Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 8. September [1860]
8 Sptmb.
Lieber Ernst!
Vorige Woche bis Dienstag in dieser Woche, wo die Merkel wieder abreiste, haben wir es sehr unruhig gehabt. Heute gehe ich in die Geographische. Der Diener, welcher hier war, meinte, es wäre viele Nachfrage nach deiner Sicilianischen Abhandlung. Es ist doch Schade, daß sie nicht besonders gedrukt ist und daß man sie nur in der Zeitschrift findet. Ich habe mich noch nicht erkundigt, was ein eigenes Heft der Zeitschrift kostet. Ich will es einigen Bekannten schiken. In Potsdam hat ja der König einen kleinen sicilianischen Boutera Garten eingerichtet, das hat mich sehr amüsirt und er hat mir sehr wohl gefallen. Er liegt in der Nähe der bekannten Windmühle. Morgen denken wir Tante Bertha noch einmal in Potsdam zu besuchen.
Ich wünsche Dir nun gutes Wetter zu Deiner Reise. Treibe gute Wirthschaft, laß Dir aber auch von dem notwendigen nichts abgehn, und lebe in Königsberg mit den übrigen anständig, ohne zu verschwenden. Ich wünsche Dir gutes Reise Wetter. Zum 1 Octob. werde ich das Quartier kündigen. Ich lebe hier noch immer im Andenken an die schönen schlesischen Berge. Noch heute früh auf dem Spatziergang sprach ich den Geh. Rath Philippsborn, der 14 Tage in Hermsdorf unter dem Kynast mit seiner Familie gewesen, soeben zurükgekehrt und von den Bergen ganz entzükt a war. Sie bilden eine Mittelgattung zwischen Harz und Thüringen und zwischen den Alpen. Mutter und mir liegt im Sinn, wenn ich noch lebe und die Finanzen nur irgend es erlauben, nächstes Jahr auf mehrere Wochenb uns auf einer Villa bei Hirschberg oder in Hermsdorf c mit unseren sämtlichen Kindern niederzulaßen. ||
Die Politik habe ich jetzt einmal recht satt. Ich halte mich an dend unabwendbaren Fortschritt der Geschichte, der Europa seit 70 Jahren eine neue Gestaltung gegeben hat. Der Geist dieser Geschichte arbeitet ununterbrochen fort e. Was von der alten Zeit noch wirkliches Leben hat, wird sich erhalten; was morsch ist, wird auseinander fallen und andre neue Keime werden immer mehr vorwärts treiben. Das Alte wehrt sich, wie ein verschlagener, zäher Feind, der nur langsam das Schlachtfeld verläßt.f Alle Dummheiten und Verkehrtheiten werden allmählich weichen müßen. Aber es gehört Zeit dazu; was eine Generation nicht vermag, bringt die folgende zu Stande. Man muß nur warten können, das ist aber eine schwere Aufgabe. Ich habe genug erlebt, und will Euch gern das noch Fehlende überlaßen. Ich rekapitulire meine Vergangenheit und g ziehe daraus ganz ruhig meine Schlüße für die Zukunft, die ich nicht mehr erleben werde.
Jacobis, Mutter und Sohn sind nun auch wieder hier. Es kehrt allmählich ein Bekannter nach dem andern nach Hause zurük. Auch Julius und Adelheid in Potsdam sind zurük.h Adolph Schubert ist am Rhein (auch in Bonn) gewesen, und hat zuletzt von München geschrieben. Er hat also einen Streifzug von Westen nach Osten gemacht. Auguste und Marie Bleek gehn in diesen Tagen nach Buenos Aires ab. Viel Glük auf den Weg! Es wäre doch merkwürdig genug; wenn sich dort eine Bleeksche Colonie dauernd ansiedelte! Wilhelm soll in Bonn viel zu schaffen gemacht haben. Er geht nun auch nach dem Cap zurük.
Den Italienern wünsche ich allerdings ein freies selbstständiges Leben. Wie weit sie dieses aber werden selbstständig zu gestalten und zu erhalten vermögen, ist eine andre Frage. Beßer wird es dort auf jeden Fall werden. i Was aber Venetien betrifft, so wird es Oesterreich so wenig fahren laßen, wie wir das Herzogthum Posen. Es giebt Politisch-geographische Naturnothwendigkeiten, welche nicht umgestoßen werden können. Indeß kann Oesterreich, da es einmal || aus verschiedenen Völkern componirt ist, den Venezianern so gut eine gewiße Nationale Selbstständigkeit gewähren wie seinen Ungarn.
Ich wünsche uns noch einen schönen Herbst. Der schlechte Sommer ist doch gar zu störend gewesen.
Beirichs sind in diesen Tagen nach Füssen in die Voralpen gereist. Die Weiss hat uns in diesen Tagen besucht. Gestern war ich auf dem Cöpeniker Feld. Dort wird so ungeheuer gebaut, daß nur noch ein verhältnismäßig kleines Quadrat von dem Felde übrig ist. Alles wird mit Gebäuden und neuen Straßen besetzt. Jahre lang hat die Sache geruht, nun geht sie mit einmal vorwärts. Dieses Wachsen Berlins gehört auch zu den geschäftlich, national-ökonomischen Wundern. Was zaubert diese norddeutsche Hauptstadt so gewaltig in die Höhe? Die freie Entwikelung der menschlichen und Naturkräfte! Die steken andre Geister dahinter als die uns sichtbaren und erklärlichen! Da hanthiren andre Gewalten als die pedantischj uniformirten! Immer zu! Im Stillen und unsichtbar arbeitet der Geist der Geschichte fort, wie die unterirdischen Kräfte der Vulkane. Wenn dann einmal eine Explosion erfolgt, dann stehn die Ochsen da und wißen nicht, was sie machen sollen. So war auch die französische Revolution längst vorbereitet, als im Jahr 1789 ihr Ausbruch erfolgte. Aber die Explosionen fördern immer neues Material zu Tage, die Zeit muß daßelbe erst bilden und gestalten.
Grüße Carl, Mimi und die Kinder aufs herzlichste von
Deinem Alten
Hkl.
Auch Anna und die Mutter grüßen herzlich. Ich werde Anna nächstens schreiben.
a gestr.: ge; b eingef.: Wochen; c gestr.: uns; d eingef.: den; e gestr.: und; f eingef.: Das Alte wehrt...das Schlachtfeld verläßt.; g gestr.: sch; h eingef.: Auch Julius und Adelheid in Potsdam sind zurük.; i gestr.: Aber; j eingef.: pedantisch;