Charlotte Haeckel an Ernst Haeckel, [Potsdam, 6. Oktober 1884]
Montag Abend.
Lieber Ernst!
Sei nicht böse, daß die alte, verniekerte Frau es wagt an den Herren Professor zu schreiben, zumal da sie eigentlich, bei Lichte besehn nichts zu berichten hat; und den Herrn Professor vielleicht noch stört, da er ja jetzt noch ein hohes Amt bekleidet. Aber grade diese Amtswürde ist es, die mich veranlast an Dich zu schreiben: ich fürchte Du läßt Dich zu sehr, unangenehm berühren von den kleinen Mergeleien, die diese Amtswürde mich sich bringt, da Du viel lieber Schnecken, Würmer und sonstiges Gethier untersuchen möchtest. Aber, mein lieber Ernst, || bedenke doch, daß jeder Lebensberuf auch seine Schattenseiten hat; so denke ich oft, wenn Dein Bruder Karl sich mit so kleinlichegen [!] Dingen bei den Richterlichen Untersuchungen beschäftigen muß: wie würde mein lieber Ernst sich darin gefunden haben, wenn er auch hätte Gerichtsrath werden müssen. Nun zum Glück hat er einen Lebensberuf gewählt, der mehr seinen Neigungen entspricht, aber nun muß er auch die Schattenseiten ertragen, die ja a Keinem erspart werden; und die Würde, die Dich jetzt mitunter drückt, dauert ja nicht lange. Also Geduld! ||
Vor allem wünsche ich, daß Dub die Amtswürde, die Du jetzt bekleidest, und die Dir lästig zu sein scheint, ohne große Verdrieslichkeiten durch machen mögst. –
Im Gedanken beschäftige ich mich so viel mit Dir und den Deinigen, und da ist die Sehnsucht nach Euch, Lieben, oft sehr groß. Nun, wenn ich nur immer gute Nachrichten von Euch habe: ich hoffe Deine liebe Frau spürte von ihrer Badereise immer mehr die guten Folgen, und erfreut sich mit Dirc an das Glück Euerer Kinder; ich freue mich mit Euch, daß Ihr jetzt solche Freude an Ihrer Entwickelung habt. ||
So gerne, mein lieber Ernst, machte ich Dir, Deiner lieben Frau und den Kindern zu Weihnachten eine Freude, aber leider kann ich ja nichts besorgen, auch weiß ich ja wenig was Euch eine Freude sein könnte, da würdest Du mir eine große Liebe erzeigen, wenn Du mit Agnes überlegen wolltest und es mir auch vielleicht besorgen könntest. Doch ich kann heute nicht mehr schreiben, und wünsche nur von Herzen, daß es Dir mit Deinen Lieben wohl gehn mag, und Ihr lieb behaltet Euere
alte Mutter
Lotte
a gestr.: von; b eingef.: Du; c eingef.: mit Dir