Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 6. Januar 1853

Berlin 6 Januar 53

Mein lieber Ernst!

Deinen Gratulationsbrief zum neuen Jahr mit der Vignette vorn haben wir erhalten und uns herzlich darüber gefreut. Sehr lieb ist es uns, daß Du jetzt ein beßeres Quartier hast. Es ist doch bedeutend geräumiger und sehr angenehm, in der Wohnstube nicht schlafen zu dürfen. Nun wirst Du Dich schon wieder im Zuge nach Deinen Kollegien befinden, und Deine Bekannten, die verreist waren, werden wohl wieder zurük sein. Wir haben hier die Feiertage auch hinter uns. Durch die Anwesenheit von Christian nebst deßen Kindern hatte sich hier ein recht vollständiges Familienleben gebildet. Am Sylvester waren wohl 20 Enkelkinder beim Großvater a und wir waren recht heiter zusammen. Bald aßen Christian’s bei uns, bald aßen wir beim Großvater, auch Julius und die Seinigen waren öfters da und auch mit Naumann’s waren wir mehrere Mahle zusammen. Nun geht es wieder den alten einförmigen Gang, ich sage einförmig, denn an den Zerstreuungen Berlins nehmen wir wenig oder gar keinen Theil und unsre Freunde sindb bei der Zerstreutheit ihrer Wohnungen schwer zusammen zu bringen, so daß ich sie seit Deiner Abreise wenig gesehen habe. In den letzten Wochen habe ich viel morgenländische Geschichte gelesen, besonders die der Juden. Diese sind doch ein eigenthümliches zähes Volk, sie haben zwar ihre Mission nicht ganz verstanden, denn der Messias, den sie erwarten ist seit beinahe 2000 Jahren erschienen. Aber noch vor seiner Erscheinung tauchte doch der Monotheismus immer wieder bei ihnen auf und in ihren Propheten, Psalmen und Liedern herrschen doch schon erhabene Vorstellungen von der Gottheit. Die Juden waren doch in frühern Zeiten noch sehr roh, wie etwa die germanischen Stämme. Ihre Kriege wurden mit großer Rohheit geführt, die Milde und Liebe sind erst in Christo hervorgetreten, und sie haben unsre Sitten erst gemildert, uns humanisirt. Der unsichtbare Einfluß des Christenthums auf unsre ganzen politischen und Kulturverhältniße wird viel zu wenig erkannt, denn er liegt dem gewöhnlichen Auge nicht so sichtbar da und vielen Rationalisten bleibt er verborgen. Sie stellen unsre jetzige Kultur neben die griechische und meinen, das Christenthum habe daran keinen direkten Antheil. Aber schon allein die ganze Anerkennung der menschlichen Würde auch im geringsten Menschen ist eine Frucht des Christenthums, welche die Griechen noch nicht kannten. Auch sehnt sich das Gemüth in seinen besten Stunden nach einer unmittelbaren göttlichen Offenbarung und es findet dieselbe in Christo. Durch ihn werden alle Zweifel gelöst und über die allerhöchsten Dinge haben wir durch ihn Gewißheit gewonnen. Durch den Einblik in jene Welt lernen wir unsern irdischen Beruf erst recht c erkennen und wir beruhigen unsd, wenn es um uns herum brennt und toll zugeht. Gott weis die Dinge immer wieder ins rechte Gleis zu lenken, und er wird sie zu dem Ziele führen, zu welchem sie auf dieser Erde gebracht werden sollen. Da thut es nun Noth, sich zu orientiren in welchem Stadio wir stehen, damit wir nicht von der Gegenwart zu viel verlangen. ||

