Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 27. Februar 1854

Berlin 27 Febr. 54.

Mein lieber Ernst!

Dein Brief vom 17 und 18 Febr. hat uns sehr erfreut. Allerdings bildet Dein jetziges Lebensalter einen bedeutenden Abschnitt in Deinem Leben, es ist das rechte Jünglingsalter, wo der Mensch dem Mannesalter allmählich entgegen zu reifen beginnt, wo er allmählich zum Bewußtsein über sich selbst und wo die Natur mit ihm hinauswill, kommt, wo sich seine Kräfte immer mehr aussprechen und entwikeln, wo er Kenntniße sammelt, die ihn immer mehr über sein innerstes Leben klar machen und das alles geht nur allmählich, bis er denn endlich 10 Jahra später ins Mannesalter tritt und die Welt sich ihm mit immer größerer Klarheit vor ihm ausbreitet. Jetzt ist die Zeit des Lernens, des Kenntniße Sammelns, da streckt der Mensch die Fühlhörner immer mehr aus, bis er endlich feste Punkte und festen Boden gewinnt. Also nur immerfort gelernt, Du bist auf richtigem Wege und wenn Du noch 5–6 Jahre so fort gewandelt bist, dann werden sich wohl die Anhöhen zeigen, die Dir einen sichern Ueberblik gewähren, da mußt Du aber auch manchen kleinen Umweg nicht scheuen, der Dich dem Ziele näher bringt, und auch wohl in manchen sauren medicinischen Apfel beißen. Habe ich doch selbst in meiner weit einfacheren Karriere die Umwege nicht immer vermeiden können und manches dann liegen laßen müßen, was ich früher eifrig getrieben, das geht im Beamtenstande auchb nicht anders. Die Fehler, über welche Du bei Dir klagst, sind ganz richtig angegeben und da Du sie richtig erkennt, so kannst Du sie bei festem Willen, den Du Dir erwerben mußt, um so leichter ablegen. Einen festen ausdauernden Willen kann man aber mit Recht jedem ordentlichen Manne anmuthen und von ihm verlangen. Das wird Deine vorzüglichste Sorge sein müßen. Die trüben Gedanken, das Schwanken zwischen großen Erwartungen und Muthlosigkeit mußt Du bezähmen lernen, das wirkt sehr störend auf das Leben, bringt aus dem richtigen Gleise, in welches man zuletzt doch wieder einlenken muß. –

Deinen künftigen Lebensplan, wie Du Dir ihn jetzt manchmal in Gedanken mahlst, erkennen ich und Mutter keinesweges für eine sanguinische Tollheit, es ist wohl möglich, daß er einmal zur Realisation kommt, nur mußt Du erst noch mehr lernen, Kenntniße sammeln, Dich in den Naturwißenschaften umsehn und mehr zur Klarheit gelangen, dann wird es sich finden, ob Du ihn und unter welchen Modifikationen versuchen wirst. Ich kann mir wohl Deine Sehnsucht denken, die Pracht der Pflanzennatur in den Tropenländern kennen zu lernen, Ernst Reimer hat die Sundainseln paßirt und rühmt sie als das Paradies der Erde, auch der Himmel soll dort von großer Pracht sein. Ich kann mir ferner denken, daß sichc bei den großen Fortschritten in den Naturwißenschaften auch ganz neue Ansichten über die Pflanzennatur der Erde eröfnen, an die z. B. Linné noch gar nicht zu denken im Stande war, ein großes, bisher nicht gekanntes System und Zusammenhang der Pflanzenwelt, neue Gesetze, neue Compositionen und daß dem Menschen die Beschaffenheit und die Organisation der ganzen Pflanzenwelt der Erde in ihrem unermeßlichen Reichthum immer klarer wird und daß hierin neue Entdeckungen zu machen, außerordentlich verlockend und reitzend ist. Wieviel weiter sehn wir schon jetzt in der Natur durch die Kenntniß des Magnetismus und der Elektricität als vor 50 Jahren. Also nur immer munter vorwärts! Gott wird Dir auch mit Deinem Knie weiter helfen! ||

Deine Militärgestellung ist so hoffe ich nunmehr so weit in Ordnung, daß Du Dich jetzt nicht zu stellen brauchst. Du warst nehmlich zum 3 Merz (diese Woche) vorgeladen. Ich gieng sogleich zum Militär Commißarius Geh.Rath Pehlmann, sagte ihm, daß, wie ich in Erfahrung gebracht, man sich, um auf 3 Jahr zum 1jährigen Militärdienst zurückgestellt zu werden, nicht an dem Orte des eigentlichen Wohnsitzes zu stellen brauche, wenn es nur anderwärts geschehen sei, das letztere gab er nach, äußerte aber, er riethe mir von dem Atteste, was Du in Rhanis erhalten hast, keinen Gebrauch zu machen, da es Dir künftig, indem es Dich als ganz gesund bezeichnet und Du doch am Knie leidest, schaden könne. Du kannst nun noch bis zum September zurükgestellt werden, ohne persönlich jetzt zu erscheinen. Ein persönliches Erscheinen vor irgend einer Militär Commißion sei aber durchaus nöthig, um das Qualifikationsattest zum 1jährigen Militärdienst und die Zurückstellung bis zum 23sten Jahr zu erhalten, indem sonst einem ganz untauglichen (z. B. einem Buckligen, Gebrechlichen), einen Zurückstellungsattest gegeben werden könne, was widersinnig sei. Bei Dir ist die persönliche Gestellung um so nöthiger, als Dein Zustand zweifelhaft ist. Ich werde also wohl auf meine vor einigen Tagen eingereichte Eingabe noch vor dem 3ten Merz den schriftlichen Bescheid erhalten, daß Du Dich zum September sistiren sollst, was mir bereits mündlich versichert ist. Quinke meint: er sei noch zweifelhaft, ob er Dich künftigen Herbst wieder nach Rehme schiken werde, er wolle erst abwarten, wie es Dir diesen Sommer geht und erwartet überhaupt noch bedeutende Veränderungen im Verlaufe der Zeit durch Deine weitere körperliche Entwikelung. –

