Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 12./13. April 1864, mit Nachschrift Charlotte Haeckels

Berlin 12 Aprill 64.

Lieber Ernst!

Deinen Brief vom 5ten haben wir vor einigen Tagen erhalten und daraus zu unsrer großen Beruhigung ersehen, dass du ruhiger und zum Arbeiten fähig geworden bist, was dein Gemüt sehr beruhigen wird. – Wir haben hier in den letzten 8 Tagen sehr unruhig gelebt. Der Tod vom Geh. Rath Kühne hatte mich sehr in Anspruch genommen. Am Sonnabend den 2 Aprill gieng ich zum letzten Mahl mit ihm im Thiergarten früh spatzieren. Der 3ten war Sonntag, wo ich in die Kirche gieng. Er gieng also allein, kehrte gegen 10 Uhr in seine Wohnung zurük, wo ihn der Schlag rührte und er nach 3 Stunden sanft entschlief, ein schöner Tod, wie ich mir ihn auch wünsche. Seine Verwandten baten mich nun mit Sydow Rüksprache zu nehmen wegen der Rede am Sarge in seiner Wohnung. Sydow gieng darauf ein und es kam nun darauf an, ihn mit Materialien zu einer Skizze seines Charakters zu versehen, die ich mit den Verwandten zusammen entwarf. Er hatte bei einem etwas schroffen Aeußeren doch unendlich viel Gemüth, war durchaus gerecht, bescheiden und in seinem innern Wesen milde, ein durchaus wahrer Mensch, der in den höchsten Regionen furchtlos und rüksichtslos seine Meinung zum Besten des Staats äußerte, mochten sie nun gefallen oder nicht, dabei aller Servilität abhold und scharf gegen schlechte Naturen, die er sich vom Leibe hielt. Er hatte wohl seit 60 Jahren keine Kirche besucht, hatte aber doch ein für Religion sehr empfängliches Gemüth. Dieses griff Sydow in seiner Trauerrede im Hause am Sarge, wo wenigstens 50 höhere Beamte, auch Deputirte versammelt waren, heraus und schüttete sein Herz gegen gegen den Orthodoxismus aus, der lieblos anders Denkende verurtheilt, er wies nach, daß man ein guter Christ sein kann, ohne in die Kirche zu gehn und daß Kühne die wahrhaft christlichen Tugenden in hohem Maße geübt habe. Es erschien auch nicht ein Orthodoxer in der Versammlung und diesen wird die Rede wenig behagt haben. Er charakterisirte den Verstorbenen sehr gut, Kühne war ein sehr wißenschaftlich und politisch gebildeter Mann, von großen Kenntnißen, Erfahrungen im Finanzfach und ausgezeichnetem Verstande, der dem Staat große Dienste geleistet hat. In der Kammer galt er in Finanzsachen als Autorität, wenn sie ihn auch in der letzten Zeit in politischen Dingen zu nachgiebig fand und er bei der letzten Wahl deshalb nicht wieder gewählt wurde. Wir hatten uns || sehr an einander gewöhnt und er wird mir sehr fehlen. Ich muß nun meine Frühpromenaden allein machen. So ist jetzt ein Schlag nach dem andern gekommen und diese Schläge haben mich ganz aus meinem gewöhnlichen Gleise gebracht. Die Welt ekelt mich an und ich möchte am liebsten bald abschließen und den Verstorbenen folgen und doch muß ich abwarten, bis mich Gott abrufen wird und muß solange ich lebe, mich auch in dieses Leben zu finden suchen. Denn das habe ich auch in den letzten 2 Monaten gelernt. Man muß entweder das Buch ganz zu machen und stier und kalt in die Welt hineinsehn. Dann hört aber alle Wirksamkeit aufa und man verliert allen Lebenszwek oder man muß sich, solange man hier ist, mit dem Leben zu befreunden suchen. Das ist recht und vernünftig. Gott hat nun mal diese Erdenwelt so geschaffen und es muß in dem Plan der göttlichen Weltordnung liegen, daß diese Erdenwelt grade so ist, wie sie ist. Dabei läßt sich doch, wenn man die Sache ruhig ansieht, ein geistiges Leben in dieser Welt und auch ein Fortschritt in der Entwikelung der Menschheit nicht verkennen, nur wird er allerdings in gewissem Grade immer irdisch bleiben und wir werden in jener Welt eine andre neue geistige Entwikelung beginnen, inb welche unsre Anna jetzt eingetreten ist. – Mimi ist seit dem 2ten hier und wird den 19ten nach Landsberg zurük mit den 4 noch hier gebliebenen Kindern. Mutter Minchen will schon übermorgen nach Frankfurt zurük. Wir sind in der Familie fast täglich zusammen, Eltern, Tanten und Geschwister und so können wir uns recht aussprechen. Das thut uns wohl. Wenn wir auch den Kopf nicht ganz sinken laßen, so ist doch unsre verstorbene Anna unsre stete Begleiterin und in einsamen Stunden werden ihr unsre Thränen geweiht. Heute besuchte uns die Geheimräthin Seebeckc aus Jena. Sie wünschte Nachrichten von Dir zu haben und wir konnten sie ihr mittheilen. Sie geht in wenigen Tagen nach Jena zurük. Wir denken unsre Reise so einzurichten, daß Du uns am 1sten Feiertag in Jena findest oder daß wir in Apolda zusammentreffen. Wir erwarten hierüber noch nähere Nachricht von Dir.

