Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 26. März 1864, mit Nachschrift Charlotte Haeckels

Berlin Sonnabend 26 Maerz 64.

Mein lieber Herzens Ernst!

Gestern früh erhielten wir Deinen Brief aus Villafranca, also am 4ten Tage früh nachdem Du ihn geschrieben hattest. Auch Dein Brief von Mentone ist vor 8 Tagen eingegangen. Es ist doch eine traurige Wirthschaft in Italien mit den Briefen. Der nach Genua, den Du nicht erhalten, war so deutlich addreßirt, daß die Addreße nicht schuld daran sein kann, wenn die Post ihn Dir nicht ausgehändigt. Hoffentlich ist in Frankreich mehr Ordnung, so daß Du die Briefe richtiger erhältst. In dem letzten, den wir vor 6 Tagen absendeten, war zugleich eine Abschrift eines von Darwin an Dich eingegangen Briefes, deßen Original hier wir für Dich aufheben. Hoffentlich wirst Du ihn jetzt haben.

Daß Du Dich jetzt grenzenlos elend fühlst, ist ganz in der Ordnung. Es war mit mir damals nach Emiliens Tode derselbe Fall. Die Welt ekelte mich an und die Nichtigkeit des bloß irdischen Lebens war das Grundgefühl, was mein Herz bewegte. Ich glaubte in dem ersten halben Jahre nach Emiliens Tode nicht fortexistiren zu können und das war auch richtig, wenn der Zustand so geblieben wäre. Aber Gott hat die menschliche Natur so eingerichtet, daß sie sich allmählich wieder zurecht findet, a daß man wieder existiren kann. Aber wehe denen, die aus solcher Katastrophen nichts zurükbringen, als die vorige Weltanschauung, b die dann wieder, wenn etwa 1 Jahr vergangen, in alter Art fort zu leben pflegen und die wohl gar noch Zerstreuungen suchen, um in das alte Schlaraffenlandleben baldmöglichst zurükzukehrn. So war es bei mir nicht, es gieng vielmehr in dieser Schmerzenszeit in meinen Innern eine große Veränderung mit mir vor, die sich bis auf den heutigen Tag nicht nur erhalten, sondern immer mehr in mir entwikelt hat. Ich war allerdings an eine tüchtige Thätigkeit gewöhnt, und sie war ganz dem politischen Leben gewidmet, dabei trieb mich aber der Ehrgeiz und ich kann wohl sagen, daß ich von diesem äußern Streben fast gänzlich curirt wurde und das fast nichts zurükblieb, obwohl ich mich fortdauernd dem Staatsleben widmete. Eine andre große damit zusammenhängende Veränderung und zwar die größte war die, daß mein religiöses Gefühl, welches seit meinem Abgang auf die Universität allmählich eingeschlummert war, wieder in mir wach wurde und sich bis heute fortentwikelt hat. Ich sehnte mich nach meiner verlorenen Geliebten, es wurde mir ganz klar, daß dieses Erdenleben nur ein nothwendiger Durchgangspunkt sei und daß wir unser Erdenleben so einzurichten haben, um den göttlichen Funken in uns, der von der Gottheit ausgegangen und ewig ist, immer mehr zu beleben und uns so für ein höheres Leben vorzubereiten. Dieser Sinn für das Ewige ist mir geblieben und jetzt, wo ich zu hohem Alter gelangt bin und an der Schwelle des Grabes stehe, sehe ich mit der unumstößlichsten Zuversicht einem höhern individuellen Leben entgegen, ganz entgegengesetzt Deiner jetzigen momentanen Ansicht, die wahrhaft krankhaft ist, so daß Du zum Faust, dieser menschlichen Misgeburt, die auch Göthe als solche dargestellt hat, Deine Zuflucht nimmst. Denn der ganze Faust ist ohne Glauben und Gemüth und darum endigt er damit, daß er zuletzt sich dem bloßen Sinnengenuß ergiebt und sittlich untergeht. Nur Dein augenbliklicher großer Schmerz macht es erklärlich, daß Du ihn auch nur einen Augenblik beachten und seinen gottlosen Träumereien auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenken konntest. Das Innre des Menschen besteht aus 2 Hauptelementen, aus Verstand und Gemüth. Der Verstand ist ein bloß dienendes Glied, je nach dem der Mensch dem Höheren oder dem Niedern zugewendet ist. Er dient ebenso Gott, wie dem Teufel. Du wirst mir erwidern: Aber auch der Wißenschaft, und ich antworte Dir: Auch die Wißenschaft ist ohne wahren Gehalt, wenn sie nicht das Ewige aus der Weltordnung herauszufinden weiß. Das Ewige aber meinst Du: besteht in einer fortdauernden Verwandlung der Geschlechter und Erscheinungen, wobei das Individuum nicht in Anschlag kommt, es ist nur dienendes Glied in den ewigen Verwandlungen. Ich antworte Dir aber: In jedem menschlichen Individuum ist ein göttlicher || Funke, mag er noch so tief im Verborgenen schlummern und bei vielen hierc nicht