Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 14. Februar 1862

Berlin 14 Febr. 62.

Mein lieber Ernst!

Du schreibst, daß Du Dich so nach Briefen von uns sehnst. Ich kann Dich nur versichern, daß wir tagtäglich vielfältig an Dich denken in der liebevollsten Weise. Etwas besondres mitzutheilen haben wir aber nicht eine Veranlaßung. Das Leben geht so seinen einfachen Gang fort, und so läuft ein Tag nach dem andern dahin. Heute haben wir einen sehr angenehmen Wintertag und ich bin vor einer Stunde vona meiner Morgenpromenade aus dem Thiergarten zurük. Gestern feierte der alte Kühne seinen Geburtstag, er vollendete sein 76stes Jahr. Da waren etwa ein Dutzend seiner nähern Bekannten da und mir fiel als Ältestemb, von mehreren Seiten aufgefordert, das Geschäft anheim, den Toast auszubringen; wozu mir unser schon so fortgeschrittnes Alter nähere Veranlaßungc gab, indem ich daran anknüpfte, daß wir, obwohld noch frisch und nüchtern, doch bei unserm Alter auf unseren Promenaden nur den langsameren Gang gehen könnten und e mit der jungen Fortschrittsparthei nicht gleichen Schritt halten könnten, dabei aber doch noch mit sichrem Tritt ein gut Stük vorwärts kämen und sie an dief zu überwindenden Hinderniße g und daß sie in h ihrem i raschen Gange nicht straucheln möchten, erinnern könnten und ihnen zugleich bemerklich machten, daß sie auf ihrem gegenwärtigen Standpunkt, auf welchen sie gelangt wären, nicht vergeßen möchten, daß wir Alten sie erst dahin gebracht und diesen erst erobert und sie dadurch in die Möglichkeit versetzt hätten, weiter zu schreiten. Der Toast wurde mit großem Beifall aufgenommen und der Staatssekretär Müller im Justizministerio erinnerte sich noch, daß er Dich bei Kühne gesehen und sich Deiner frischen Jugend erfreut hätte. Du wirst nun übermorgen 28 Jahr alt, ein sehr schönes Alter, der Mensch hat in diesem schon einige Erfahrungen gemacht und ist dabei in der vollsten jugendlichen Kraft, voll Hoffnung und goldner Aussichten und wenn Dir Gott Leben und Alter schenkt, so wirst Du offenbar viel Merkwürdiges erleben, denn die Welt stekt jetzt in einer politischen Krise, in der sie nicht bleiben kann und aus der sie hinaus muß. Ohne Krieg kommen wir nicht weiter und erst, wenn Deutschland in Noth ist und Preußen seinen Beruf nicht verkennt, wird Deutschland und Preußen erst diejenige Stellung gewinnen, die j ihnen noth thut. Vom Schlachtfeld aus muß die erste Verfaßung Deutschlands diktirt werden, bis dahin ist alles unnützes Gerede und vorläufig kann Preußen nichts anderes thun als Aufrechthaltung des Gesetzes und der constitutionellen Freiheit in Deutschland aus allen Kräften, zunächst in Hessen geltend machen, selbst nöthigenfalls mit Androhung der Waffengewalt. Diese niederträchtige, lügenhafte, und auf Gewalt und Despotismus ausgehende Politik Oesterreichs, die ich aufs innigste haße, kenne ich nun schon seit 50 Jahren und habe sie auf alle Weise zu verfolgen Gelegenheit gehabt, wie es uns im Kriege 1814 in Frankreich im Stich gelaßen, uns auf dem Wiener Congreß 1814/15 betrogen, schon damals auf alle Weise dahin ausging, uns zu schwächen und zu lähmen und in Verlegenheiten zu bringen, sich selbst aber auf alle Weise zu vergrößern, wie es nach dem Krieg unter Metternich auf alle Weise dahin gehetzt, Fried. Wilh. III irre zu führen und die Verleihung einer constituellen Verfaßung zu hintertreiben, bei sich selbst aber den Despotismus durch Verdummung des Volks aufrecht zu erhalten, jetzt hetzt es wieder bei allen deutschen Fürsten herum und mit einer constitutionellen Verfaßung in seinem Lande ist es gar kein Ernst, weshalb die Ungarn mit allem Recht sich sträuben, auf eine Gesamt Verfaßung einzugehen, weil die Regierung diese nie halten wird, sie betrügt, wie die Fremden so ihr eigenes Volk. Ich haße diese Regierung, nicht sein Volk, aus allen Kräften, man sehe nur seine Politik der letzten Jahrhunderte, es ist nichts alsk eine Reihenfolge von Lüge und Verrath. –

