Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 12.-14. Februar [1865]

12 Febr.

Lieber Ernst!

Mutter und ich denken an diesen schweren Tagen stündlich an Dich und deinen schweren Verlust, den Du vor einem Jahre in diesen Tagen gehabt hast. Zwar wird Dein wißenschaftlicher Trieb und Deine wißenschaftlichen Arbeiten den Schmerz sehr erleichtern. Aber die Lüke soll nicht ausgefüllt und wir sollen dadurch immerfort an ein höheres Leben erinnert werden, was uns noch bevorsteht. Es hat bei mir über Jahr und Tag gedauert, ehe ich mich wieder in diese Welt zu finden wußte. Es mußte sich erst ein fester Grund bilden, auf dem ich fortbauen konnte, und der mir für dieses Leben bleiben sollte, so daß ich ganz ruhig das Weitere erwarten und in mich aufnehmen konnte. Diesen ruhigern Grund wirst auch Du finden. Es wird sich ein tiefer Gedanke in Dir festsetzen, an dem Du halten und bauen kannst, denn dazu werden uns diese Geschike zugeführt. Wir sollen dieses Leben als einen temporären Aufenthalt erkennen und faßen lernen, als eine Entwikelungsstufe unsres ewigen, mit Gott verwandten Geistes, der im unaufhaltbaren Wachsen begriffen ist. So ewig wie Gott ist unser Geist, der nur ein Theilchen von ihm ist. Finden wir nun in unserm Forschen überall die Spuren der Weisheit Gottes, so finden wir darinn zugleich auch den festen Glauben an unsre geistige Fortentwikelung. In dieser ist unsre geliebte Anna schon begriffen. Könnte Sie uns aus jener Höhe ein Wörtchen zukommen laßen, wie würden wir erstaunen über unsern ewigen Geist, von dem wir hier nur eine kleine Ahnung haben! Wir wollen zwar darüber klagen, daß wir sie nicht mehr haben, aber ihr ihre geistige Seligkeit gönnen. Dieses muß uns aufrecht erhalten. Dieses ist das Wesentliche, was ich Dir jetzt zu sagen habe. Alles übrige ist Nebensache. Dein Dich liebender Alter.

Hkl.

