Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 11. Juni 1861

Berlin 11 Juni 61

Mein lieber Ernst!

Deine Briefe vom 7ten haben wir erhalten und wollen Dir bald antworten, damit Du erfährst wie es der Mutter geht. Sie hatte mehrere Tage sehr heftiges Fieber und Kopfschmerz, sie klagte immer, daß ihr der Kopf wie wund sei, hatte Ausschlag auf der Stirn und hinter den Ohren und wir fürchteten Kopfrose. Es ist aber glüklicherweise nicht dazu geworden, aber die Flechten hinter den Ohren zeigen sich noch in gewohnter Weise. Das Fieber ist wieder verschwunden, Mutter auch schon wieder ausgefahren, aber sie findet sich noch sehr schwach, dabei haben wir viel Regen (Gewitter). Ich bin indeß schon zufrieden, daß Mutter wieder so weit ist und da Mutter Teplitz mehrere Mahle so gut gethan hat, so hoffe ich, daß es ihr auch dieses Mahla wieder gut thun wird, daß sich ihre Gesundheit wesentlich beßern wird. Wir haben nur noch 4 Wochen bis zur Abreise nach Teplitz, wo es noch allerlei zu besorgen geben wird. Gestern ist Mimi mit den Kindern wieder abgereist, sie haben uns viel Freude gemacht, dieses Kinderleben unter sich, jedes in seiner Eigenthümlichkeit, ist etwas höchst ergötzliches. Der kleine Carlb sehr wisbegierig und sich sehr an Hermann und dieser wiederum ihn anschließend, Anna mitunter viel plaudernd und wohl auch schon sich weise dünkend, indem sie die Brüder zurechtweisen will, sehr leicht weinend, wenn ihr nicht alle Wünsche gewährt werden, der kleine Heinrich höchst eigensinnig und gleich trampelnd, wenn ihm der Wille nicht gemacht wird, dabei höchst komisch im Sprechen, indem er gewöhnlich nur die letzten Silben der Worte hervorbringt, er kutschirt sehr viel und macht den Kutscher; die kleine Marie ein höchst liebliches Kind von ½ Jahr, immer heiter, hat schöne blaue Augen und ein liebliches Gesicht, weint selten und läßt sich die Brust gut schmeken. Sie sind nun gestern alle zusammen wieder in ihre Garnison gerükt; und Carl, der 14 Tage verreist gewesen, hat sie nun wieder bei sich. Bei mir ist es jetzt recht leer, da ich und Mutter allein sind. Auch die Familie war öfters beisammen, als die Freyenwalder hier waren. Wir sind mit den Kindern einige Mahl ausgefahren, nach dem Zoologischen Garten, wo die Jungens mehrmals gewesen sind. Noch am Sonntag haben wir eine Tour auf das Cöpeniker Feld gemacht. Es war dort ein außerordentliches Strömen der Menschen nach der Hasenheide, und vor dem Hallischen Thore nach dem Kreuzberg. Eben so eine große Maße Spatziergänger längst dem Kanal nach dem Thiergarten und dem Zoologischen Garten und den dort in der Nähe gelegenen Kaffeehäusern; und früh schon (es war ein schöner Tag) Dutzende von Familienwagen von 16-20 Personen nach den Kühelsbergen und dem Finkenkrug, den Extrazug nach Potsdam noch gar nicht gerechnet. Ich bin überzeugt, daß am Sonntage ein Paar mahl Hundert tausend Menschen auf den Beinen gewesen sind. Ich war in den letzten 14 Tagen sehr in die Freiheitskriege geraten, die ich wieder durchstudirt habe und mir nebst der jetzigen politischen Lage der Dinge zu mancherlei Betrachtungen Veranlassung gegeben haben. Wenn man so alt geworden ist, so viel erlebt hat und nicht mehr Mit-Acteur sondern bloß Zuschauer geworden ist, sieht man die Dinge viel nüchterner und ruhiger an; man verzweifelt nicht mehr, wenn die Dinge nicht mehr gehen, wie man wünscht, weil zuletzt eine höhre Gewalt sie doch, wenn auch auf Umwegen, zum Ziel führt. Der Tod Cavours hat nun alles wieder in Aufregung gebracht, so war es bei uns im Jahr 1808. durch den Abgang v. Stein, der mitten in den Reformen begriffen war. So starb der so bedeutende Scharnhorst bald nach der Schlacht bei Lützen im Mai 1813. Die Sachen sind doch durchgegangenc und die bewegenden Ideen der Zeit haben sie durchgeführt. Einzelne tüchtige Männer, welche die Zeit begriffen, von großer Thatkraft bringen die Dinge zwar allerdings ein Stük vorwärts, aber der Strom ist nicht zu hindern, auch wenn die Führer nicht mehr da sind, er bricht sich seine eigne Bahn. Die reformatorischen Ideen, wie sie Stein ausgesprochen, waren nicht mehr zurükzunehmen und die Noth der Zeit hat sie weiter geführt. Die Menschen harren so lange in ihrer Verkehrtheit, bis sie fest sitzen und sie nun auf Diejenigen, welche die Zeit verstehen und ihnen den rechten Weg zeigen, hören müßen. So wird es auch uns gehen. Ich gebe gern zu, daß wir unter jetzigen Verhältnißen gerüstet sein müßen und daß für den Augenblik auch in Deutschland nichts anzufangen ist. Die Franzosen müßen erst bis an den Rhein sein, dann werden wohl andre Masregeln ergriffen werden. Ich habe vor beinah 50 Jahren die Landwehr || in den Kampf gehen sehen und es wäre allerdings weit beßer gewesen, wenn sie disciplinirt und eingeübt gewesen wären. Auch mußten sie anfänglich Lehrgeld geben und ich habe d selbst einzelne Trupps davonlaufen sehen. Aber sie wurden durch den Krieg in wenigen Monaten zu Soldaten. Jetzt haben nun bei uns die durch einen 40 jährigen Frieden verrosteten Militärs, die jene Zeit nicht mehr gekannt haben, die Oberhand und nun soll das strenge Exerciren alle Ideen ersetzen! Wenn aber das stehende Heer nicht mehr ausrichten wird, wenn man wieder an das Volk appelliren wird, dann wird sich dieses auch wieder eine Landwehr ausbedingen, die man nunmehr aus schon beßer geschulten Reservisten bilden kann, die aber auch zeigen wird, daß man mit dem Gamaschendienst allein keine Schlachten gewinnt, sondern daß dazu wahrhaft militärische Ausbildung e gehört, von welcher die militärischen Philister keine Ideef haben. Sie kennen ebenso wenig ein Vaterland, sondern nur preußische Militärtraditionen, welche durch ein militärisches Point d‘honneur weiter fort gepflanzt werden sollen. Ich zweifle auch nicht, daß sich ein großer Theil dieser Officiere für diese Traditionen todt schießen laßen wird, nicht so aber das Volk und ins besondre der gebildete Theil, in welchem sich die Idee des preußischen und deutschen Vaterlandes ausgebildet hat. Wenn die Geldressourcen versiegt, die Schulden zu ungeheurer Höhe gesteigert sein werden und es darauf ankommen wird, daß das Volk seinen letzten Thaler aus der Tasche und seinen letzten Rok hergiebt (denn nur auf diese Weise wird man die Armee ergänzen können), dann werden wir neben der strikt disciplinirten Armee auch noch eine disciplinirte Landwehr, ein Volksheer bekommen, für welches das Volk lebt und stirbt und wofür es den letzten Heller hergiebt.

