde. Schriftlich läßt sich das doch immer nur sehr unvollständig ausdrücken und ich vermisse jetzt oft es recht schmerzlich, daß ich nicht von Zeit zu Zeit mich mündlich mit euch aussprechen kann. Wie schön war das diesen Winter in Berlin, an den ich überhaupt oft mit großer Sehnsucht zurückdenke. Inzwischen denke ich auch schon wieder hoffend an den künftigen Sommer, wo ich ja hoffentlich wieder recht innig und nett mit euch zusammenleben werde. Daß ihr schon so ein hübsches Quartier für uns zusammen gefunden habt, hat mich recht gefreut; aber über einen wichtigen Punkt dabei bin ich nicht wenig erschrocken und er geht mir viel im Kopf herum. Das ist nämlich die colossale Entfernung vom Centrum der Stadt, worunter ich Universitaet und Bibliothek, welches doch für uns die wichtigsten loca Berolinensia sind, verstehe. zz Ich hatte gehofft, wir würden, wie ihr selbst immer meintet, bei einem Umzuge dem Centrum uns nur nähern. Und nun sind wir noch viel weiter davon abgekommen. Das ist wirklich sehr schlimm. Die neue Wohnung muß sowohl von der Universität, als von der charité wenigstens eine gute halbe Stunde (nach meinem Schritt! Für andre Leute wohl ¾ Stunden) entfernt sein. Und doch soll ich täglich nach letztern beidenaaa Punkten 1–y<2 mal hin und herlaufen. Wie sich das machen soll, sehe ich noch nicht ein. Da bleibt am Ende nichts übrig, als daß ich noch ein besondres Stübchen in der Mittelstraße oder sonst wo miethe. Wenigstens braucht ihr die für mich bestimmten Stuben auf keinen Fall vor Ostern zu miethen, da ich diesen Winter jedenfalls hier noch aushalten muß, falls ich anders bbb in die Medicin wirklich gründlich eingeweiht werden soll. Virchow ist in der That ganz einzig! –

Hoffentlich geht es euch Lieben allen in Ziegenrück recht gut und ihr erfreut euch bald durch die Nachricht von der Existenz eines zweiten Neffen, auf den ich mich nicht weniger freue, als ich es auf den ersten that. Gott gebe, daß Alles recht nach Wunsch geht. Euer treuer Ernst.ccc

N. B. Den Botaniker, Dr. Hanstein, Schwagerddd unsres künftigen Wirths, habe ich schon diesen Winter bei Ehrenbergs kennen gelernt und öfter gesehen.eee

a korr. aus: Naturwissenschaften; b gestr.: in d; c eingef.: noch; d gestr.: Zu; e eingef.: nachträglich noch; f gestr.: Der; g gestr.: ganz; h korr. aus: schäu; i gestr.: das; j korr. aus: führ; k korr. aus: die; l gestr.: d; m gestr.: d; n eingef.: in; o gestr.: an; p gestr.: wenigstens; q eigtl.: abnormer; r korr. aus: unangehnehmen; s gestr.: die; t gestr.: g; u gestr.: He; v gestr.: Auch; w gestr.: war; x korr. aus: Bekanntschaften; y gestr.: ich; z eingef.: mich; aa eingef.: beschäftigt; bb gestr.: hätte; cc korr. aus: erführen; dd korr. aus: hätte; ee gestr.: Was; ff gestr.: die; gg korr. aus: Rückent; hh korr. aus: unterwürf; ii gestr.: darzu; jj gestr.: den; kk gestr.: ein ge; ll gestr.: es; mm korr. aus: wahrnehm; nn gestr.: und; eingef.: wo; oo gestr.: ders; pp eingef.: mir; qq gestr.: du durchgängig; rr gestr.: ich; ss korr. aus: fu; tt gestr.: im; uu gestr.: vielleicht machte; eingef.: würde dann vielleicht gar; vv gestr.: in; ww korr. aus: gefolgt sein; xx gestr.: wie ich; yy gestr.: namentlich; eingef.: von selbst; zz gestr.: Die neue; aaa eingef.: beiden; bbb gestr.: dar; ccc Text weiter auf S. 1 oben: Hoffentlich geht … treuer Ernst.; ddd gestr.: Bruder; eingef.: Schwager; eee Nachsatz auf dem linken Rand von S. 6: N. B. den …. öfter gesehen.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
17.06.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 37435
ID
37435