Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, [Berlin, 28. Dezember 1866]

Mein lieber Ernst!

Wir leben jetzt hier in den Weihnachtsfeiertagen, in den kürzesten Tagen des Jahres. Da wird es früh um 8 Uhr Licht, und Nachmittags um 4 Uhr dunkel, keine hübsche Zeit. Ich gehe täglich 2 mal spatzieren, einmal früh um halb 9 bis halb 10 Uhr und Abends von halb 6 bis halb 7 Uhr im Thiergarten bei Laternenschein, Abends bis zum Hofjäger. Vormittags von 10 Uhr bis gegen 2 Uhr lese und studiere ich, eben so Abends von 7-9 Uhr. Von 9 Uhr ab Thee und Triktrak, gegen 10 Uhr wird schlafen gegangen. Meine Studien treibe ich sehr ernstlich und zwar englische Geschichte von der Zeit nach Christus bis in die neueste Zeit. Da habe ich mehrere Quellen zu studiern: MacAulay, Ranke, Friedrich v. Raumer und Dahlmann. Diese vergleiche ich dann und rekapitulire die Hauptresultate, so daß ich einen Extrakt der englischen Geschichte aus diesen Quellen zusammenstelle, der mir gute Übersicht gewährt. Die englische Geschichte ist sehr interessant. Dieses Volk hat furchtbare innre Kämpfe durchmachen müssen, die aber zuletzt vortreffliche Resultate geliefert haben. Aus ihnen ist die constitutionelle Monarchie entstanden, die nun endlich auch in Deutschland Wurzel gefaßt hat. Das englische Volk ist aus Kelten, Normannen und Angelsachsen zusammengesetzt, die sich allmählich ganz verschmolzen haben. Ihre Insularlage hat sie zu Schiffahrt und Handel geführt und durch sie ist vielen Völkern des Erdballs geistige Kultur zugeführt worden. So haben sie allmählich ganz Ostindien erobert, während die südlichen Völker Europas Portugiesen und Spanier das südliche Amerika in Besitz genommen haben. Nordamerika ist durch englische Emigrationen kultivirt worden. Hier wächst europäische Bildung und bildet einen Staat nach dem andern. – Indem mich so das Studium der Geschichte und Geographie belebt, rükt das Ende meines irdischen Lebens immer näher. Die neuesten Ereigniße des letzten Jahres haben indeß so ungeheure Resultate geliefert, daß ich gern noch einige Jahre leben möchte, um die weitere Entwikelung zu sehn. Norddeutschland ist nun erst zu einem selbstständigen Staat geworden, während es Jahrhunderte zersplittert und meist ein Instrument des Auslandes besonders Österreichs geworden war. Das wird nun anders werden und Norddeutschland wird nun als unabhängiger selbstständiger Staat unter den übrigen Staaten Europas da stehen. ||

Wir haben von Gegenbauer Deine Beschreibung der Ersteigung des a Pik’s von Teneriffa erhalten. Diese ist ja ungemein intereßant, aber auch gefahrvoll gewesen. Es ist doch dort ein schönes Klima, was Dir sehr munden wird. Nun genieße es recht und kehre zum Frühjahr nach Europa zurük. Du wirst manches verändert finden, Dein Bruder Carl mit seinen 8 Kindern verwaist, Tante Adelheid Sethe in Potsdam todt. Doch sind die Kinder schon erwachsen. Der jüngste Sohn Julius wird Anfang Januar nach Buenos Airesb gehn, wo er schon Oncle’s und Tanten findet. Dort mag er versuchen, wie sichs unter den Nomaden lebt, er findet dort Philipp Bleek, Auguste verwitwete v. Post, geb. Bleek, dann den Theologen und Geistlichen Hermann Bleek. Sie bilden zusammen eine deutsche Colonie, und mögen nun auch ihrerseits europäische Kultur verbreiten. – Vor einigen c Wochen war Max Schultze aus Bonn hier, er hatte sich eben Dein Buch von Georg Reimer geholt und war sehr erbaut davon. Er hat in diesen Tagen einen Sohn verlorn. – Gegenbauer schrieb uns, daß er diese Feiertage nach Würzburg reisen und sein Töchterchen besuchen wolle, die in sehr anzieht. Nun er wird sie wohl, wenn sie mehr herangewachsen, wieder zu sich nehmen und sich dadurch eine Häuslichkeit bilden. –

Morgen kommt Carl auf einige Tage zu uns und bringt seine 5 ältesten Kinder mit, die 8 Tage bei uns bleiben sollen. Carl kehrt schon Dienstag zurük, wo seine Schwiegermutter Minchen zurükgeblieben und inzwischen über die 3 jüngsten Kinder die Aufsicht führt. Idee von Vater, F. S. O. für die Aufsicht über die Kinder sehr gut, und bedarf nicht Mutter Minchens Hülfe.c

Sobald ich mit meiner englischen Geschichte zu Ende bin, will ich mich über Dein Buch hermachen und sehn, ob ich etwas davon zu verstehen vermag. Für heute genug, mein lieber Ernst, nächstens mehr. Hoffentlich kehren manche Schiffe aus America über die canarischen Inseln zurük, so daß wir manchmal Nachricht von Dir erhalten. Dein Dich liebender Vater

Haekel ||

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

Wie wird mein Ernst das Weihnachtsfest zugebracht haben? Möge das Neuejahr ein recht glückliches für Dich sein. Gott gebe Dir viel Gutes, und mögest Du wieder eine glückliche Häuslichkeit gewinnen, das ist mein sehnlicher Wunsch. ‒ Bertha schickte mir für Dich beifolgenden Brief; für mich ist darin vieles in Räthsel gesprochen; ich wollt ihn Dir aber doch schicken, und habe nur das überflüssige Papier abgeschnitten und das große Siegel entfernt, um es nicht zu schwer zu machen. ‒ Karl hat uns zu Weihnachten von sich mit den Kindern solche Photographie geschickt, wie Du bekommen hast, ich habe mich sehr darüber gefreut. ‒ Gestern Nachmittag war Frau Professor Weiß hier, die Dich schön grüßen läßt. ‒ ||

Nun, leb wohl, mein lieber Herzens Sohn, schreibe uns ja, so oft Du kannst, geniesse die schöne Natur um Dich, aber sorge auch für Deine Gesundheit. ‒ Mit der innigsten Liebe umarmt Dich Deine Mutter Lotte.

a gestr.: Pick; b irrtüml.: Buenos Eures; c gestr.: Tagen; d mit Einfügungszeichen von Charlotte Haeckel eingef.: Idee von Vater... Mutter Minchens Hülfe.; e Weiter am Rand v. S. 2: um Dich, aber...Deine Mutter Lotte.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
28.12.1866
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35958
ID
35958