Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 28. Oktober 1851

Merseburga 28. Octob. 51.

Mein lieber Ernst!

Unser Briefwechsel wird sich wohl so einrichten, daß Du gewöhnlich Sonnabend oder Sonntag schreibst und wir Dir dann einige Tage danach antworten.

Es freut mich, daß Du Dich allmählich in die Entfernung aus dem älterlichen Hause ohne Schmerz finden lernst, ohne Deine Anhänglichkeit an Deine Eltern und Bruder zu verlieren. So soll es sein, so verlangt es die göttliche Einrichtung dieser Welt. – Mimmi reist in diesem Augenblick nach Stettin zurück und Carl begleitet sie auf den Bahnhof. Carl ist übrigens sehr fleißig in seinem Jus und gefällt sich sehr in seinem Zimmer. Er lebt sehr zurückgezogen. Was mich und Mutter betrifft, so müßen [wir] uns nun allmählich in unsern neuen Verhältnißen orientiren und festsetzen. 2 Sachen fallen uns hauptsächlich auf, die hiesige große Theuerung der täglichen Lebensbedürfniße im Vergleich mit Merseburg und die große Weitläuftigkeit der Stadt, die das gesellige Leben, so wie wir es in Merseburg geführt haben, so sehr erschwert. Die Theuerung macht es nöthig, sich möglichst einzuschränken, eine Geselligkeit wie in Merseburg würde schon des Geldpunkts wegen nicht durchzuführen sein, aber auch die große Entfernung der Freunde und Bekannten, die in der Stadt zerstreut wohnen, macht sie unmöglich, wir müßen also anfangen, ein ganz anderes Leben zu führen, ähnlich dem, wenn man auf dem Lande wohnt und seine Bekannten und Freunde ½ bis 1 Stunde weit aufsuchen muß. Nur den Umgang mit Großvater und Bertha pflegen wir sorgfältig, wir gehen in der Regel Abends gegen 9 Uhr auf eine Stunde hin und plaudern zusammen, nachdem wir vorher zu Hause ein kleines Abendbrod zu uns genommen haben. Ich bin schon öfters Mittags und Abends aus und in Männergesellschaften gewesen, Sonnabend Mittags in der gesetzlosen, gestern Abend im Montagsklub im englischen Hause, wo ich recht intereßante Männer gefunden habe. Aber auch meine Freunde kann ich nicht so oft sehen, als ich mir es dachte. Sie wohnen zu zerstreut und wenn ich sie einzelnb aufsuche und so die Runde mache, so dauert es lange genug ehe ich herum komme. Die schon länger hier wohnen, finden es ganz in der Ordnung. Ich habe manche alte Bekannte noch gar nicht gesehn und werde erst allmählich mit meinen Besuchen herum kommen. An den Vormittagen bis gegen 12 Uhr bleibe ich zu Hause, lese, studire, schreibe. Dann gehe ich in die Stadt, Nachtisch [!] lese ich Zeitungen und mache gegen halb 5 Uhr Besuche und dann meine Hauptpromenade. Dann lese ich wieder von 7–9 Uhr und dann zu Grospapa. Vorige Woche war ich an einem sehr schönen Tage in Potsdam, fand von den Bekannten das Schleinitzsche Ehepaar und Madame Hildebrand zu Hause, besuchte Nachmittags den Babelsberg bei sehr schönem Wetter, wo ich in dem schön angelegten Park eine schöne Aussicht genoß. Die Landschaft mit ihren Anhöhen, Waßerspiegeln und Gebüschen ist reitzend. Sonst komme ich mir doch ziemlich fremd in Potsdam vor, da eine neue Generation herangewachsen ist. Es hat sich aber sehr verschönert, manche neue schöne Gebäude, besonders aber die Umgebungen. Nach Sans-Souci etc. bin ich nicht gekommen. Mutter ist noch wenig ausgekommen, || sie ist noch mit ihren häuslichen Einrichtungen beschäftigt, mit denen es sehr langsam vorwärts geht. Heute ist Wäsche, in den nächsten Tagen sollen die Gardinen aufgemacht werden, auch fehlt es noch an manchen Möbeln, die erst allmählich eingekauft werden sollen. Vor einigen Tagen waren wir Abends bei Unzers. Tante Sack ist unwohl.

