Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 24. November 1866, mit Nachschrift von Carl Haeckel und Charlotte Haeckel

Berlin 24 Nov|emb. 66.

Mein lieber Ernst!

Du bist nun jetzt schon weit von uns weg und erfreuest dich eines schönen Klimas, während wir hier nordischen Winter haben, mit unter Schnee aber keine große Kälte, meist steht der Thermometer auf dem Gefrierpunkt. Dagegen ist es fast fortdauernd trübe. Mutter wird Dir wohl das Nähere über Tante Adelheids in Potsdam Tod und Begräbniß schreiben. Das Begräbniß war vorgestern an meinem Geburtstage. Gestern hielten wir Nachfeier meinesa Geburtstages und hatten eine kleine Gesellschaft bei uns: Tante Bertha, Gertrud, Jacobis und Quinke. Bruder Carl ist seit dem 21sten hier, er wird morgen wieder zurük reisen. – Ich selbst führe mein Winterleben. Ich gehe früh um 8 Uhr und Abends v. halb 6-7 Uhr eine Stunde im Thiergarten spatzieren, von meinem Bedienten begleitet. Dabei habe ich Abends schöne Laternenbeleuchtung in der Thiergartenstraße und werde durch keine Wagen inkommodirt, denen ich ausweichen müßte. Wenn ich so meine tägliche Bewegung habe und dabei gehörige Diät halte (d. i. nicht zu viel eßen) bin ich dann in der Regel wohl; kann in der Nacht gut schlafen und am Tage arbeiten. – Ich studiere jetzt englische Geschichte v. Ranke u. Mac-Auley. Ja das ist eine merkwürdige Geschichte, da begreift man, wie das englische Volk so groß, mächtig und kräftig geworden ist, so daß es gegenwärtig eine so bedeutende Rolle in der Welt spielt. Von der frühesten Zeit an, seit der Einwanderung der Sachsen, Angeln und Normannen bildete sich eine mächtige Aristokratie, sie bildete sich ganz allmählich in ihrer jetzigen Form aus, erst Magnaten (Lords) die gegen den König eine Schranke bildeten. Sodann als die Könige zu ihren Kriegen mit Frankreich Geld brauchten mußten die Communen zugezogen werden, um Geld zu schaffen, so bildete sich ein Ober- und ein Unterhaus und so sind die beiden Häuser so mächtig geworden, daß die Krone jetzt nichts unternehmen kann, was den herrschenden Volksansichten zuwider wäre. Aber was für Kämpfe hat das erfordert! Wie unendlich oft hat sich die Krone nicht an das Volk gekehrt, sondern willkührlich Steuern erhoben und Kriege geführt – || Das Volk wuchs allmählich an Reichthum und Bildung immer mehr und so hat sich endlich das parlamentarische Gebäude befestigt, was wir jetzt vor uns sehen! – Ich kann mir wohl erklären: Wie Dir der Aufenthalt in London, dieses trübe, feuchte Wetter zuletzt drükend geworden ist. Nun hast Du es mit einem warmen, angenehmen, heitern Clima vertauscht und genießest das anregende klare Sonnenlicht, während wir hier uns in feuchtem Nebel und trüber Luft bewegen. Die Kammern sind jetzt beisammen und diskutirn über das Budget und über die neuen Einrichtungen, welche der große Zuwachs, den unser Staat erhalten, nöthig macht. Das wird noch manche Versuche kosten, ehe sich Nord Deutschland consolidirt haben wird. Aber diese Entwikelungen bilden ja eben das Leben und wenn man dann täglich so viele aus diesem Leben ausscheiden sieht, wie es in diesem Sommer durch Krieg und Cholera gewesen, b wenn man sieht, wie schnell es vorübergeht, so frägt man sich wieder: Warum so viel Umstände und Bemühungen für ein so kurzes Dasein? Aber Gott hat es einmal so angeordnet und so muß es auch recht sein! – Wenn ich jetzt mit der englischen Geschichte durch sein werde, will ich Deine Morphologie, die bereits gebunden vor mir liegt, vornehmen und ich hoffe Dir dann berichten zu können: was ich davon verstanden habe oder nicht? Max Schultze aus Bonn war vor kurzem hier (ich weiß nicht, ob ich es Dir schon geschrieben) und holte sich von Reimer Dein Buch, er war sehr damit zufrieden und meinte: Du hättest damit die Wißenschaft ein gut Stük vorwärts gebracht. – Dein lieber Bruder Carl sucht sich in das Leben ohne Mimi so gut zu finden, als es gehen will. Aber hat er hat 8 liebe Kinder zu erziehn, das will was sagen und giebt große Beschäftigung. Mein lieber Schwager Sethe in Potsdam hat es trotz seines Verlusts viel leichter, seine Kinder sind herangewachsen und bilden schon eine Gesellschaft um ihn herum, die sich mehr selbst helfen kann. Wir werden unsre liebe Tante Adelheid sehr vermißen, sie war sehr gut, lebte mit den Ihrigen sehr glüklich und wir haben sie sehr lieb gehabt. So verschwindet Einer nach dem Andern aus dieser Erdenwelt und Alles deutet uns an, daß wir noch höhre vollkommnere Existenzen vor uns haben. ||

