Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 14. Februar 1863

Berlin 14 Febr. 63.

Mein lieber, lieber Ernst!

Diese Zeilen sollst Du zu Deinem Geburtstag erhalten. Mutter und ich beten inbrünstig für Dein Wohlergehen in allen Hinsichten, insbesondere auch für Dein häusliches Glük. Wohl wißen wir Alten, daß die Stürme, welche das Leben trüben, nicht ausbleiben. Es gehörena aber auch Perioden des Glüks zu diesem Leben, damit die Lust, unsere Entwikelung für dieses irdische Leben fortzuführen, nicht verloren gehe. Wir Alten sehen dieses Leben ganz anders an, als Ihr Jungen und das ist ganz in der Ordnung. Aber der Rat der Alten muß den Jungen nicht vorenthalten werden, damit sie den nicht durchaus nothwendigen Krisen ausweichen, oder sie beßer bestehen. So stehst Du auch mit Deinen Jünglingsansichten den meinigen des Alters häufig genug gegen über. Ich bin ja selbst jung undb ungemein erregt gewesen und es befremdet mich gar nicht, wenn wir diec Dinge manchmal ganz verschiedenartig ansehen. Ich stehe an der Schwelle der Ewigkeit und recapitulire nun häufig die gewonnenen Resultate meiner Weltanschauung. Man muß für diese Welt wirken und handeln, dazu hat uns Gott auf diese Welt gesetzt. Das leitende Princip für dieses Leben müßen aber immer die Gesetze der höhern Sittlichkeit bleiben, welche das Christenthum sanktionirt hat. Erst wenn man die Geschichte durchblättert hatd, erkennt man, wie das Christenthum diese höhern Forderungen des göttlichen Geistes in uns in der tiefsten Wurzel ergriffen, für uns zum Bewußtsein gebracht und sie als masgebende Gesetze vor uns hingestellt hat. Eine so hohe sittliche, die Menschheit immer weiter fördernde Kultur in den Maßene hat es vor dem Christenthum nicht gegeben. Darum komme ich in allen meinen historischen Studien immer wieder auf daßelbe zurük. Das Christenthum besteht nicht in Dogmen, welche uns gewöhnlich dafür aufgetischt werden. Es ist etwas im innersten Menschen vorhandenes, welches uns nicht bloß für dieses Leben entwikelt und das Recht der Sittlichkeit herrschend macht, es bereitet uns durch den ihm innewohnenden Glauben auch für jene Welt vor. Das erkennt man erst recht, wenn man dieses Leben zurükgelegt hat, und an den Thüren der Ewigkeit steht. Gott ist mir so gnädig gewesen, mir mein sittliches Bewußtsein zu erhalten, es ist nicht mein Verdienst und wenn ich dort vor Gott treten werde, um Rechenschaft abzulegen von meinem hiesigen Thun und Laßen, so hoffe ich einen milden Richter an ihm zu finden. f

So schreite nun auch Du in der Welt immer fort und höre auf die Stimme in dem Innersten Deines Herzensg. Gott hat Dir zeitig eine geliebte Lebensgefährtin zugewendet, welches vor vielen Verirrungen bewahrt und du bist darin glüklich vor vielen Andern, so wie auch Dein Bruder Carl. Ich konnte mich immer dadurch vor dem Versinken in das Erbärmliche, Nichtige und Gemeine bewahren, daß ich eine fromme, mir das Sittliche täglich vorhaltende Jugenderziehung genoßen und beinah bis an mein männliches Alter hin h mich auch den erhebenden Wißenschaften gewidmet hatte, so daß als die Stürme des Lebens auf mich eindrangen, ich mich auf diesem wogenden Meere an das durchgebildete sittlich religiöse Gefühl wie an einem Balken festhielt, der mich vor dem sittlichen Untergange bewahrtei. Ich habe gestrauchelt und gefehlt, aber ich habe jenen Rettungsanker nicht losgelaßen, der mich immer wieder in die Höhe brachte. j Dann hat mir später Gott erst eine meine Emilie zugeführt, deren Verlust mich erst recht wieder in das Innre zurükführte und dann hat mir Gott Deine prächtige Mutter gegeben, die wie ein personificirtes innres Lebensgesetz und Wegweiserk mich von dem richtigen Wege nicht abweichen ließ. So viel ist mir durch die göttliche Gnade geworden, und ich erkenne dieses in tiefster Dankbarkeit gegen Gott und führe Dir hier dieses Alles zu Deinem Geburtstage vor, damit auchl Du um so leichter auf diesem Wege bleiben mögest. ||

