Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 13. August 1855
Berlin 13 August 55.
Lieber Ernst!
Gestern erhielten wir durch Georg Reimer Deinen Brief vom 8 August. Wir sind nun 8 Tage hier und erwarten heute Quinke. Der Zustand der Mutter hat sich noch nicht gebeßert, sie leidet gewaltig durch Brennen und Juken, der Ausschlag troknet zwar von Zeit zu Zeit ab, kommt aber immer wieder. Der ganze Kopf und Hals und ein Theil des Körpers, dera Arme und Beine sind davon bedekt, auch wird sie im Schlaf sehr gestört. Es ist eine böse Krankheit, sonst hat Mutter Appetit und kann auch ausgehn, ich gehe täglich mit ihr eine halbe Stunde spatzieren. Tante Bertha befindet sich recht wohl, das Wetter ist meist gut, vor einigen Tagen hatten wir einen starken Regentag. Inzwischen hat Carl vom Minister eine Aufforderung erhalten, als EinzelRichter nach Freyenwalde zu gehn; obwohl er noch nicht ins Collegium kommt, so sollen doch die dortigen Verhältniße nicht ungünstig sein, die Hauptsache aber ist, daß Carl in das hiesige Departement kommt und darin in dem Kammergericht bekannt wird, dann meint man hier bei der Behörde, könne es ihm künftig nicht fehlen, daß er eine seinen Wünschen ganz angemeßne Stelle in einemb Collegio erhält. Freyenwalde soll aber ein sehr angenehmer Ort sein, erstens liegt es sehr schön im Oderthal und dann sollen auch die geselligen Verhältniße dort angenehm sein, es wohnen viele Pensionärs dort, endlich liegt es zwischen Stettin und Berlin, in 3 Stunden fährt man pro Person für 1 rℓ. von hier hin. Carl wird also die Stelle wohl annehmen. Gestern hat er den Brief, worin wir ihm die Verhältniße schildern, erhalten. Er soll dann zum 1 Januar den neuen Posten antreten und da wird wohl Hermine mit den Kindern spätestens zum November hieher zu uns kommen, um die Reise nicht mitten im Winter zu machen und wir werden sie bis Weihnachten bei uns behalten und Weihnachten hier zusammen feiern. Gebe nun Gott, daß Mutter bis dahin wieder beßer ist. (So eben marschiren die Ulanen beim Fenster vorbei. Was würde der kleine Karl für Augen machen, wenn er sie sähe!) –
Quinke wird wohl Mutter erst einige Tage beobachten, ehe er weitern Entschluß über ihre Behandlung faßt. Wenn er uns nur nicht noch in ein Bad schikt, das wäre uns sehr unangenehm. Wir müßen aber folgen, was er auch beschließen mag! –
Die Reise zu Dir, mein lieber Ernst, hat auch mir sehr große Freude gemacht, es ist mir außerordentlich lieb gewesen, Dich in Würzburg unter den dortigen Profeßoren und Deinen Freunden zu sehn. Bleibe ja in dem Hause wohnen, in welchem es mir sehr gut gefallen hat und knausere nicht in Dingen, die wesentlich zu einer anständigen Existenz und zum wirklichen Wohlsein gehören! Meine alten Beine haben zwar in Würzburg gut herhalten müßen, || ich habe doch aber auch viel Schönes gesehn, ins besondere ist es mir sehr lieb, eine so große Streke des Mainthals gesehen zu haben, welches so schön und fruchtbar ist. Daß Dir Cölliker das Anerbieten zur Prosektorstelle gemacht hat, ist sehr hübsch, wenn Du auch den Posten nicht hast annehmen können. Man sieht doch daraus, daß die Profeßoren etwas auf Dich halten. So Gott will, wirst Du schon Dein Fortkommen finden. Hier fliegt jetzt alles aus von der Profeßoren Welt, Weiss geht ins Schlesische Gebirge, Beyrich ist bereits fort. Er wird in der Gegend der Schneekoppe (in Johannisbad in Böhmen) geologisiren und bis Nachod bei der Grafschaft Glatz gehen, er hat die Frau mit genommen und läßt Dir für die überschikte Versteinerung, die ihm sehr lieb ist, danken. Gestern besuchte ich auch Passow’s nach der Kirche. Sie haben in Jena, wo sie mit den Profeßoren sehr bekannt sind, sehr angenehm gelebt und laßen Dich herzlich grüßen. Weiss und Frau thun daßelbe. Wenn Du auch keine langen Briefe auf der Reise schreibst, so mußt Du uns doch von Zeit zu Zeit Nachricht geben, damit wir wißen, wo Du bist. Gieb Dich nicht in Gefahr und versäume es nicht, Dir Führer mitzunehmen. Ich schlage die Karte öfters auf, um Deine Route zu verfolgen. – Ich lebe jetzt hier ganz für die Mutter, die ich nicht verlaße. Ich kann ihr nur leider wenig helfen, aber ich kann doch wenigstens mit darauf sehen, daß alles ordentlich geschieht, die Mittel ordentlich angewendet werden. –
Die Gegend um Ziegenrück hat mir doch sehr gefallen und ich habe sie ordentlich lieb gewonnen, so daß ich sie künftig sehr vermißen werde. Es ist eine schöne Einsamkeit dort, das Leben der Menschen, in den einsam zerstreuten Dörfern höchst einfach, ja sogar mühevoll, wie ich in Ziegenrück öfters gesehen habe, wenn die Frauen das Futter für das Vieh c von steilen Bergrändern herunter holen und nach Hause schleppen müßen. Man lebt dort unmittelbar mit der Natur, man redet und spricht mit ihr und sie regt im Gemüth die mannigfaltigsten Empfindungen an. Ich werde sie sehr vermißen. Dabei sind die Menschen sehr gutartig und nicht roh, wie ich mich oft überzeugt habe, wenn ich sie angesprochen habe. Der König hält sich lange in Erdmannsdorf auf, weil der Aufenthalt seiner Gesundheit zusagt, er macht häufiger Ausflüge in die Bergschluchten, nach Schreiberhau, Hirschberg, in die Gegend von Schmiedeberg, Stonsdorf, Warmbrunn, nach der Kirche Wang etc. dabei wird er troz der veränderlichen Witterung vom Wetter begünstigt. Die Stettiner sind jetzt in Heringsdorf, heute ist Minchens Geburtstag. Theodor und Carl müßen hier tüchtig exerziren. Es greift sie zwar an, bekommt ihnen aber gut. –
Dieser Brief soll Dich in Salzburg treffen, in Heiligenblut erhältst Du hoffentlich einen 2ten. Aber unterlaß ja nicht, uns öfters Nachricht zu geben, wo Du bist und wie es Dir geht. Das Mutterherz grüßt Dich aufs herzlichste.
Dein Dich liebender Vater
Haeckel
a eingef.: der; b eingef.: einem; c gestr.: daß