Den 13ten Wir haben hier auf Erden einen doppelten Beruf: den des Wißens, vermöge deßen wir diese Erde, ihre Beschaffenheit, ihr Leben und ihre Entwikelung kennen lernen und dafür thätig sein sollen. Der Erde ist vielleicht ein langes Leben zugedacht, bevor diese Entwikelung erfolgt und sich vollbringt. Dazu sind wir Menschen auf der Erde geschaffen, um ihr diese Bestimmung vollbringen zu helfen und es zeigen sich hier große Aussichten. Noch ist der größere Theil dieser Erde eine große Wildniß, aus welcher sie sich herausarbeiten soll und der europäische Menschen||schlag scheint derjenige zu sein, dem dieses vorzugsweise zugedacht ist, denn die Bildung der Hindus, der Chinesen und Japanesen ist sehr einseitig, darum werden die Europäer jetzt dort hingewiesen, um ihnen die noch fehlende Civilisation beizubringen. Die ungeheuern Fortschritte, welche die europäische Civilisation in neuester Zeit durch ihre Erfindungen gemacht hat, sind durch die Erfindungen entstanden, welche in Europa gemacht sind. Schon legt der Engländer seine Eisenbahnen in Indien an, um in diesem Lande europäische Civilisation reißend zu befördern, und so wird endlich jedes Volk auf diesem Erdkreise seiner eigenthümlichen Bestimmung entgegen geführt werden, bis die göttliche Absicht in Ausbildung des Menschengeschlechts hier auf Erden erfüllt ist. Wahrscheinlich ist dem Menschengeschlecht eine lange Dauer durch Millionen von Jahren zugesichert, denn noch befindet es sich in den ersten Anfängen. Außer diesem Wißenstrieb und der damit verbundenen irdischen Bestimmung hat aber Gott dem Menschen noch einen 2ten unendlich höheren eingepflanzt, den des göttlichen Selbstbewußtseins. Der einzelne Mensch ist nur ein Theil von Gott, sein Dasein hier auf Erden sehr kurz, welches eben auf seine höhere Bestimmung hindeutet, er soll nicht lange auf dieser Erde aufgehalten werden, um seiner höheren Entwikelung in jener Welt desto schneller entgegen zu gehen. Denn sein Geist ist für etwas Höhers bestimmt. Diese Bestimmung ist aber hier schon bestimmt angedeutet in dem sittlichen Selbstbewußtsein, was weit über diese Welt hinausliegt. Dieser überirdische (christliche) Theil seines Wesens bringt ihn mit seinem irdischen Treiben von Jugend auf in häufige Conflikte, er ist von Jugend an zum Kampf mit dieser Welt bestimmt und weis dadurch nur um so sicherer, daß die eine Seite seiner geistigen Existenz für etwas weit höhers bestimmt ist, als für diese Erde, für dieses Erdenleben. Aber er soll diese Seite schon hier auf Erden geltend machen. Darum wird er in einen fortdauernden Kampf geführt, und diese Geltendmachung zeigt sich in seinem sittlichen Willen, der unauslöschlich in ihm eingegraben ist. Dieser sittliche Wille ist sein ewiger Theil und offenbart sich vorzugsweise durch die Liebe zu unsern Nebenmenschen, indem der Mensch sich völlig preis giebt und nur für andere leben a und ihr physisches und geistiges Wohl be||fördern will. Diese Liebe hat Deiner Anna in hohem Maße innegewohnt und sie hat sieb nicht bloß zu Dir, sondern auch zu andern Menschen offenbart, ihr großer Wahrheitssinn war damit auf das innigste verbunden und sie ist in Uebung dieser Liebe schnell zu einem beßern Leben übergegangen, gleich als ob Gott sie für diese Welt fertig und zum Uebergang in ein beßeres Leben für reif gehalten hätte. In diesem beßern Leben, in welchem sie jetzt schon weilt, wollen wir sie nicht stören, sondern es ihr gönnen und auch uns für ein beßeres Leben würdig zu machen suchen. Wir werden sie gewiß dort wieder erkennen und sie wird uns zu unsrer höhern Entwikelung behülflich sein. Von dieser Ansicht ausgehend können wir hier in Frieden leben und das Weitere abwarten. Ich bin auf diese Weise alt geworden, muß nun bald von dieser Erde fort und sehe dem künftigen Leben mit Ruhe und Zuversicht entgegen, wenn mir auch der Aufenthalt in dieser Welt wegen des Zusammenseins mit allen denen, die ich liebe, noch werth ist. Dieses, mein lieber Ernst Dir noch zu deinem Trauertage zu sagen, war mir ein Bedürfniß und nun lebe wohl.

Dein Dich innigst liebender Alter

Hkl

Den 14ten Dein Brief, den wir heute erhalten, hat uns sehr gefreut. Der Standpunkt, den Du genommen, ist der richtige und Du wirst aus vorstehendem meinem Briefe ersehen, daß auch ich ihn gefaßt habe und mit Dir einverstanden bin. Suche ihn festzuhalten. – Wir haben hier sehr kaltes Wetter, heute früh 12, heute Mittag 7 Grad. Dennoch bin ich spatzieren gewesen und mache trotz der Kälte alle Mittag einen Spaziergang von 1½ Stunden. Grüße Gegenbaur recht herzlich. Wie gnädig ist Dir Gott, daß er Dir diesen Freund in der Noth geschenkt hat. Adieu mein lieber Ernst.

Dein Alter

a gestr.: will; b eingef.: hat sie

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
14.02.1865
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36017
ID
36017