Daß es Dir in Jena so gefällt, freut mich sehr. Auch mag es Dir sehr wohl thun, dort keine Junkers zu finden. Es herrscht in den kleinen Staaten ein wirklich idyllisches Leben. In großen Staaten aber, wo es sich um große politische Intereßen handelt, und die aus frühern mangelhaften Zuständen, die zur Zeit ihre Berechtigung hatten, in eine große politische Entwikelung hinein geführt sind, giebt es auch politische Partheien, die große Kraftentwikelung, welche ihnen angemuthet wird, macht alle Eken und Schäden sichtbar, welche dieser Entwikelung entgegen stehen und führt zu innren Kämpfen, so war es in Rom und in ähnlichen ähnlicher Weise bei uns. Der Staat ist nunmal in eine Bahn hinein gewiesen, aus welcher er nicht mehr heraus kann ohne unterzugehn und da müßen alle Hemmungen beseitigt werden. An kleinen Staaten werden gar nicht diese Anforderungen gemacht, da lebt sichs eine Zeit lang charmant weiter ohne Kämpfe, weil keine Opfer gefordert werden. Ich gönne Dir dort Deinen Frieden, und bin, wie Du weißt, von unserm Junkerthum keineswegs erbaut. Wer aber ein politisches Leben in sich gefunden hat, hält es in kleinen Staaten nicht aus. Der preußische Staat mit allen schroffen Eken und Mängeln und Einseitigkeiten schwebt mir lebhaft vor, ich könnte sie einem Gegner desselben zum Vergnügen mahlen und doch sehe ich, g wie sich nun einmal Deutschland historisch entwikelt hat, kein andres Mittel h, als ihn zu halten und fortzubilden, damit Deutschlands Unabhängigkeit und die Fortbildung seines innern Lebens, was mir das höchste ist, erhalten werde. Ich bin also aus angewiesenem Beruf, nicht aus blinder Vorliebe, Preuße und das Stokpreußenthum ist mir völlig fremd. Es liegt aber darin bei aller Einseitigkeit eine gewiße Kraft, die wir für Deutschlands Wohl verwenden müßen.

Mutter und ich leiden jetzt am knappen Beutel, wir werden uns auf der Badereise, die nun einmal nothwendig, möglichst zusammen nehmen und es thut uns leid, daß wir Dir keine Freude machen können. Du wirst nun wohl auch von manchen Illusionen über baldige Anstellung kurirt sein, das nöthigste ist, daß Dein Buch zum Herbst fertig wird und dazu magst Du Deine Ferien benutzen. Sorge auch für ein paßendes Quartier für den Winter, da Dein jetziges zu kalt ist.

Dein Alter

Hkl

a eingef.: Mahle; b eingef.: Der kleine Carl; c eingef.: durch; d gestr.: sie; e gestr.: aus; f gestr.: Ausbildung; eingef.: Idee; g gestr.: kein andres; h gestr.: bildet

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
11.06.1861
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36038
ID
36038