Daß ich an den Vormittagen so meinen Studien nachgehen kann, thut mir ganz wohl, aber meine Meditationen über die Gegenwart machen mich oft trübe, diese Gegenwart lastet mit Centnerschwere auf mir, obwohl ich den Glauben an die Zukunft nicht verliere. Diese fast allgemeine Apathie c der Gegenwart ist wahrhaft erdrückend und ich muß alle meine Kräfte zusammennehmen, um den Glauben an die Zukunft nicht zu verlieren. Ich studire jetzt mit großem Intereße Schleiermachers Ethik. Am Sonntag hörte ich eine Predigt von Krummacher, die mir wohl gefallen hat. Sonst spüre ich noch hin und her, um die rechten Orte zu finden, wo man sich wißenschaftlich und politisch orientiren kann. In einer kleinen Stadt hat man doch alles mehr beisammen und der Ideenaustausch wird dadurch sehr erleichtert. Ich will indeß über Berlin noch nicht absprechen, ich bin noch zu neu und muß mich erst zu orientiren suchen. –

Von meinem gastrischen Fieber sind allerlei Unbequemlichkeiten zurückgeblieben, ich leide ins besondere an erschwerter Verdauung nach Tische. Da muß ich viel spatziren gehen. Wir haben hier im October viel schöne Tage gehabt. Jetzt scheint es zu Ende [zu] sein. Gestern regnete es furchtbar, so daß ich nicht spatziren gehen konnte. –

Auch Lichtenstein habe ich gesprochen, er meinte, du müßtest durchaus die Medicin in ihren Grundzügen, besonders auch in chirurgischer Hinsicht kennen lernen, das habe seinen Neveu in Indien außerordentlich genützt und er habe besonders durch Curen wegen körperlichen Verletzungen großen Zuspruch gehabt. –

Vor einigen Tagen sprach ich H. v. Buch und zwar wie ich mich ausdrückte über seine großen Reisen, er meinte: er habe dergleichen nicht gemacht, denn die nach Teneriffa sei nicht dazu zu rechnen. Gestern Abend traf ich ihn zum 2ten Mahl und zwar in dem stärksten Regenwetter in Schuhen. General Scharnhorst (deßen Gast ich war), meinte, da würde er sich die Füße sehr naß machen; er entgegnete, am Leibe trockneten die Kleider am besten, wenn man sie ausziehe und hinter den Ofen hänge, schrumpften sie zusammen. Du siehst: noch immer das alte Original! –

Daß Du so fleißig in Deinen Studien bist, freut mich, Carl ist es auch, ihr habt beide das Examenfieber. Nur immer muthig zu, auch dieser Berg wird überstanden werden! Ich werde Dich manchmal durch Charlottenburger Schlagwurst erquicken. –

Der Tod des alten Apel hat mich sehr geschmerzt, er war ein sehr braver Mann. Hätte er doch den alten unverbesserlichen Drachen lieber zum Teufel gejagt! –

Grüße die Freunde aufs herzlichste und theile Ihnen meine Briefe, so weit sie für sie von Intereße sind, mit.

Dein

Dich innigst liebender Vater

Haeckel

eDie Akten vermiße ich gar nicht.

[Fragment einer Nachschrift von Charlotte Haeckel]

[…]f gesagt, die 8 Th. sollten der Kleinkinderschule, worauf Karl meinte, er möge es der Armenkasse anweisen, weil die keine Gerichtskosten zu zahlen habe.

a Ortsangabe „Merseburg“ irrtümlich; b eingef.: einzeln; c gestr.: ist; d gestr.: Füßen; e weiter am linken Rand: Die Akten … nicht.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
28.10.1851
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35917
ID
35917