Sonst ich wüßte ich Dir nichts besonders zu melden, was Du nicht auch aus den Zeitungen ersehen könntest, ich lese jetzt die Berliner Allgemeine von Julian Schmidt. Die Nationalzeitung ist zwar mit Verstand geschrieben, ist mir aber zu einseitig. Sie gehört zu den Drängern und daß es solche giebt, ist ganz gut, sie dürften nicht fehlen. Wenn es aber zum Handeln kommt, da gilt es mehr Besonnenheit, von der Volkszeitung die immer ins Galop hineinfordert, was für den Augenblik gar nicht zu erreichen ist, will ich gar nicht reden.

Du bist ja in Deinem gestrigen Briefe an Anna sehr klein laut, so geht es der Jugend, da hat sie immer den Himmel voller Geigen, undl wenn alle ihre überspannten Hoffnungen nicht sogleich erfüllt werden, dann läßt sie den Kopf hängen. Zuförderst sind Mutter und ich damit einverstanden, daß Du Dir das Quartier in Deinem jetzigen Hause nicht nimmst. Es hat mir schon im Kopf gelegen, daß ihr, wenn ihr heirathet, || in diesem Quartier die größten Unbequemlichkeiten und Beschwerden haben würdet. Zu Ostern wird wohl überdies aus Eurer Heirath noch nichts werden, sondern bestenfalls erst im Sommer und da werdet ihr wohl immer noch eins finden. Du bist auch so ein Fortschrittsmann, der alle Schwierigkeiten übersieht und nur immer vorwärts will und dann stutzt, wenn er an die Gräben kommt, über die er wegsetzen soll, das geht im Leben nicht so wie beim Turnen, wo manche Luftsätze gelingen. Wenn der Herzog von Coburg-Gotha nicht Vollmacht zurükläßt, so wird Deine Anstellung nicht vor dem Juni erfolgen können. – Kürzlich waren wir Mittags bei Elise Naumann in einer recht hübschen Gesellschaft, wo es geistig sehr lebendig herging. Ernst Naumann ist ein guter Officier, hat aber schon den Corpsgeist in sich aufgenommen. Ihm opponirte nun Dein künftiger Schwager Heinrich und der neue Cabinetsrath beim Coburger, Tempeltey, der mir sehr wohl gefallen hat, ein anständiger, gebildeter junger Mann, in welchem eben das rasche Streben der Jugend sich ausspricht. Ich finde dieses jugendliche Streben ganz in der Ordnung und es treibt die Welt vorwärts, es muß nurm die nüchterne Besonnenheit der Alten zum Gegengewicht haben, welche der Jugend die Schwierigkeiten und Hinderniße zeigt, die zu überwinden sind, damit auch die rechten Mittel ergriffen werden, um zum Ziel zu kommen und man, indem man über die Gräben setzen will, nicht den Hals bricht.

Wir leben hier in der Familie und einigen nähern Freunden recht gesellig, Mutter ist ziemlich munter und geht auch fast täglich etwas aus. Auch mit einigen Kammer Deputirten habe ich Bekanntschaft, Professor Rössel aus Breslau, der in frühern Jahren in Halle und mit Wiek sehr bekannt war. Auch Zur Megede nebst Frau sind hier. Minchen scheint doch der Umzug nach Frankfurt, je näher er rükt, doch sehr schwer zu werden. Aber es war ihr sehr schwer zu rathen; denn, wenn sie hier etwas Wesentliches vermißt, wie sie meint, die für ihr fortschreitendes Alter nöthige Ruhe, so kann man sie doch nicht nöthigen hier zu bleiben. Mutter hat ihr noch gestern erklärt, daß wir sie gern hier behalten hätten, und es ist sehr die Frage: ob ihr Frankfurt vollständig genügen wird? Bei meinem hohen Alter kann ich wohl auf ein künftiges Zusammenleben mit ihr nicht rechnen.

