Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 14. Dezember 1853

Berlin 14 December 53.

Mein lieber Ernst!

Gestern schikte mir Mutter Deinen Brief vom 4ten, woraus ich ersehe, daß Du Deinen Studien fortlebst. Laß Dich durch Rienekers Geschwätz nicht irre machen, und studire nur ruhig fort. Wenn ich täglich sehe, wie so vielen Menschen durch das rechte Dazwischentreten der Aerzte geholfen wird, so steigert der Rienecker eine an sich nicht ganz unrichtige Ansicht doch bis zum Extrem. Die Dinge so auf den Kopf zu stellen, das ist nicht selten auch Deine Sache und Du magst Dich wohl in Acht nehmen, daß Du auf diese Weise nicht irre geführt wirst. So ist Dir’s z. B. mit dem Ball auf der Harmonie ergangen. Der Tanz im Ganzen ist etwas naturgemäßes für die Jugend, er soll der Ausdruck innerer Seelen Bewegungen sein und ist es auch, wenn er gut getanzt wird. Alle Völker haben ihre Tänze. Ich erinnere mich noch dieses Masurek den 4 polnische Paare vor 50 Jahren in Flinsberg tanzten. Er drükte so ganz den polnischen Nationalkarakter aus, daß ich ganz davon entzükt war. So soll auch der ernstere und ruhigere Deutsche seinen Tanz haben und er findet sich in dem Walzer und einigen andern Tänzen. Die zierliche Menuet ist ihm auch nicht fremd, sie ist aber wegen ihrer Zierlichkeit, die dem Deutschen nicht angeboren ist, doch auch etwas Französisches. Die Musik darf beim Tanz nicht fehlen, sie giebt ihm erst den a Rithmus und was beim Menschen die Gestalt und Bewegung im Tanze ausdrüken soll, soll die Musik in Tönen ausdrüken. Sie sind die unentbehrlichen Begleiter des Tanzes. Daß nun die Sache häufig zur Karikatur gemacht wird, ändert nichts im Wesen ihrer Bedeutung. Den Mädchen aber in ihrer höchsten Blüthe ist der Tanz ein Bedürfniß, sie tanzen um des Tanzes wegen, bei den Männern aber, die schon im Beginn einer ernsten Lebenslaufbahn sind, ist dies weniger der Fall. Die Mädchen sind schon ihrer Natur nach leichter, gewandter, zierlicher. Die aufblühende Knospe will sich frei bewegen, in schöner, zierlicher Darstellung, wozu ihr der Tanz die beste Gelegenheit bietet. So soll es sein und so hat der Tanz seine Bedeutung. Daß diese häufig verkannt, daß das Tanzen ein tolles Herumspringen wird, ist eben das karikaturartige von der Sache. Daß der Jüngling einer schönen, zierlichen Erscheinung huldigt, das Belebende derselben anerkennt, ist ebenfalls naturgemäß. Denn das Schöne ist nun einmal ein wesentlicher Bestandtheil dieses Erdenlebens, es soll sich in schönen Formen zeigen und dadurch das ganze Leben verschönern. Schon bei den Thieren findet sich dieses, die schönste Kuh in den Alpen wird, wenn sie das erste Mahl zu Berge geht, geschmükt und die Kuh hat ein bestimmtes Gefühl von ihrer Zierde, eben so die Pferde, wenn sie bei feierlichen Gelegenheiten geschmükt werden. Diesen Sinn für’s Schöne mußt Du ja in Dir ausbilden, da Du Anlage zum Cynismus hast, wodurch man den Menschen unangenehm wird. Mit den Menschen aber soll undmuß man leben, jeder Umgang mit Menschen bildet mittelbar oder unmittelbar aus, trifft man auf Rohheit und Schlechtigkeit, so wird eben dadurch das Zarte und Gute zum Bewußtsein gebracht durch den Gegensatz. Eben so wirkt man ohne es zu wißen durch das Zusammensein mit ihnen auf sie ein. Der Umgang mit Menschen schleift ab, die || Eken, das Anstößige, was man hat, wird abgeschliffen, denn auch die äußerenbSitten sollen anmuthig und schön sein, sie sind der äußere Ausdruk der Humanität, d. i. der Anerkennung des Menschlichen im Andern, dem man sich nicht unangenehm [machen] soll und will. Daß auch die feine Sitte häufig zur Karrikatur wird, ändert nichts in der Sache, alles Gute in der Welt kann gemißbraucht und zur Karrikatur gemacht werden. Also gehe von Zeit zu Zeit in Gesellschaft, Du mußt Dich sogar dazu zwingen, wenn Du häufig keine Lust hast. –

