Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 21. November 1868

Berlin 21 Novemb. | 1868.

Mein lieber Ernst!

Da morgen mein Geburtstag ist, so muß ich Dir heute wohl noch einige Worte schreiben. Ich bin am 22 Novemb. 1781 geboren und werde also morgen 87 Jahr alt. Inzwischen hast Du wieder eine Lebensgefährtin erhalten und hast Dein 1 jähriges Fest der 2ten Verehelichung mit Deiner lieben Agnes gefeiert, wozu ich Dir aufs herzlichste Glük wünsche. Ich lebe hier unter lauter Lektüre in der römischen Kaiserzeit, indem ich die römischen Kaiser a nach Augustus bis zum Aufhören des Kaiserreichs und bis zu seiner Fortsetzung in Constantinopel und zum Eintreten der Völkerwanderung studire. Die Grundlage zu dem Allen haben doch die germanischen Völker gegeben. Aus ihnen [ist] der neue Geist, der die Völker befruchten sollte, hervorgegangen und von hier aus hat er sich und wird er sich immer mehr über die Erde verbreiten. Europa ist das Kulturland der Erde geworden und wir haben diesen Fortschritt allerdings dem Christenthum in seinem reinsten Wesen, wie es sich in Apostel Paulus durchgebildet hat, zu danken. War es dann eine Zeitlang unter dem Katholicismus ausgeartet, so hat es sich durch die Reformation wieder gereinigt und dadurch fähig gemacht, die Kultur auf der Erde zu verbreiten und das Menschengeschlecht seinem geistigen und sittlichen Ziele entgegenzuführen. Deßen sollen wir froh sein. Wir feiern in diesen Tagen Schleiermachers Geburtstag, der auch dazu bestimmt war, eine solche Reinigung des Christenthums wieder durchzuführen und ein 2ter Reformator zu werden, welches ihm die bornirten Pietisten nicht zugestehn wollen. Aber sie werden von der öffentlichen Stimme übertönt und das Schleiermacher Fest, welches wir in diesen Tagen feiern, wird seinen Beruf, zur Reinigung des Christenthums beizutragen, gewiß erfüllen. Diese irdische Erscheinung erheitert mir || meinen irdischen Beruf, mich fortdauernd auf die Ewigkeit vorzubereiten und Carls Versetzung nach Potsdam wird hirzu wesentlich beitragen. Ich lebe dann im Familien Kreise fort, die Kinder werden immer größer, entwikeln sich immer eigenthümlicher und ich habe heute schon 5 Knaben im Hause, wovon jeder seinen eigenen Weg gehn wird und wir haben nur darauf zu sehen, daß jeder grade das Gleis einschlägt, wozu ihn die Natur geschaffen hat. So ist mir auf meinen letzten Tagen eine schöne Beschäftigung geworden. Du hast in diesen Tagen die Taufe gehabt und das Glük, Vater zu sein und ich kann nur wünschen, daß der Kleine gedeihe und Dir recht viele Freude machen möge. Grüße Agnes auf das Herzlichste

Dein treuer Vater Haekel

a gestr.: unter

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
21.11.1868
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36060
ID
36060