Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 28. Juni 1862

Berlin 28 Juni 62.

Mein lieber Ernst!

Ich danke Dir herzlich für Deinen Brief, durch welchen Du mir große Freude gemacht hast, indem ich daraus sehe, welchen Genuß Dir Kuno Fischers Vorlesungen über die Kantische Philosophie gewährn. Ich habe die Kantische Philosophie in meiner Jugend mit dem größten Nutzen für mein sittliches Leben studirt und Dir soll sie den Gegensatz des menschlichen Geistes gegen die Natur und doch auch den Zusammenhang beider a klarer machen. Daß der Mensch erst die Natur mache, sie gleichsam schaffe, hat mir nie in den Kopf gewollt, er gehört zu ihr, sein Bewußtsein greift aber über alle Erscheinungen hinaus und führt uns in den ewigen Theil der Welt hinein, in alle Verwandlungen derselben, denen aber vieles ewig Bestehendes zum Grunde liegt. Studire nur waker fort.

Ich hatte mit Carl allerlei Reisepläne, wir wollten über Jena und Coburg nach dem Rhein reisen. Genauer besehn ist aber die Zeit zu kurz. Carl muß 4 Wochen Emser trinken und ich will etwa den 10 August wieder vom Rhein zurük sein, um Dich noch 8 bis 10 Tage hier zu haben und Dich und Anna noch einige wenige Tage als junges Ehepaar incognito hier zu genießen. Ich gedenke also den 10 Juli von hier mit Carl nach Bonn zu reisen, von wo Carl in 3 Stunden nach Ems fahrenb kann; und von Bonn aus kann ich Carl in Ems besuchen. An eine weitläuftige Rheinreise ist also nicht zu denken.

Wir haben hier auch sehr viel gefroren. Seit einigen Tagen ist es etwas wärmer und seit gestern, wo ein Gewitter eintrat, hatten wir viel Regen.

Gestern gegen Abend war ich bei der Geh. Räthin Weiss. Sie erzählte mir unter anderm, daß Dein Freund Weiss in Saarbrück sehr betrübt ist, daß Du ihm auf 3 Briefe die er Dir geschrieben, gar nicht geantwortet hast, Du scheinst ihn ganz vergeßen zu haben, während er doch sehr an Dir hängt. Schreibe ihm also recht bald und vergiß dieses ja nicht. Ich sagte der Weiss: Ich könnte mir diese Vernachläßigung Deines Freundes nur dadurch erklären, daß Du außer deinem Colleg jetzt sehr stark mit der kantischen Philosophie beschäftigt wärst, worüber du alles vergäßest. Tröste also Deinen alten Freund, der ja in Saarbrük, nach dem, was mir die Weiss sagt, ganz aufgewekt worden und ein ganz andrer durch seinen dort selbstständigen Beruf geworden sein soll.

Sonst beschäftige ich [mich] viel mit Politik und die Einwirkung des Christenthums auf die Umgestaltung der Welt. – Ich sehe in der Politik nicht so schwarz. Die Kämpfe müßen sein, damit die Freiheit im Volke feste Wurzel faße. Unser Volk ist jetzt so weit vorgeschritten, daß an ein absolutes Regiment nicht mehr zu denken ist und alle die erbärmlichen Manifestationen dagegen führen die Freiheit nur weiter, das hält freilich die Sache nur auf. Man lese aberc nur die englische Parlamentsgeschichte der letzten 100 Jahre v. Mai, da bekommt man Geduld. ||

Mutter läßt Dich herzlich grüßen, sie wird Dir das Tuch zum Brautrok kaufen und zuschiken und Du kannst ihn Dir dort machen laßen.

Dienstag Mittag haben wir die Geschwister bei uns und auch die Weiss wird bei uns sein.

Dein Dich liebender Alter

Hkl

Zu Georg Reimer habe ich Deinen Brief abgetragen. Er äußerte: er habe die nöthigen Anordnungen, daß Du die Correkturbogen noch vor Deiner Hochzeitreise vollständig erhieltest und der Druk zu Michaelis fertig wäre.

Theodor Bleek reist heute schon nach Bonn. Sein Bruder Wilhelm in der Capstadt ist Bräutigam und heirathet die Tochter eines englischen Geistlichen aus der englischen Cap Colonie in Natal. Sie ist jetzt in Bonn zum Besuch und ich hoffe sie noch dort zu finden. Sie soll sehr liebenswürdig sein.

Gestern traf ich Virchow in der Hohenzollernstraße, wo er eben mit seiner netten Tochter nach der Stadt, (er in die Kammer) fahren wollte. d Sie freute sich sehr daß Du Profeßor geworden seist und ich sagte e ihr, daß die Hochzeit gegen Mitte August hier in Berlin sein würde.

a gestr.: zusammen; b gestr.: gehen; eingef.: fahren; c eingef.: aber; d gestr.: Ich; e gestr.: sog

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
28.06.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36047
ID
36047