Daß wir übermorgen einen Tanz in unserm großen Zimmer geben wollen, wozu auch Deine Freunde eingeladen werden, wird Dir wohl Mutter schreiben. Mutter hat jetzt einen Flechten Ausschlag am Halse und im Nakend, der sie durch Juken inkommodirt, sie soll, sobald es warm wird, Schwefelbäder nehmen. Sonst leben wir jetzt im Karneval etwas unruhig, wir haben 2 Gesellschaften gegeben, haben die Jenny Lind gehört, es werden jetzt sehr schöne Concerte gegeben, Adolph Schubert besucht uns fleißig. Gestern war Regenbrecht bei uns, deßen Mutter vorigen Herbst gestorben und deßen Schwester an den Bürgermeister Maitzen in Hirschberg verheirathet ist. Er hat im vorigen Sommer eine Reise nach Wien, Venedig und Oberitalien für 160 rℓ (2 Monat lang) gemacht, die ihn sehr ergözt hat und von der er sehr erbaut ist. Er setzt hier seine medicinischen Studien fort. –

Sonst rumort es hier in den Köpfen sehr wegen des türkisch-rußischen Kriegs, der wohl zu einem europäischen werden wird. Der Zaar will Europa beherrschen, das wird ihm noch weniger als Napoleon gelingen. Die Junkers betrachten ihn als den Hort gegen die Revolution, d. i. als den Wiederhersteller ihrer Junkerprivilegien, alles übrige Volk, auch der Prinz v. Preußen und Manteufel sind antirußisch, und Oesterreich wird es nicht leiden, daß der Zaar die Griechen in der Türkei gegen die Türken insurgirt, sonst wird es ganz von e Rußland umklammert und eingeschloßen. –

Wir haben jetzt noch hübsche Wintertage gehabt, aber auch viel Sturm, in den Kammern tritt die Bornirtheit der Junker mit aller Frechheit hervor und Vinke macht den Minister Westphalen ganz zu Schanden, das hilft aber alles nichts. Die Junker halten ihn doch. Der Prediger Sydow hat in diesen Tagen seinen ältesten liebenswürdigenf Sohn, Arzt in Bethanien, schnell in wenigen Tagen an einer Halsentzündung, die zuletzt zur g brandigen Bräune geworden, verloren, was uns alle mit großer Betrübniß erfüllt hat. Oncle Christian ist auf ein Paar Tage hier gewesen. Nieҫe Bertha und Theodor sind ganz voll von dem bevorstehenden Tanz, zu welchem 14–15 Paare eingeladen werden. Gestern Abend war ich bei Weiss, der sein 75stes Jahr angetreten hat. h Sie laßen Dich herzlich grüßen. Die beiden jungen Schlagintweits aus München werden durch A. Humbold‘s Vermittlung Unterstützung von der englischen Regierung erhalten und den Himalaya bereisen. – Ernst Weiss wird erst zu Michaelis hieherkommen, um seine Studien der Naturwißenschaften hier fortzusetzen. Wir freuen uns schon recht auf die Zeit, wo wir hier mit Dir wieder zusammen sein werden. Von Ziegenrück sind gute Nachrichten, sie haben vorige Woche viel Schneegestöber gehabt. Der kleine Junge ist munter und nimmt zu. – Für heute genug

Dein Dich liebender Vater Hkl

den 27sten Febr. Es werden jetzt große Anstalten zum Tanz (übermorgen) in der großen Stube getroffen. Es werden ohngefähr 14 Paare tanzen. Die Eltern kommen nicht mit, weil || es an Platz fehlt. Eingeladen sind: Theodor Bleek, Adolph Schubert, Wilde, Wittgenstein (der heute hier war und Dich herzlich grüßt), Graf Henkel, Regenbrecht (der gestern absagte) Ernst Reimer, Lampe (aus Leipzig), v. Sommerfeld und Thielen, Brandis (alles Bekannte von Theodor), der Lieutnant v. Grollman, Nitsch

Von Mädchen: Bertha Sethe, Marie v. Grollmann, 2 Töchter von Georg Reimer, 2 Mädchen, die bei Mutter Reimer sind, die beiden Brunnemanns, die beiden Passow’s, die Tochter der Medicinal Räthin Wagner, die beiden Püttmann.

Die Mädchen freuen sich ungemein auf den Tanz. Theodor wird die Tänzer leiten, er tanzt sehr gern. Wir alle wollen uns freuen, wenn die Jugend eine Freude hat. Mutter läßt Dir sagen, Du sollst Dich mit dem Mikroskop in Acht nehmen, daß Du nicht Deine Augen verdirbst.i

a eingef.: 10 Jahr; b eingef.: auch; c gestr.: man; eingef.: sich; d eingef.: und im Nacken; e gestr.: Oe; f eingef.: liebenswürdigen; g gestr.: eitrigen; h gestr.: Die bei; i Text weiter auf S. 1-2 von Br. 221: den 27sten Febr. … Deine Augen verdirbst.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
27.02.1854
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36006
ID
36006