Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 5. Februar 1864

5 Febr. 64.

Mein lieber Ernst!

Es ist wohl Zeit, daß Du und Anna wieder etwas von uns erfährst.

Seit 8 Tagen bin ich unwohl. Als das Wetter umgeschlagen war und die Kälte aufgehört hatte, hatte ich beim Ausgehn den Pelz abgeworfen und mich nur mit meinem leichten Ueberzieher gedekt und mich dabei sehr erkältet, so daß ich einen sehr starken Husten und Schnupfen bekam, die ich noch nicht los geworden bin und mich beinah 8 Tage zu Hause gehalten haben. Das ist mir sehr unangenehm, da ich der täglichen Bewegung im Freien nur sehr ungern entbehre und mir das Stubenhoken sehr zuwider ist. Ich gehe wohl, wenn das Wetter erträglich etwas aus, muß mich aber Abends zu Hause halten und muß das Collegium bei Barth versäumen, was ich sehr ungern thue. Am Sonntag Mittag waren wir bei Barth, deßen Schwester aus Hamburg einige Tage hier war und wo auch General Beyer und Sohn, und die Weiss waren, es war recht hübsch. Am Tage liege ich meist auf dem Sopha und lese Geschichte (jetzt die des römischen Kaiserreichs von Weber in Heidelberg). Dieser Zeitraum in der Geschichte ist höchst intereßant, eine untergehende Welt, die 1000 Jahr gedauert und sich nun überlebt hat. Ich bin keineswegs ein Verächter der alten griechisch römischen Bildung, die viel Schönes aufzuweisen und immer ein Glanzpunkt der Menschheit bleiben wird. Besonders achte ich die griechische Philosophie, vor allem Sokrates, der schon die Einheit Gottes erkannte und Christo am nächsten kam. Aber in dem göttlichen Weltplan liegt es, auch die verschiednen Menschheitsperioden abzutheilen und die Menschheit durch mehrere Erscheinungen durchgehen zu laßen. Für die Civilisation der ganzen Menschheit ist das Christenthum entscheidend geworden, es hat erst den einzelnen Menschen frei gemacht und ihm dadurch seine geistige und sittliche Ausbildung gesichert, das Alterthum war da immer zu einseitig. Eben so wenig weiß ich etwas mit den vielen Göttern anzufangen, ich kenne nur Einen Gott, der das ganze Universum durchweht, nach dessen Rathschluß sich das Ganze entwikelt. || So hat sich auch das Christenthum immer mehr abgeklärt, die Orthodoxie ist zur Nebensache geworden, nur der religiös sittliche Geist, den allerdings auch die Alten schon kannten, ist siegend hervorgetreten, und zwar immer reiner und klarer. So erweitert sich das Menschengeschlecht immer ausgedehnter in seiner geistigen Existenz und die Nebel werden immer mehr verschwinden. Beim Lesen der Geschichte war mir vorzüglich auffallend das Heraustreten der noch unverdorbenen germanischen Völker, welche den alten Plunder der Vielgötterei nicht erst wegzunehmen brauchten, sondern bei ihrer naiven Unverdorbenheit den reinen Sinn des Christenthums am leichtesten aufzunehmen geeignet waren. Da bin ich nun unter die Goten und Sarmaten im südlichen Rußland an der Donau, dem Don und der Wolga gerathen. Wie viel Jahrhunderte mögen vergangen sein, ehe diese Völker so herangewachsen waren, daß sie in großen Maßen das Christenthum in sich aufnehmen konnten und so sollten diese Völker sich über die schönsten Länder Europas verbreiten, um neue Kultur herrschend zu machen. Da stehen wir nun vor der verschloßenen Vergangenheit und zerbrechen uns die Köpfe über die menschliche Entwikelung. Als diese sich in Europa ausgebreitet, wurde nach 1500 Jahren die andre Erdhälfte aufgeschloßen, um diese Entwikelung dahin zu bringen. So mißt die Geschichtea nach Jahrtausenden, um ihre Werke immer mehr zu vervollkommnen. Da lernt man wohl still halten, wenn es in der Gegenwart nicht so schnell gehen will, als man wünscht. Der Strom wird schon weiter fortrollen, wenn er auch Hinderniße findet und es scheint in den Plänen der Vorsehung zu liegen, die Regierenden eine Zeit lang blind zu machen, um die entgegenwirkenden Kräfte allmählich immer mehr zu stärken und sie zum Durchbruch geeignet zu machen.

– Wir, Mutter und ich, leben an den Abenden ganz still für uns, lesenb uns etwas vor und beschließen dann die letzte Stunde vorm Schlafengehen mit einem Triktrak. – Die Nachrichten aus Schleswig werden hier sehr verschlungen, da so viele Bekannte aus den nächsten Umgebungen mit in Schleswig (das 35ste, 60ste Regiment) lauter Märker. Wenn aus allen diesen Geschäften nur politisches Elend hervorgehen sollte, so wird sich die Un||zufriedenheit aufs äußerste steigern. Man scheint oben zu glauben, man habe es nur mit einer gedankenlosen Maße zu thun, die man nach absolutistischer Lust und Belieben hin schiken könne, wohin man wolle. Man vergißt aber, daß in Preußen die Armee nicht einc blind dreßirtes Werbe Corps, das für Sold dient, sondern ein wesentlicher Bestandtheil des Volks ist, das zwar folgt, wenn es gerufen wird, aber zuerst darnach frägt: Wofür es sich schlägt? Man kann im 19ten Jahrhundert die Kriege nicht mehr führen, wie im 18ten, wo das Werbesystem das Entscheidende war. In welcher Weise sich die Dinge entwikeln werden, weis man allerdings noch nicht. Aber die Zeit wird nicht auf sich warten laßen.

Ich freue mich sehr, daß wir nun schon den Februar erreicht haben, 2 Stunden länger Tag, die kurzen Tage sind mir zuwider, – Wir denken täglich vielmahl an Dich und Anna und fragen uns immer, wie es Euch gehen wird. Aus Landsberg haben wir in den letzten Tagen keine Nachricht. Tante Bertha ist mit einer großen Lotterie für Schleswig-Holstein beschäftigt, die wohl an 1500 ₰ eintragen wird. Sonst wüßte ich heute nichts mitzutheilen.

Euer Alter Hkl

a korr. aus: Gesich; b irrtüml.: leben; c korr. aus: eins

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
05.02.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35933
ID
35933