Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, [Berlin], 24. November 1861

24 Novemb 61.

Lieber Ernst!

Ich danke Dir für Deinen Brief zu meinem Geburtstage, mit dem Du mir eine große Freude gemacht hast. Es wird über das, was Du schreibsta, eine strenge Verschwiegenheit Deinem Wunsch gemäß beobachtet. Karl kam am Donnerstag (den 21sten) und wir giengen in das Schleiermacherfest. Carl blieb zum Eßen da, ich nach Hause. Die politischen Angelegenheiten verschlingen alle Gespräche in den Gesellschaften. Es ist ein großes politisches Leben bei den Wahlen. Die Fortschrittsparthei unterscheidet sich von der liberalen nur durch stärkeres Auftreten, sonst wollen sie daßelbe. Die epinöseste Frage wird die Militärfrage sein, denn auch die Liberalen wollen keine Ueberbürdung des Landes durch das Militärbudget. – Am Freitag (22ster) aß Kühne, Quinke und Julius bei mir zu Mittag von 3-6 Uhr. Anna half der Mutter in der Wirthschaft. Gegen halb 8 Uhr kam die Familie Tante, Neffen und Niecen, Mutter Jacobi und die Weiß. Es waren etwa 20 Personen, in der großen Stube wurde gegeßen, schon ziemlich zeitig gegen 9 Uhr. Wir blieben bis halb 11 Uhr zusammen. Es gieng ganz munter zu. Für mich war dieser Tag eine Strapaze, ich sollte 2 Mahl eßen und konnte Abends, da es regnete (von – 7 ½ Uhr) nicht spatzieren gehen. Doch ist mir der Tag wohl bekommen. Wenn man so alt geworden, kommt sehr viel auf ein ganzb reguläres Leben an, was ich denn auch einzuhalten pflege. Kühne hat einen starken Husten, der ihn sehr angegriffen, weshalb er auch sehr still war. Ich selbst habe an diesem Tage die ernsthaftesten Betrachtungen über mein Leben gehabt. Gott hat mich sehr begünstigt und mich sehr gnädig geführt. Ich habe mancherlei schwere Prüfungen gehabt, die schwerste der Verlust von Emilie. Sie haben der Entwikelung meines Innern gedient und mich auf das Ewige im Menschen hingewiesen, was er mit fortnimmt in jene Welt. Bei meiner großen Lebendigkeit habe ich gegen starke Leidenschaften zu kämpfen gehabt, die meinen Willen übten und dieser Wille wurde wieder durch das religiöse Gefühl gestärkt und gehoben. Sonst hätte ich in den Leidenschaften untergehen können. Daß dieses nicht geschehen, ist göttliche Gnade. Denn das starke religiöse Gefühl was uns hebt und trägt, ist nicht unser Werk, sondern ein göttliches Geschenk. Wir können aber dieses Gefühl, den Träger aller Sittlichkeit, da sich in ihm die göttlichen Gebote offenbaren, sehr wohl erwärmen, bewahren und beleben durch ein innres sinniges Leben, durch das Lesen göttlicher Schriften, durch den Besuch der Kirchen etc. Christus war der vollendteste Durchbruch des göttlichen Lebens hier auf Erden, unser Ewiges in der menschlichen Natur hat sich in ihm am tiefsten und vollendetsten offenbart. Der Glauben an ihn ist der Glaube an das tiefste Göttliche im Menschen. Wenn wir zweifelhaft werden in dieser Welt an unsrer Bestimmung und an das, was wir zu thun haben, dürfen wir uns an ihn wenden. In ihm spricht sich das Ewige im Menschen mit der größten Gewißheit aus. Das Christenthum ist keine Lehre und Dogmatik, sondern das in unserm Innern zum vollsten Bewußtsein Kommen des Göttlichen. Da hört dann aller Zweifel auf und wir durchschiffen kühn und fest die Stürme dieses Lebens, wenn wir diesem Bewußtsein folgen. Das habe ich in mir durchgemacht glaube den Versicherungen Deines 80 jährigen Vaters. c Im Bewußtsein des Christenthums sehe ich ruhig dem Tode und der Ewigkeit entgegen. Vielleicht lebe ich noch || ein paar Jahre und sehe noch die fernere Entwikelung des Geschiks meiner lieben Kinder. Ihr meine Kinder und meine Lotte sind mir die höchsten Güter auf Erden. Ich hoffe Euch auch in jener Welt wieder zu sehen.

