Delle Grazie, Marie Eugenie

Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 27. Juni 1906

Wien, 27. Juni. 1906.

Hochverehrter Meister!

Was werden Sie von mir denken? Und doch war ich so oft in Gedanken bei Ihnen, hab’ von Tag zu Tag auf den Brief oder die Karte gewartet, die mir melden würde: „Ich bin da!“ – Unverschämt genug war es ja von mir, so viel zu erwarten, und mich dabei so gar || nicht zu rühren. Aber ich hatte einen schlimmen Winter: erst eine Fülle von Arbeiten, dann – gerade als Ihr liebes Schreiben kam, eine schmerzhafte Erkrankung – später wieder der Tage Last und Hoffnungen und Qualen –. Aber wozu von mir reden, die gerade noch so viel vom Leben verlangt, als sie dem Leben – schuldet. Ganz Ihnen sollen ja diese Zeilen gewidmet sein, der nach einem Leben voll Sieg und Kampf nun zur unerschrockenen Vollen-||dung und Befestigung seines Werkes schreitet. Haben Sie sich die Berliner Vorgänge wirklich so sehr zu Herzen genommen? Die Enkel der Leute, die sich heute so viel auf ihre „Exactheit“ zu gute thun, und Ihnen weiß Gott was Alles in den Weg werfen – die werden einmal Ihre Denkmale bekränzen helfen. Das trau’ ich mir zu prophezei’n und thu’ mir nichts zu Gute darauf. Wenn wir Beide diese Zeit auch nicht erleben werden. Ihr einziger Fehler, ist ja doch bloß der || aller genialen Menschen: Sie sind um ein paar Jahrhunderte zu früh gekommen –. Insofern nun der „Monistenbund“ Ihr Werk consolidiren helfen soll, bin ich dafür. Wenn ich aber bedenke dass, was im Kopfe dieses genialen Haeckel so klar und übersichtlich beisammenliegt, in so in so [!] viel tausend Köpfen dann auch ein so und so vielfaches Aussehen gewinnen wird, könnte mir fast bange werden. Noch jede Wahrheit hat auf dem Weg zum Dogma Schiffbruch gelitten. Darüber ließen sich nun Seiten vollschreiben, || aber ich weiß wir versteh’n uns auch so. Was mich betrifft, so glaub’ ich auch etwas für Ihr Werk thun zu können. Ich hab’ nun einen großen Roman unter der Feder: darin richtet sich Ihre Gestalt auf: groß und mächtig und sonnig, wie das Leben im Chaos.

Wie ich mich freu’n würde, Sie wiederzuseh’n, kann ich Ihnen gar nicht sagen. Auch auf die Gefahr, Ihr Beichtvater werden zu müssen.

Wir sind bis zwölften Juli in Wien, von da bis Mitte September in || Groß-Reifling in Steiermark, „Posthof“, wohin ich Ihren Brief erbitte, falls Sie uns nicht mehr in Wien besuchen. Warum aber wollen Sie sich nicht auch die grüne Steiermark wieder einmal ansehen? Und im „Posthof“ mit uns Gesundheit trinken, wie damals auf dem Mönchsberg? Und Salzburg ist auch nicht zu weit von Groß-Reifling. Ganz abgesehen davon, dass Reifling für sich sehenswert ist. („Gesäuse.“) ||

Sind Sie bis in die böhmischen Urwälder gekommen, können Sie sich auch dahin wagen. Am Bahnhof würden Sie zwei gute Freunde treffen, und zwei glückliche Menschen.

In den nächsten Tagen werd’ ich Ihnen meine zwei letzten Werke zugehen lassen. Haben Sie die Gesamtausgabe erhalten?

Ich wag’ es „Auf Wiederseh’n“ zu sagen, trotz alledem!

In unwandelbarer Verehrung

Ihre

ergebene M. E. delle Grazie.

Von Freund Müllner Alles Liebe!

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
27.06.1906
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 37
ID
37