Ich selbst beschäftige mich viel mit theologischer Lektüre über die Entwikelung der Evangelien und über die Person Christi, denn diese Fragen werden von denkenden Theologen jetztd historisch sehr scharf erörtert, auch ich suche mich darüber aufzuklären, obwohl mein Glaube || und meine Ueberzeugung über das Wesen des Christentums fest steht. Es hat in das innerste unseres Herzens getroffen, das tiefste Gemüth fühlt sich dadurch befriedigt, dadurch ist es welterobernd geworden und dadurch hat es die Menschheit umgestaltet. Die orthodoxen oder heterodoxen Zänkerein sind hirvon ganz getrennt und berühren das Gemüth nicht. Wenn ich jetzt am Abend meines Lebens nicht die feste Ueberzeugung von der Fortexistenz des innern Kerns unsrer geistigen Individualität hätte, so möchte ich gar nicht existiren. Mit dieser Ueberzeugung kann ich auch das elende Getriebe der irdischen Welt ertragen. Trotzdem bin ich nicht etwa stumpf gegen das, was in der Welt geschieht, ich nehme lebhaften Antheil an dem Kampfe in Schleswig Holstein, welche Theilnahme hier und in Deutschland allgemein ist und die Weltgeschichte wird spätere alle Machinationen einer elenden Diplomatie zu Schanden machenf, wenn die Sache auch jetzt einen schlechten Ausgang nehmen sollte. Eben so nehme ich an unsern innern constitutionellen Kämpfen den lebhaftesten Antheil. Die Sachen werden dennoch vorwärts gehen trotz aller Bemühungen von oben, das rege gewordne Leben zu erstiken. Aber zu alle dem gehört Zeit und Geduld. In wenigen Jahren kommt so etwas nicht zu Stande, man muß hier nach Generationen rechnen. Ich selbst habe es seit 50 Jahrn erlebt, daß alles, was man hat rükgängig machen wolln, dennoch vorgeschritten ist und wir haben seit 50 Jahrn große Fortschritte gemacht; und wie sind die Wißenschaften vorgeschritten, wie ist uns das Leben der Natur und der lebenden Geschöpfe viel klarer geworden, wie ganz anders sehen wir Natur und Geschichte an als vor 50 Jahren! Studire mir also immer fort, aber vergiß nicht, daß die Naturgesetze, nach denen sich die irdische Welt entwikelt, von einer göttlichen Weltordnung ausgegangen sind, g die ewig ist und bleiben wird! Vergiß nicht, während Dein Verstand fortschreitet, auch Deinem Gemüth Rechnung zu tragen. Dieses ist die andre große Hälfte des menschlichen Wesens. – Wir haben hier im Aprill noch sehr kalte und abwechselnde Witterung gehabt, jetzt scheint sich endlich der Frühling auch allmählich geltend machen zu wollen. –