Ich bin in den letzten 8 Tagen in den Urwähler Versammlungen gewesen und habe da dem Getreibe zugesehen. Die Menge will durch vernünftige Leute geleitet sein, sonst geht sie leicht irre, sie ist durch schöne Phrasen leicht zu verführen, bis sie im Koth liegt. Aber man muß sich doch orientiren, worauf sie hinaus will. Dazu sind die Urwähler Versammlungen nicht, die fernere Leitung muß Sache der Verständigern und Besonnenen sein; hätte die Menge allein zu wählen, dann würden die ihre Führer werden, die ihr schmeicheln. Das 3 Claßensystem, so mangelhaft in mancher Hinsicht ist, hat doch sein Gutes und bringt uns besonnenere Wahlmänner und Deputirte. Schon Solon und Servius Tullius (die großen Gesetzgeber des Alterthums) hielten auf den Census und gaben ihm ein großes Gewicht.

Oben ist man sehr ängstlich über die Wahlen, die Umgebungen der Fürsten werden nicht unterlaßen, alles recht schwarz zu mahlen. Ich glaube aber doch, daß die Demokratie in den letzten 13 Jahren Etwas gelernt hat, das Ministerium hat doch durch seine Redlichkeit und Ehrlichkeit auch viel Vertrauen gewonnen, man wünscht nur, daß es fester auftrete und d etwas raschere vorwärts gehe. – Tante Weiss ist zur Hochzeit in Zeitz gewesen und über die Verheirathung ihres Neffen sehr glüklich. – Von Hirschberg habe ich auch Glükwünsche. Schwager Lampert hat mit mir Einen Geburtstag. Er hat ihn auch gefeiert. Auch in Hirschberg sind die Einleitungen zu den Wahlen recht gut getroffen worden. Völlig politisch unfähig ist Adolph, er hat sich auch bei den Wahlen nicht betheiligt, das ist das Beste, was er thun kann, sonst hätte er doch dummes Zeug gemacht. Er lebt sehr zurükgezogen mit seiner Ottilie. – Unser Carl aber lebt ganz in der Politik, er war gestern in der Wahl Versammlung des Nieder-Barnimschen Kreises, am Sonnabend wird wieder eine in Freyenwalde sein. Auch war in diesen Tagen davon die Rede, ihn als Dirigent in einer kleinen Stadt zu einer Deputation zu versetzen. Er hatte da aber keinen Unterricht für die Kinder und wird es noch ruhig abwarten, bis sich eine beßre Gelegenheit findet. – Tante Gertrud ist vorgestern Abend beim Nachhause gehen von mir umgefallen, sie hat sich aber bald wieder erholt. Sie klagt darüber, daß ihr zuweilen der Athem plötzlich ausgeht. Mit Heinrich in Potsdam geht es erträglich, er wird sich sehr halten müßen. – Die nächsten 14 Tage werden von den Wahlangelegenheiten sehr in Anspruch genommen werden. Dann kommt Weihnachten heran, dazu sehen wir Dich. Wenn Du aber so spät in die Nacht arbeitest, so höre ja auf, wenn die Kräfte nicht mehr fortwollen. Sonst quälst Du Dich unnützer Weise und schadest Deiner Gesundheit.

Dein Dich innigst liebender Alter

Hkl

aeH

a gestr.: wünschest; eingef.: schreibst; b eingef.: ganz; c gestr.: An; d gestr.: so; e gestr.: mehr; eingef.: rascher;

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
24.11.1861
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36043
ID
36043