Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 31. März 1864, mit Nachschrift Charlotte Haeckels

Berlin 31 Maerz 64.

Mein lieber Herzens Ernst!

Wir haben recht unruhige 8 Tage gehabt. Am 23sten zogen wir um und nun gieng es ans Auspaken. Sonntag Abend den 27sten kam Carl mit den beiden Jungen und nun ist er heute früh wieder abgereist und hat die Jungen hier gelaßen. Uebermorgen Abend (den 2 Aprill) erwarten wir Mimi mit den Kinderna, die 14 Tage bei uns bleiben wird. Ich bin in den vorigen Tagen mehrmals bei der Weiss gewesen, wo ich den Profeßor Weisse aus Leipzig gesprochen. Gestern Mittag war er mit der Weiss und Richter bei uns zu Mittag und gestern Abend hatte sich Carl mehrere Freunde hergebeten und auch Profeßor Bahrd, der Dich herzlich grüßt, kam dazu. So haben wir es also sehr unruhig gehabt. Jetzt sind wir mit dem Auspaken aus dem gröbsten heraus und sowohl Mutter als ich sind mit dem neuen Quartier sehr zufrieden, es ist viel bequemer als das alte. Mutters Zimmer und das meinige, beide neben einander, jedes mit besonderm Eingange, sind sehr behaglich und das daran stoßende Eßzimmer kommt uns sehr zu gut, auch das Balkonzimmer nach hinten heraus kann sämtliche Landsberger aufnehmen. Somit hätten wir den unruhigen Umzug, der uns 8 Tage zum Einpaken und 8 Tage zum Auspaken gekostet, überstanden und wir können nun wieder in gewohnter Art fortleben. Wir haben nun bis zum Ende Aprill über 4 volle Wochen und wünschen daß Du auf ein Paar Tage herkommst und dann mit uns nach Jena gehst. Bei aller Unruh, die mehr die Mutter und die beiden Mädchen traf, habe ich viel gelesen. Ich bin nehmlich durch die Gespräche mit Weisse und durch das neue neueste Werk von David Strauss, durch Vorträge von Sydow etc. ganz in die Geschichte der Entstehung der Evangelien hineingerathen und habe mir gestern noch einige Schriftchen bestellt, die die Resultate deßen, was in den letzten 20-30 Jahren die forschenden Theologen zusammen b herausgebracht, zusammengestellt haben. Eine Schrift von Schenkel „Charakteristik Jesu“ hat viel Aufsehen gemacht und schon mehrere Auflagen erlebt, die will ich jetzt lesen. David Strauss hat mich durchaus nicht befriedigt, sondern vielmehr abgestoßen. Renan, obwohl er die Person Christi nur als Schwärmer und also unrichtig aufgefaßt, hat dagegen dem Christenthum, welches er als die wahre Religion aufgefaßt, alle Anerkennung in würdiger Weise zukommen laßen. Du wirst sagen und Dich fragen: wie ich mich so eifrig und ernsthaft mit diesen Dingen abgeben kann? Das hat aber einen tiefern Grund. || Die Person Christi und die Ächtheit seiner Aussprüche und Ansichten sind mir von größtem Werth. Ich will außer meinem Gewißen und Ahnungen noch eine Autorität haben, auf die ich bauen kann und die sich in der Weltgeschichte bewährt hat. Ich will die Gewißheit des ewigen Lebens bestätigt haben und der Tod unsrer geliebten Anna hat mich aufs neue wieder auf das lebhafteste daran gemahnt und ich finde diese Gewißheit durch die Person Christi und durch das, was er gelehrt hat, bestätigt, so daß ich mit Ruhe meinem Ende entgegensehen c kann. Ohne den Glauben an eine künftige Fortexistenz unseres persönlich geistigen Bewußtseins vermag ich gar nicht zu leben. Ich stelle mir diese Fortexistenz keinesweges sehr irdisch vor, vieles was wir hier in unserm Bewußtsein getragen haben, wird abgestreift werden. Aber der Kern unseres Bewußtseins wird fortdauern und auf gleiche Art hoffe ich auch unsere Lieben, die uns vorangegangen sind, in vergeistigter Gestalt wieder zu finden. Mutter und ich denken immerfort an Dich und beten zu Gott, daß er Dich mit Glauben beglüken und Dir aus deinem jetzigen trostlosen Zustand einen Ausweg zeigen werde, denn so wie Du jetzt dieses Leben anschaust, ist es völlig werthlos und Deine ganze Liebe zu Anna ist nur eine Seifenblase gewesen, die geplatzt ist. Das widerstreitet völlig der Weisheit und Güte Gottes. Diese Deine Ansicht ist es, die uns so viel Kummer macht; da Du aber ein kindliches und liebevolles Gemüth hast, so können wir unmöglich glauben, daß jene Ansicht vorhalten könne. Sie ist nur ein Produkt deiner jetzigen Verzweiflung und Deine Eltern wollen Dir gern aus allen Kräften beistehen, um Dich wieder auf den rechten Weg zu führen. Darum wollen wir das nächste halbe Jahr ganz Dir widmen. ‒ Du mußt aber außer Deiner wißenschaftlichen Forschung auch Deinem übrigen Geiste und Deinem Gemüthe ihr begründetes Recht widerfahren laßen. Durchd Deine einseitigen Studien hat Dein übriger Geist völlig brach gelegen und nur Deine Liebe zu Anna hat ein Gegengewicht gebildet. Jetzt das Du Deine Anna nicht mehr zur Seite hast, mußt Du auch durch noch anderweite Studien, die Dir den Reichthum des menschlichen Geistes öffnen, jener Einseitigkeit ent-||gegen zu wirken suchen. Sokrates und Plato waren hierin sehr voraus und als Vorläufer des Christenthums zu betrachten.