Gegenbaur hatte mir vor einigen Tagen geschrieben und ich habe ihm heute geantwortet. Er ist in Würzburg längere Zeit unwohl gewesen, grade dieses Unwohlsein hat ihn mit seiner kleinen Tochter viel zusammengebracht, die sich sehr an ihn angeschloßen. Die Dedikation Deines Buchs hat ihn sehr gerührt. Die litterarischen Kämpfe werden nun wohl bald beginnen und er wird mir wohl von Zeit zu Zeit Nachricht geben.

Für heute genug, mein lieber Ernst! Nächstens mehr. Wir werden uns wohl darein finden müßen, daß Du nur selten schreiben kannst, vielleicht kommen aber auch fremde Schiffe nach Madeira, die dann Briefe nach Europa mitnehmen können, so daß wir auch durch sie manchmal Nachricht erhalten.

– Tante Weiss läßt Dich herzlich grüßen. Wir theilen ihr Deine Briefe mit. Sie geht wenig aus, da sie nicht gut gehn und Treppen steigen kann, c hält sich viel im Hause und wird von ihren Verwandten und Freunden fleißig besucht, so daß es ihr nicht an Umgang fehlt.

Für heute genug, mein lieber Ernst!

[Nachschrift Carl Haeckels]

Von hier aus nur einen flüchtigen Gruß, lieber Bruder, und meine herzliche Freude darüber, daß Du die Tour bis Lissabon nach Deinem letzten Briefe glücklich hinter Dir hattest. Hoffentlich hast Du schon Vaters Geburtstag in Madeira zugebracht. Wir haben ihn hier still und in Trauer um die unvermutet dahin geschiedene Tante gefeiert. Meine Kinder sind wohl; mir selbst ist in diesen Tagen das Wiedersehen mit Verwandten und Bekannten nicht leicht geworden. Die Erinnerung an den schweren Verlust wurde natürlich um so lebendiger. Heute Abend kehre ich in meine Einsamkeit zurück. Ich habe, wie gewöhnlich, in den Wintermonaten || viel zu thun hoffe aber doch wenigstens direkt an Dich zu schreiben. Bis dahin in treuer Liebe

Dein

Karl.

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

Alle Verwandte und Freunde nehmen Theil an Deinem Ergehn, und grüßen Dich. Aus Bonn habe ich 400 Thaler erhalten und Bücher; ich führe genaue Berechnung über Deine Habe; ich weiß nicht ob ich Dir schon geschrieben 1) daß ich von G. Reimer für Dich 861 Th 10 sg. Honorar erhalten habe; dagegen habe ich an H. Joachimd gezahlt für 70 [Pfund] 476 Th und an Herrn Kaufmann 206 Th 6 sg.; ferner habe ich für Dich Russische Eisenbahnpapiere gekauft für 498 Th 10 sg. ‒

Schreibe uns nur fleißig. Gott sei mit Dir, und erhalte Dich gesund. ‒

Behalte lieb Deine Dich so innig liebende Mutter Lotte.

a gestr.: des, eingefügt: meines; b gestr.: so; c gestr.: und; d gestr.: Kaufmann; eingef.: Joachim

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
24.11.1866
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36032
ID
36032