Du bist mit deinen Studien in ein recht intereßantes Stadium getreten. Vor 50 Jahren waren diese Wißenschaftene noch sehr zurük, sie sind inzwischen sehr weit vorgeschritten und die Mittel zur Erforschung der Natur haben sich sehr vervollkommnet. Vor 8 Tagen traf ich den jungen Schlagintweit bei Weiss, er begleitete mich bis zum Brandenburger Thor und erzählte mir, wie er mit seinem Bruder 14 Tage lang an der Spitze des Mont Rosa campirt, um dort Beobachtungen, ins besondere über die Luft anzustellen. Zuerst hätten sie die Wolken tief unter sich (etwa 6000 Fuß über dem Meere) gehabt. So dann hätten sich dieselben allmählich gehoben und seien endlich zu ihnen gekommen. Die Luft sei dadurch verhältnismäßig nicht viel schwer geworden, etwa das 3-4 fache. Am Tage hätten sie (bei 12000 Fuß und mehr Höhe) sehr gefroren, da sie um ihre Beobachtungen und Bestimmungen zu machen, kein Feuer hätten anzünden dürfen. Erst am Abend und in der Nacht hätten sie sich erwärmt u. s. w. Da dachte ich recht an Dich, er hätte Dir recht erzählen können. Nun kommt Zeit, kommt Rath! Quäle Dich nur gar nicht zu sehr mit dem Gedanken praktischer Unbrauchbarkeit. Diese letztere ist sehr partieller Natur. Ich bin in vielen Dingen sehr unpraktisch, aber in gewißen Geschäften war ich sehr praktisch, viel praktischer als die meisten Akten Leute. Und so wird sich dieses auch bei Dir zeigen. Vertraue auf Gott, der wird alles zu seiner ordentlichen Entwikelung führen. Wie im Kleinen so im Großen. Der Finger Gottes in der Weltgeschichte ist ganz fühlbar und auff die wunderbarste überraschendste unverhoffteste Weise weis Gott die Dinge zum Ziele zu führen. Alles muß ihm dienen, die Thorheit, der Unverstand, die Leidenschaften und selbst die Schlechtigkeit. Was wird sich in den nächsten 50 Jahren in der jetzigen Geschichtsepoche aufklären. –

Carl und Mimi haben unsre Weihnachtskiste noch nicht erhalten, sie muß in Weimar liegen geblieben sein, was uns sehr unlieb ist. Das junge Ehepaar lebt übrigens ganz sich selbst und schreibt nicht oft. In der Buchhändlerrechnung vom vorigen Jahr kommt der 3te Theil vom Kosmos 2 mahl vor. Hast Du Dir ihn 2 Mahl geben laßen oder hast Du ihn erst gehabt, dann wieder zum Binden hingebracht, so daß dadurch der Irrthum entstanden ist? Gieb hierüber im nächsten Briefe Auskunft. Der Diener bei Reimer war seiner Sache nicht gewiß und Dietrich wollte den 2ten Ansatz sogleich abschreiben. –

Daß Dich der Faust von Göthe so anspricht, kann ich mir denken. Es ist das Ringen des menschlichen Geistes nach Klarheit und Gewißheit. Diese letztere gewährt aber in seinem höchsten Stadium nur der Glaube. Die Erkenntniß allein genügt uns nicht und ist auch in dem Maaße, wie wir sie suchen, nicht zu erfahren. Wenn wir uns aus dem Gewirr des Lebens nicht herauszufinden vermögen, dann versenken wir uns in die Religion. Statt sich in dieses Gebiet zu begeben, will Faust seinen Durst dadurch stillen, daß er sich vom Teufel in das Gebiet des Sinnengenußes führen läßt, wo ihm dann endlich im Bilde der Verführten und ihrer Leiden die Thüre aufgeschloßen wird, zu der er sich vorn weg hätte wenden sollen. Ein warnendes Beispiel für alle, die im dunkeln Drange ihres Innern den rechten Weg verfehlen und sich vom Teufel blenden laßen. Zuletzt, bei vielen erst auf dem Sterbebette, kommt die rechte Erkenntniß und die Reue. Der falsche Weg muß erst durchgemacht werden, ehe der rechte eingeschlagen wird. Aber was geht hiebei alles verloren! –

Nun mein lieber Ernst, Gott befohlen, schreibe uns bald wieder.

Dein Dich liebender Vater

Haeckel.

a gestr.: zusammen; b eingef.: sind; c gestr.: recht; d eingef.: uns; e gestr.: Studien; eingef.: Wißenschaften; f eingef.: auf

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
06.01.1853
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36063
ID
36063