Heute erhielten wir keine guten Nachrichten von unsrer Mimi, sie scheint eine Unterleibsentzündung oder etwas Aehnliches, als Folge der Niederkunft gehabt zu haben, gebe Gott, daß die Beßerung in der sie sich befindet, anhält. Auf den kleinen Karl bin ich sehr begierig, er soll tüchtig schrein und ungeduldig sein. Was nun Gott in sein menschliches Dasein gelegt hat, müßen wir ruhig erwarten. Ich hätte wohl nicht geahndet, in Dir einen Naturforscher aufleben zu sehen und erinnere mich sehr wohl, wie Du als 2 oder 3jähriger Knabe schon die Thiergestalten, wenn wir Dir Spielsachen gaben, in besondre Affektion nahmst, sie von allen Seiten beschautest und herumdrehtest. Der Mensch ist und bleibt ein Räthsel, denn woher sind ihm nun grade diese und keine andre Gaben geworden?

Am Sonntag Mittag war ich mit Nichte Bertha c Mittags bei Weiss, wo mehrere Naturforscher waren, Schlagintweit, Ewald, Beyrich. Da wurde viel von der Schweitz und Italien erzählt. Beyrich hat Schlesien und die Grafschaft Glatz geognostisch genau untersucht, der Sandstein fängt schon bei Grüssau an, zieht sich von da nach Adersbach und von da durch die ganze Grafschaft Glatz. Der OberbergRath Böcking war vorigen Winter in Italien gewesen und konnte mir die Verderbtheit der Pfaffen nicht genug schildern, sie werden auf das furchtbarste gehaßt. –

Die Geographische giebt jetzt eine d Zeitschrift für allgemeine Erdkunde heraus, die Du bei mir finden wirst, und worin viel Intereßantes enthalten ist. Sonst lebe ich in meiner alten Art fort, an den Vormittagen lese und schreibe ich und gehe vor Tisch etwas spatzieren. Die Vormittage sind jetzt, da es so spät Tag wird, sehr kurz. Gegen 5 Uhr gehe ich nochmals eine Stunde spatzieren, mache dann öfters einen Besuch und gehe dann Abends zu Großvater. Wir waren bis jetzt über die glükliche Entbindung von Mimi sehr glüklich, gebe Gott, daß die Attaque (sie hat sehr große Leibschmerzen gehabt und es haben warmee Umschläge und Blutigel angewendet werden müßen) ganz vorüber ist. Tante Bertha befindet sich in fortdauernder Beßerung. Nichte Bertha ist ganz munter und für mich eine ganz angenehme Umgebung. Vor Mitte Januar werde ich wohl nicht nach Ziegenrück gehen.

Fahre fort in Deinem Fleiß und laß immer etwas Intereßantes von Deinen Kollegien hören, ich lese es mit großem Intereße. A Dieu mein lieber Ernst.

Dein Dich liebender Vater

Hkl

a gestr.: Rhitmus; b eingef.: äußern; c gestr.: Abends; d gestr.: allg; e gestr.: kalte; eingef.: warme

Brief Metadaten

ID
35998
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
14.12.1853
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
21,5 x 27,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35998
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Ernst; Berlin; 14.12.1853; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35998