Nun zu etwas Anderm.

Denke Dir gestern erhalten wir hier unsern Brief, den wir Dir nach Genua geschrieben, zurük. Nach den Postvermerken auf dem Couvert ist er den 9ten in Genua gewesen und über Turin dahin gegangen. e Auch ist Mentone (ausgestrichen) darauf. Sodann ist er am 23sten und 24sten über Bellinzona, Chur, St. Gallen, Friedrichshafen nach Berlin zurükgegangen. Hier hat ihn das Oberpostamt, da der Absender nicht zu ersehen war geöffnet und so ist er uns gestern wieder zugekommen, nachdem sie sich über den Absender vergewißert. Den Brief von Minchen, der darin gelegen, erhältst Du beiliegend, so wie einen Brief von Carl, den er gestern Abend geschrieben. Hoffentlich gehen nun die Briefe durch Frankreich ordentlicher. Bahrd kennt Villa Franca und meinte: es läge 1 Stunde von Nizza ab. Ist es etwa schon durch die neue schöne Chaussee, von der Du schreibst, mit Nizza verbunden? – Wir haben hier immer noch viel rauhen Wind gehabt, obwohl mitunter schönes Wetter und erst seit einigen Tagen fangen die Knöspchen sich an den Sträuchern zu zeigen. Wir sehnen uns sehr nach Frühlingswetter. Ich mache täglich meine Promenaden am Kanal und nach dem Thiergarten, wozu meine jetzige Wohnung sehr gelegen ist.

Wir erwarten nun, daß es mit den Düppler Schanzen Ernst werden wird und daß sie bald genommen werden. Aber es wird noch Blut kosten. Ueberall werden jetzt in den größern Städten Volksf Versammlungen gehalten, die durchaus die Abreißung Schleswig-Holsteins von Dänemark verlangen. Dazu gehört allerdings, daß die zu Schleswig gehörige Insel Alsen und Düppel genommen wird. Carl geht, wie Du vielleicht aus seinem Briefe ersehen wirst, damit um, sich ein Haus in Landsberg zu bauen. Wir haben in diesen Tagen die Sache hier besprochen und ich bin damit einverstanden. Nun A Dieu mein lieber Ernst, schreib uns ja recht bald.

Dein dich liebender Vater

Haekel.

[Nachschrift Charlotte Haeckels]

Alle Freunde und Verwandte grüßen Dich herzlich. Dir in Gedanken einen herzlich Kuß von

Deiner Mutter Lotte ||

Hoffentlich, mein lieber Ernst, bekommen wir bald von Dir wieder Nachricht; und hören, daß Du mit mehr Ruhe an Deine liebe Heimgegangene denken kannst; ich weiß es wohl, wie Du noch viel bittere, schwere Stunden haben wirst, daß Du die geliebte Frau nicht mehr fühlbar bei Dir hast; aber ihre Liebe wird Dich umgeben auf Deinem ganzen Lebensweg; was so innig verbunden war, wird nie wieder getrennt; und wenn Du erst so recht Dich damit vertraud gemacht hast, dann wird Dich das auch anspornen, immer so zu sein, wie Du ihrer würdig lebst, und der Gedanke an ihre Nähe wird Dich zum Guten stärken und Dir Kraft geben, Deinem Berufe hier treu zu leben.

a eingef.: mit den Kindern; b gestr.: getr; c gestr.: und; irrtüml. doppelt eingef.: sehen; d eingef.: Durch; e gestr.: Sodann; f eingef.: Volks;

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
31.03.1864
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35929
ID
35929