zur Entwikelung gelangen. Die Entwikelung in jenem Leben ist für uns hier ein verschloßenes Buch. Damit wir aber dennoch nicht daran verzweifeln, hat uns Gott das Gemüth, den Glauben gegeben. Dieser ist ebenso unumstößlich, wie die mathematischen Sätze des Verstandes. Dieser Glauben hat Millionen von Menschen unter den größten Leiden durch dieses Leben durchgeholfen und sie sind mit Freudigkeit dem Märtyrerthum und dem Tode entgegen gegangen. Das ist etwas anderes als eine Faustische Misgeburt, die mit dem sittlichen Untergang endet. Diese Deine jetzige momentane Stimmung führt mich auf die Einseitigkeit Deines Entwikelungsganges zurük, auf die ich Dich schon früher öfters aufmerksam gemacht habe. Ich verlangte schon als Du auf der Universität warst, Du solltest auch Philosophie studiren. Das hast Du nicht gethan, und dieses rächt sich jetzt. Sonst würdest Du nicht auf Faustsche Sprüche gerathen sein und Dich damit zu beschäftigen gesucht haben. Der Profeßor Weisse aus Leipzig, der Neveu von der Weiss ist jetzt hier. Ich sprach mit ihm von der Einseitigkeit der Naturforscher und wie sie, trotz dem sie täglich die göttliche Weltordnung anschauen, dennoch dem religiösen Gefühl fern blieben. „Hat Ihr Herr Sohn Philosophie studirt?“, fragte er. Ich mußte es verneinend beantworten. „Da sitzt der Knoten: das philosophische Studium würded ihm ein Gegengewicht gegeben haben“ sagte er. Herr Weisse ist ein sehr philosophischer Kopf und zugleich Theologe. Er ist durch die Philosophie zur Erkenntniß des wahren Christenthums gelangt. Ich habe mit ihm heute bei der Weiss ein langes, für mich sehr lehrreiches Gespräch gehabt. Er hat sich unter Benutzung der großen Fortschritte, die jetzt die Interpretation des neuen Testaments auf wißenschaftlichem Wege gemacht hat, ein ganz vollständiges System über die Erklärung der Bibel, welche den Orthodoxen ein Gräuel ist, gebildet, aus welchem zuletzt Christus als der Vollständigste Repräsentant des Göttlichen im Menschen hervorgeht und Du würdest in Erstaunen gerathen sein, wenn Du diesen ganz durchgebildeten Rationalisten über die Person Christi hättest sprechen hörn. Ich theile Dir dieses mit, damit Du siehst: wie die Philosophie auch die Theologie geläutert und auch hier ein Gegengewicht gegen theologische Versumpfung gebildet hat. Ueber alles dieses müßen wir mündlich mehr sprechen. Vor allem aber fühle ich, der ich im Innern vieles durchlebt habe, e mich verpflichtet, Dir die Einseitigkeit Deines Treibens vorzuhalten, das grade zu der trostlosen Dürre führen muß, in welcher der Mensch verschmachtet. Gott hat dem Menschen ein Gemüth und den Glauben gegeben, Du hast noch bis heute ein kindliches Gemüth bewahrt, wie Dein ganzes Verhältniß zu Anna gezeigt hat. Dieses Gemüth mußt Du kultiviren, das wahrhafte Verständniß des Christenthums in seinem innersten Kern wird Deinem gebrochenen Gemüth Kraft und Labsal geben. Schon Plato und Sokrates haben darauf hingedeutet. Auch sie weisen auf das Ewige im Menschen, auf die göttliche Weltordnung hin, vermöge derer sich in diesem irdischen Leben das Göttliche im Menschen nur unvollkommen, in einer andern Welt sich aber vollkommen entfalten wird. In seiner innersten Tiefe, im vollsten Bewußtsein der göttlichen Natur des Menschen hat dieses Christus erkannt. Die Unvollkommenheit dieser irdischen Welt ist eine göttliche Anordnung, in die wir uns fügen müßen. Aber Gott wohnt in Allem und überall, er ist auch der Quell der Naturgesetze und indem wir diese erforschen, soll sich gleichzeitig das Gefühl für die göttliche Weisheit bewundernd entwikeln.

Ich breche heute hier ab, weil ich Dir in den nächsten Tagen wieder zu schreiben gedenke, um Dir in Deinem Schmerz beizustehn. Gehe also nach einigen Tagen wieder auf die Post. Inzwischen ist dann Carl hier gewesen, der Dir wahrscheinlich mit schreiben wird. Dein Dich liebender alter Vater

Haekel.

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

x in Gemeinschaft zu bleiben. Schreibe bald darum bitte Deiner alten Mutter.

Gott sei mir Dir. ‒f

Deine alte Mutter.

a gestr.: und; b gestr.: denen; c eingef.: hier; d gestr.: gesta; eingef.: würde; e gestr.: ver; f weiter am Rand v. S. 2: Gott sei mit Dir.‒

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
26.03.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35930
ID
35930