Haeckel, Carl

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 20. Januar 1865

20 Januar 65.

Mein lieber Ernst!

Ich kann doch das Schreiben der Mutter an Dich nicht abgehen laßen, ohne Dir zu Deinem Glüksfall Glük zu wünschen. Es werden ja auf den Turnplätzen Tausende solcher Sprünge über ein Pferd gemacht, ohne daß ein Unfall eintritt. Man setzt die Hände auf den Rüken des Pferdes auf und kommt so unbeschadet über den Kopf weg. Wenn ich so von Glüksfällen höre, die Dich treffen, da wird mir immer ganz unheimlich zu Muthe. Denn auf die Glüksfälle folgen die Unglüksfälle. Das hat die Erfahrung gezeigt.

Es ist doch ein großes Glük, daß Du an Gegenbauer einen solchen Freund gefunden hast, der Dir wahrhaft unersetzlich ist. Pflege nur diese Freundschaft aufs innigste! Das Schiksal hat Euch wunderbar zusammen geführt und verknüpft durch die Wißenschaft und die großen Lebenserfahrungen, die Ihr zusammen gemacht habt. So etwas kommt selten vor. Also haltet nur recht fest am aneinander.

Was mich hier betrifft, so lebe ich in gewohnter Weise fort, ohne daß sich eine wesentliche Veränderung spüren ließe. Ich mache täglich meine Promenade in den Thiergarten, gewöhnlich den Kanal hinunter bis zur Hohenzollernstraße und von da herüber bis zum Hofjäger, wo ich dann umkehre und grades Weges bis zum Potsdamer Thore, und von da durch die Potsdamer Straße nach Hause gehe. Dabei brauche ich 1¼ Stunde. Auch habe ich guten Appetit. Täglich wird im Zimmer jedesmahl eine halbstündige Promenade gemacht, früh nach dem Frühstük und Abends gegen 8 Uhr, so daß ich wohl Bewegung genug habe. An den Vormittagen und am Nachmittage (gegen Abend) studire ich ein Paar Stunden. Ich lese jetzt ich Raumers Geschichte der Hohenstaufen, welche sehr in die Zeit der Kreuzzüge hineinführt. Diese Kreuzzüge lagen in der damaligen Entwikelung der Zeit, etwas Unreifes, Phantastisches, was mich keineswegs anspricht. Da ist mir die jetzige Zeit, welche nach der Freiheit der Individuen und ihrer möglichsten körperlichen und geistigen Entwikelung strebt, lieber. Diese Entwikelung ist aber nicht in wenigen Jahren abgemacht, dazu braucht es längere || Zeit und so müßen wir uns in Geduld fügen. Ich freue mich schon wieder auf die Zeit, wenn Du zu Ostern bei uns sein wirst. Zum Mai soll ich Schwefelbäder brauchen, um das unaufhörliche Juken, was mir das Leben verleidet loszuwerden, indem ich Tag und Nacht keine Ruhea habe, auch sehr unruhig schlafe, indem mir die Phantasie mit ihren Schöpfungen und Bildern viel zu schaffen macht. Ich muß nun aber einmal das Leben nehmen, wie es ist und wie es mir Gott noch übrig gelaßen hat. Wenn ich mein 84 jähriges Alter erwäge, so muß ich sehr zufrieden sein und Gott noch für die übrig gebliebene Gesundheit aufs innigste danken. Da schweifen denn bei der Lektüre (mein ganzer Arbeitstisch liegt voll Bücher) die Gedanken weiter vorwärts über dieses Leben hinaus nach Jenseits und was dort mit uns werden wird! Wenn ich in schönen Nächten die Sternlein ansehe, dann kommt mir unser Erdenleben nur wie ein sehr kleiner Anfang vor, dem sich die unendliche Ewigkeit anschließt. Denn es ist etwas Ewiges in uns, darüber würde uns unsre Anna schon beßer Auskunft geben können, wenn sie zu uns zu sprechen vermöchte. Also auf die Geduld sind wir hier angewiesen.

Dein Dich liebender Vater

Grüße die Freunde, es ist ja recht schön daß sie in der Beßerung sind. Seebeck nicht zu vergeßen!

a irrtüml.: Unruhe;

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
20.01.1865
Entstehungsort
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36025
ID
36025