Nun mein lieber Ernst! Gott schenke Dir zu deinem neuen Jahre Gesundheit und daß Dir die Möglichkeit gegeben wird, Deine Anna zu Dir zu holen. Behalte Gott vor Augen und im Herzen, das ist durchaus wichtig bei dem rüstigen Streben für diese Welt, sonst geht man darin unter. Es wird aber manchmal recht schwer, die Ewigkeit vor Augen zu behalten, besonders in jungen Jahren, wo man für diese Welt und in derselben noch viel erreichen will. Ich bin nun auf dem Punkt angekommen, wo ich nur noch Zuschauer für diese Welt bin und danke Gott, daß ich n noch mit so heiler Haut durchgekommen bin. Nimm also Deines alten Vaters Lehre an und ergieb Dich nicht unbedingt den Dingen dieser Welt. Deine Wißenschaft führt Dich allerdings immer tiefer in die Erforschung dieser Erde hinein. Je tiefer Du kommst, desto mehr wirst Du die göttliche Weisheit erkennen lernen und daß sie es ist, die trotz aller Freiheit, die sie den Menschen läßt, die dieo Welt regiert. Denn die Menschen sind zu sehr in irdischen Leidenschaften befangen und würden es durch ihr Getreibe nicht viel weiter bringen, wenn Gott nicht eben auch die Kämpfe ihrer Leidenschaften dazu brauchte, um die Welt weiter zu führen. Ich lese jetzt mit Mutter die „neuen Bilder aus dem Leben des deutschen Volks“ von Freytag. Wie viel sind wir besonders in diesem Jahrhundert weiter gekommen, wie vieles ist beßer geworden; wie hat die Achtung vor dem Menschen auch in der geringsten Erscheinung und seine Bildung zugenommen und so wird es immer so Vorwärts gehen. Gestern erzählte uns d. Geh. Rath Delbrük (im Handelsministerio): der Geheime Rath Pinder im Cultusministerium sei vorigen Sommer durch Sicilien gereist und habe auf der Post p einen katholischen Geistlichen angetroffen. Dieser habe ihm unterweges gesagt: Gott habe 2 große Genien in die Welt gesandt, um sie zu erlösen: „Christum und Garibaldi“. Was setzt dasq für eine sittliche Versunkenheit der neapolitischen bourbonischen Regierung voraus, um einen solchen Anspruch bei einem Geistlichen möglich zu machen. Und solche Regierungen will Oesterreich aufrechterhalten? Pfui!!

Carl mit den Seinigen klagt diesen Winter sehr über sein kaltes Quartier. Ich habe ihm geschrieben, er soll sich ein beßeres miethen. Nun A Dieu mein lieber Ernst, mache nicht zu tolle Dinge beim Turnen und komme Ende Maerz gesund zu uns. Dein Alter

Hkl

Hartmann sprach ich vorigen Sonnabend in der Geographischen. Er war sehr aufgebracht über Kiesers Benehmen gegen Bahrdt, der 400 rl aus eigener Tasche zugelegt hat, um Henglingers Reise nach Wadai zu bewerkstelligen; der diese Reise zu seinen Privatzweken verwendet.

a gestr.: aus; eingef.: von; b eingef.: als Ältestem; c irrtüml.: Veranluß; d eingef.: wohl; e gestr.: es; f irrtüml. doppelt: an die; g gestr.: erinn; h gestr.: rasch; i gestr.: Ga; j gestr.: uns; k eingef.: als; l eingef.: und; m eingef.: nur; n gestr.: mit; o eingef.: die; o gestr.: den; q eingef.: das

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
14.02.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36045
ID
36045