Wenn ich Dir nur beschreiben könnte, wie erbärmlich mir das Getreibe der meisten Menschen vorkommt, wenn ich so sehe, wie sie nach Besitz, Reichtum, Ehre, Gewalt und Macht jagen oder wie sie in gemeinem sinnlichen Genuß untergehen. Ich erachte es daher für einen großen Gewinn, daß die europäische Völkerentwikelung in das Stadium getreten ist, wo die Völker sich ihrer bewußt werden und nach ihren Rechten fragen, wo sie ein wirkliches Vaterland haben wollen. Da ist doch auch in weltlichen Dingen ein höheres Streben da, wo man ihnen beipflichten muß. Zwar kündigt sich dieses Streben mit großer unbändiger, unbesonnener Leidenschaft an. Sie idealisieren und schwärmen und nicht selten wird das Vaterland zum bloßen Aushängeschild gebraucht, um dem Egoismus zu fröhnen. Die Weltgeschichte schreitet zwar unaufhaltsam vorwärts aber in vielen Schlangenwindungen und es läßt sich nicht alles, was die Idee aufstellt, im Leben verwirklichen, so z. B. die Nationalität auf ihremm früheren Terrain wo bereits andere Kräfte Posten gefaßt haben, auch die Vermischung mancher Nationalitäten auf manchem Territorium gehört auch zur Weltgeschichte (dem Elsaß und Lothringen an Frankreich), Deutsch Polen im Herzogthum Posen und Westpreußen, wo die Deutschen schon seit dem 13ten 14ten Jahrhundert Besitz wahren, die Gegenden von Culm und die Eroberungen des Deutschen Ordens in Preußen. –

Gestern feierten wirn des alten Kühne‘s Geburtstag in seinem Hause, etwa 15 Personen. Da fand ich mir vis-a-vis an 6 Herren vom alten Beamtenstamm. Die meisten dieser Herrn haben aus allen Kräften unter dem Absolutismus für das Vaterland gelebt, und ich finde es sehr natürlich, wenn die Anhänglichkeit an das alte Fürstengeschlecht bei ihnen vorherrscht und wenn sie nicht machen, was die Fortschrittsparthei will oder vielmehr mit den Wegen, welche sie einschlägt, nicht einverstanden sind. Es sind doch ehrenwerte Männer, die für den preußischen Staat, ihr Vaterland, o jahrelang gelebt haben, nur in andrer Weise, als es die neueste Gegenwart will. Aber freilich diese Zeit, in welcher sie einen großen Theil ihres Lebens verbracht haben, ist vorüber. Jetzt macht das Volk seine Rechte gegen den Absolutismus geltend und davon wird es nicht abgehen. Du erhältst anbei die Reden der Adreß Debatten, die jetzt besonders gedrukt und beinah verschlungen werden. Die von Twesten, Sybel und Gneist haben mir am meisten gefallen, und werden sehr wirken.

Eine baldige Beendigung des Kampfes haben wir nicht zu erwarten, auch muß dieser Kampf die Kräfte erst recht entwikeln und man muß nur dahin wird zu wirken suchen, daß er von Seiten des Volks die gesetzlichen Schranken nicht überschreite, sonst werden wir auf viele Jahr zurükgeworfen; wenn wir aber zäh und fest an unserm Recht festhalten, so wird der Zeitpunkt nicht ausbleiben, wo es zur Geltung kommen muß. – Vorgestern war große Geselligkeit bei Quinke. Mutter und Clara sind dagewesen. Sie kamen befriedigt zurük, Clara hat alle Tänze mitgemacht.

Ich führe mein altes einförmiges Leben einen Tag wie den andern fort, ich schlafe schwer ein, stehe erst gegen 8 Uhr auf, lese bis gegen Mittag und gehe vor Tisch 1 Stunde spatzieren; gegen Abend zwischen 6 und 8 Uhr noch einmal auf guten Straßen, unter Laternenschein, in der Regel durch die Viktoriastraße und die Linden bis zum Zeughause, sodann über den Werderschen Markt, den Gens d‘arms Markt und Wilhelmsplatz durch die Leipziger Straße zurük. So durch ein ganz reguläres Leben erhalte ich mir meine Lebenskräfte. Carl scheint in Landsberg zufrieden zu sein. Den 8 Maerz soll die Taufe in Freyenwalde sein, von woher wir bis jetzt gute Nachricht haben.

A Dieu meine Lieben, meine Anna. Ein ander Mahl mehr.

Euer Alter

Hkl

Nachdem wir hier seit beinah 3 Wochen des widerlichste Wetter gehabt haben, nehmlich täglich Regen, Südwestwind und das unbeständigste Wetter, ist seit gestern der Wind in den Norden gegangen und wir haben nun Frost und heitern Himmel.

a korr. aus: gehörten; b eingef.: und; c eingef.: die; d eingef.: hat; e eingef.: in den Maßen; f gestr.: Wenn ich das Bewußtsein des Göttlichen in mir erhalten habe, so; g gestr.: Innern; eingef.: Herzens; h gestr.: die; i gestr.: abhielt; eingef.: bewahrte; j gestr.: darum ist es; k eingef.: und Wegweiser; l eingef.: auch; m korr. aus: früherem; n eingef.: wir; o gestr.: gele;

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
14.02.1863
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36053
ID
36053