Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 2. Juli 1862

2 Juli

Lieber Ernst!

Wir sind gestern zu Mutters Geburtstag recht vergnügt unter einander gewesen, die Freyenwalder waren nicht hier, denn da Carl über 8 Tage zur Reise herkommt, so wird er diese letzten Tage noch brauchen, um alles zur Reise zu arrangiren. Richter fand sich noch nach 5 Uhr zum Kaffee ein, er hatte am Vormittage noch einen harten Kampf in der Kammer wegen des Delitzscher Gesangbuchs gehabt, wie Du in der Zeitung gesehen haben wirst und hatte die Sache dann als Referent siegreich durchgefochten. Gegen Vinke hätte er wohl artiger sein können. Vinke aber, wenn ich Richter recht verstanden, hattea ihn durch sein Benehmen dazu veranlaßt. Vinke macht gern den regirenden Herrn in der Kammer. Die Sache war nicht zweifellos und Finke hatte schon in frühern Jahren esb durchgesetzt, daß die Beschwerden gegen den Kirchen Rath als nicht vor die Kammer gehörig zurükgewiesen wurden. Gestern ist nun ein andres Princip durchgefochten worden. Wenn der Kirchen Rath sich in Dinge mischt, die erc streng genommen nicht zu entscheiden hat, so muß ihn der Kultusminister in seine Grenzen zurükweisen.

Uebrigens sieht es in der Kammer so schlimm nicht aus, es giebt auch in der Fortschrittsparthei viele vernünftige Leute. Den Haupt Crawall wird das Militär Budget veranlaßen und da der König sich immer mehr von den Junkern umgarnen läßt, so darf er von Seiten der Kammer auf keine Schonung rechnen. Die Hauptsache ist, daß unser Volk sich immer mehr politisch ausbildet, dann können alle Versuche ihm seine Rechte zu beschränken nichts ausrichten.

Ich denke nun schon an meine Reise und bereite das Nöthige vor. Carl bringt mich bis Bonn und geht von da nach Ems. In Bonn hoffe ich ganz angenehm mit den Verwandten zusammen zu leben und manche kleine Abstecher zu machen. Ich finde auch Theodor dort. Mutter geht inzwischen nach Freyenwalde. Wenn das Wetter zum August und September || gut wird, so mag es jetzt immerhin regnen. Es ist freilich kein Sommerwetter und man glaubt manchmal, im Spätherbst zu leben. – Daß Dir die kantische Philosophie so behagt, freut mich ungemein. Ich lebe hier so meditando fort. Man muß doch, wenn man so alt geworden, sehr vorsichtig leben und kann nicht mehr viel unternehmen. Gott gebe nur seinen Segen zu Deiner Verbindung, an Prüfungen wird es Euch nicht fehlen, das gehört zur Lebensausbildung. Die Gemüther werden dadurch nur immer mehr vereinigt und aneinander geknüpft. So wird das Verhältniß immer inniger. So ist es mir mit Mutter gegangen. Zum Herbst sind wir nun 40 Jahr verheirathet, da hat es auch an rauhen Winden nicht gefehlt. Die letzten 10 Jahr hat mir nun Gott schöne Muße geschenkt, um das Leben contemplativ zu betrachten und mich über den Zwek des ganzen irdischen Daseins näher zu orientiren. Aber man stößt auf lauter Räthsel und eben dieses giebt mir die Gewißheit eines höhren vollkommnern Lebens, wozu das jetzige nur Vorbereitung ist. A Dieu mein lieber Ernst.

Vergiß ja nicht Deinen Taufschein bald zu schiken.

a eingef.: hatte; b gestr.: die; eingef.: es; c gestr.: ihn; eingef.: er

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
02.07.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36049
ID
36049