Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 6. Juli 1857

Berlin 6 Juli 57.

Mein lieber Ernst!

Die Mutter mahnt und ich muß Dir doch ein Paar Worte schreiben. Ich bin Wochen lang mit dem Feldzug von 1814 beschäftigt gewesen und nunmehr damit fertig, bis zur Einnahme v. Paris. Nun werde ich, da wir verreisen, eine Pause machen und gedenke dann den Herbst und Winter fortzufahren. Wir haben endlich nach 2 monatlicher Dürre, die alles versengt hat, bei anhaltendem Nordostwinde – jetzt andres Wetter bekommen: Nebel, Südostwind und Gewitterregen. Die Natur fängt an, sich wieder zu erfrischen, worüber ich sehr froh bin. Das Wintergetreide hat nicht gelitten, wohl aber die Gerste und Hafer; Kartoffeln und Krautgewächse werden sich noch erholen. Auch viel Obst wird es geben. Es war eine so trokene Dürre, wie ich mich seit Jahren nicht erinnere. Ich gehe früh morgens von 7–8½ Uhr fleißig im Thiergarten spatzieren, der doch für Berlin von größtem Werth ist; im Winter Schutz gegen die kalten Winde, im Sommer Schutz gegen die Sonne. Die großen vielen schattigen Bäume sind zugleich ein Schutz a für das Gras gegen die Sonne, so daß der grüne Rasen nicht ausgegangen ist. Die Vorstädte vor dem Brandenburger und besonders Potsdamer Thore verschönern sich fortdauernd, besonders wird die Kemperhofstraße schön. Ich werde die schöne Aussicht unsres jetzigen Quartiers sehr vermißen. Indeßen habe ich mich doch von seiner Entlegenheit überzeugt und freue mich, daß wir Dich bei uns behalten können. Ich habe es ja nahe zum Brandenburger Thore und den Thiergarten. Vorigen Donnerstag waren wir einige Stunden in Potsdam. Wir fuhren mit einem Extrazug um 3 Uhr bis zum Wildpark à Person 15 Sgr., und dafür zusammen hin und zurük, also sehr wohlfeil. Vom Wildpark giengen wir zum großenb Palais, um bei der Invalidenrestauration Kaffee zu trinken, sodann giengen wir durch Sans-Soucis und besahen uns hauptsächlich den Park bei Charlottenhof, der als ein großer, neuer hinzugekommener Theil vonc Sans-Soucis zu betrachten ist. Die große Fontaine sprang sehr schön und erfrischend. Wir giengen bis zum Jäger Thor, von da zu Bassewitz, wo wir 2 Stunden blieben. Der alte 86jährige Bassewitz ist sehr unwohl gewesen, er war an der Beßerung, er leidet an geschwollnen Beinen, in der Nacht werden sie dünn, am Tage durch das Gehen schwellen sie an. Mutter und auch mir hat diese Parthie so gefallen, daß wir sie im September mit Dir wiederholen wollen. Nun wünsche ich Dir und Carl zur Reise Gesundheit und nicht zu schlechtes Wetter. Ich werde mich wohl im Hirschberger Thal etwas umsehn. Mutter wird baden. Ich habe auch in diesen Tagen viel über den Himalaya gelesen, wo wir Europäer jetzt so einheimisch werden, wie in der Schweitz. Ueber Cairo nach Bombay dauert die Reise nicht zu lange. Die prächtige Dampfkraft, die uns erst die Erde aufschließt! Die Schlagintweits haben sich nur wenige Tage hier aufgehalten. Humbold hat sie in Beschlag genommen, und dann sind [sie] zum Könige nach Marienbad, von wo sie nach England gehen. – Philipp Bleek ist mit seiner Mutter bei Paderborn in einem Bade, aber es wird nicht viel aus ihm werden. Wilhelm Bleek ist jetzt in der Kapstadt. –

Wir haben hier allerdings nicht sod schöne Gegenden, wie Oesterreich und Tyrol und Salzburg. Schlesien und der Rhein sind auch schön, aber doch nichte in diesem Maße, die Alpen fehlen. Aber wir haben doch viel geistigen Menschenverkehr, das ist auch ein großes Gut. Das f nördliche und ein Theil des westlichen Deutschlands zeichnen sich dadurch aus, und die Oesterreicher, die jetzt vorwärts wollen, werden Mühe haben uns nachzukommen. Auch ist in unsrer Kultur immer noch ein sittlich religiöser Fond, der ihr zur Grundlage dient und ohne welchen sie wenig Werth haben würde. Die Religion sitzt tief im Menschen, er kann ohne sie auf dieser Erde nicht existiren. Das sieht man recht, wenn man die Geschichte der asiatischen Völker studirt. Dort haben sich Brahminenlehre, Buddaismus und Muhamedanismus bekämpft und wurzeln tief in den Völkern, das Christenthum hat dort noch wenig Fortschritte gemacht. Im Brahmanendienst und Buddaismus herrscht noch Götzendienst. Diesen hat der Muhamedanismus allerdings in vielen Gegenden und Völkern gewaltsam zerstört, er hält sich an den einigen Gott; aber es fehlt ihm die Religion der Liebe, die dem Christenthum eigenthümlich ist, die Achtung des Menschen und seiner Rechte und die daraus hervorgehende Civilisation der Maßen. Auch gestattet er der Herrschaft der Sinnlichkeit einen zu großen Spielraum, die innerste Natur der Frauen wird verkannt, und so zieht der Despotismus in seinem Gefolge, der die freie Entwikelung menschlicher Kräfte nicht zu Stande kommen läßt, welche jetzt unser Lebensprincip geworden ist. ||

Bis zum 18ten dieses bleiben wir hier. Wir werden Abends abfahren und den andern Nachmittag in Hirschberg eintreffen. Wirst Du uns einen Ort angeben können, wohin wir an g Euch schreiben? Denn das ist uns doch Bedürfniß und ich werde wohl über meine Exkursionen manches mitzutheilen wißen. In den letzten Tagen des August wollen wir wieder zurük sein. Mimi mit den Kindern wird den August in Heringsdorf zubringen. Tante Bertha geht es jetzt recht gut, Juliush wird mit den Kindern nächstens einen Ausflug über Magdeburg bis an den Harz machen. Aber das muß wahr sein, wir haben doch dieses Jahr einen ordentlichen Sommer, wir wißen wieder, was Sommerhitze heißt. Dennoch ist sie hier in Berlin nicht unerträglich zu nennen. Jetzt geht alles auf Reisen. Täglich fahren eine Menge Droschken nach dem Anhaltschen und Potsdamer Bahnhof, nach Süden und Westen. – Nun laß uns bald etwas von Dir hören

Dein Alter Hkl.

a gestr.: gegen; b gestr.: Neuen; c eingef.: von; d gestr.: schon; eingef.: so; e eingef.: nicht; f gestr.: west; g gestr.: Dich: g gestr.: sie; eingef.: Julius

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
06.07.1857
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35981
ID
35981