Den 13ten Aprill. – Wenn ich so sehe, wenn ein Mann wie Alexander Humbold durch seine Reisen und Entdekungen so wesentlich über diese Erde aufgeklärt hat, wie ferner sein wohlwollendes Gemüth die Freiheit liebte, um durch sie die Menschheit zu veredeln, so habe ich da ein Exemplar vor mir, das doch der Mühe werth war, existirt zu haben. || So trage denn jeder nachh seinen Kräften dazu bei, die Menschheit zu veredeln. In mir wohnt ein unauslöschlicher Trieb nach Freiheit, die nach meinen Erfahrungen und historischen Studien nur in einem wahrhafti constitutionellen Staate realisirt werden kann. Die Völker dürfen nicht mehr als Spielzeug schwacher Fürsten oder als Instrument für die Selbstsucht aristokratischer Kasten behandelt werden, sie sind Selbstzwek und die Zeit ist in den letzten 80 Jahren ungeheuer vorgeschritten um sie selbstständiger zu machen. Es lohnt wohl, für die Freiheit in diesem Sinne zu leben und für die Fortentwikelung des menschlichen Geschlechts zu leben. Trage Du nun auch das Deinige dazu bei, indem Du die Menschen immer mehr über die Natur und die Geschöpfe, die darin leben, aufklärst. Verzweifle nicht an j einer würdigen Bestimmung der menschlichen Existenz, so wirst Du nicht umsonst gelebt haben. –

Mit der Belagerung der Düppler Schanzen in Schleswig geht es jetzt vorwärts. Dieser Feldzug ist für uns Preußen sehr wohlthätig, wir machen darin manche Erfahrung, unsre Armee Corps, die wir dort haben, müßen ungeheure Strapazen ausstehen, da das Wetter sehr ungünstig gewesen ist. Selbst hier bei uns ist es noch sehr veränderlich. Ich habe heute meinen Morgenspatziergang ganz allein machen müßen, was mir sehr wehmüthig war. Ich gehe mit Mutter sehr gern zu Dir nach Jena, dort wollen wir Dir nach allen unsern Kräften behülflich sein, das Du wieder ins Gleis kommst, unsre elterliche Liebe soll Dich trösten und da wollen wir gemeinschaftlich unsrer geliebten Anna gedenken, es hat uns recht wohl gethan, uns jetzt im Kreise unsrer nächsten Verwandten recht über Anna aussprechen zu können und darin theilnehmende Herzen zu finden.

Daß ich mich in unserm neuen Quartier so behaglich finde, thut mir außerordentlich wohl, denn die Neigung viel zu Hause zu bleiben und mich von der Welt möglichst fern zu halten, ist bei meinem Alter im Zunehmen begriffen, die Natur aber spricht mich unvermidert wohltätig an und da habe ich den Thiergarten und die Promenaden am Kanal hin nach dem Zoologischen Garten, wohin Du öfters mit Anna giengst so in der Nähe und ich kann Eurer gedenken. A Dieu, mein lieber Herzens Ernst, schreibe ja fleißig. Auch von Carl haben wir heute Briefe, aus dem Bau wird wohl schwerlich etwas werden, wir wollen ihm aber behülflich sein, daß er eine geräumigere Wohnung erhält, worin er mit Mimi und den Kindern gemächlicher leben kann. Hoffentlich werden wir ihn im September besuchen, Du mit und dann gehn wir zum October hirher, wenn es Gott gefällt.

Dein Dich innigst liebender Alter

Vater Haekel

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

Mit der innigsten Liebe umarmt Dich Deine Mutter

Lotte.

a eingef.: auf; b eingef.: in; c irrtüml.: Sebeck; d eingef.: jetzt; e eingef.: später; f gestr.: machen; g gestr.: und; h gestr.: aus; eingef.: nach; i eingef.: wahrhaft; j gestr.: der tie;

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
13.04.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35947
ID
35947