Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Ziegenrück, 22. Juli 1855, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Ziegenrück 22 Juli 55

Mein lieber Ernst!

Deinen letzten lieben Brief nebst Beschreibung der Reise nach dem Rhöngebirge haben wir grade an dem Tauftage Deines 2ten Neveu‘s (am Donnerstag) erhalten. Wir hatten uns recht nach Deinem Briefe gesehnt, da wir seit 3 Wochen nichts von Dir gehört hatten. Deine Reisebeschreibung hat uns sehr amusirt; und daß Du Dich mit der medicinischen Praxis mehr aussöhnst, hat uns sehr erfreut. Wir haben nun beschlossen (Carl und ich) nächsten Donnerstag 26sten a von hier abzureisen, sob daß wir Freitag Nachmittag um 6½ Uhr in Würzburg einzutreffen gedenken und Dich am Bahnhof zu finden hoffen. Wir wollen 3 Tage (c Sonnabend, Sonntag und Montag) dort bleiben und dann hieher zurükkehren. Mimi und der Kleine (der die Namen Herrmann Christoph erhalten hat) befinden sich sehr wohl. Aber unsre liebe Mama hat einen gewaltigen Flechtenausschlag bekommen und wird davon sehr geplagt. Die Flechten bedeken ihren ganzen Kopf und Hals und auch einen Theil des übrigen Körpers. Der hiesige Doktor Krüger wollte sie die Zittmannsche Kur brauchen laßen, wir frugen aber erst bei Quinke d an, der vorläufig damit noch Anstand nimmt. Sie wird also mit Höllensteine Tinktur eingerieben und nimmt täglich Kleien Bäder. Sie hat vorgestern damit angefangen und wird diese Kur hier mehrere Wochen brauchen, ehe sie nach Berlin zurükkehrt. Denn Quinke ist auf mehrere Wochen nach Wien und Tyrol gereist und gedenkt erst gegen den 11 August zurükzukehren. Nach seiner Rükkehr will er dann sehen, wie die jetzige Kur gewirkt hat und dann seine weitern Maasregeln nehmen. Mutter ist außerdem wohl und ißt und trinkt mit uns nach der ihr vorgeschriebenen Diät, aber der Flechtenausschlag plagt sie sehr. Ich möchte ihr gern helfen, kann aber beim besten Willen nicht. f Darum haben wir auch die Reise zu Dir nicht aussetzen wollen, um Dir die Freude nicht zu verderben und Mutter wünscht es durchaus, daß wir diese Reise machen. – Seit 8 Tagen sind die Stettiner hier Christian, Minchen und Bertha. Sie kommen von Carlsbad und werden noch einige Zeit hier bleiben, Minchen und Bertha bis gegen den 8 August, wo Mutter und ich mit ihnen nach Berlin zurükzureisen gedenken, Christian geht schon früher ab, da er das Seebad in Heringsdorf noch brauchen will. Wir leben hier sehr traulich beisammen, haben aber viel schlechtes Wetter, was uns aber nicht hindert, täglich Promenaden zu machen, mitunter werden wir naß. Gestern gegen Abend trafen wir einige gute Stunden auf unsrer Tour über die Hütte und das Konrod noch den Lasterberg, wo wir eine treffliche Aussicht genaßen. Diese einsamen bewaldeten Schluchten von der Saale in ihren schönen Krümmungen durchfloßen, sind doch prächtig. Die stumme Einsamkeit dieser wilden Schluchten macht einen tiefen unerklärlichen Eindruk auf das Gemüth, ich stand gestern Abend eine Weile wie eingewurzelt und konnte mich nicht satt sehen. Das liegt doch in dem tiefen innigen Zusammenhang zwischen Gott, Natur und Mensch und ich begreife recht, wie eine tiefe gemüthliche Naturforschung immer frömmer machen muß und verstehe die kalte Bewunderung der Naturforscher vor den Naturgesetzen nicht.

Wir lesen hier, plaudern, spielen mit dem kleinen Carl, der ungemein drollig und amusant ist und so vergeht uns ein Tag nach dem andern. Gegen den 8 August denken wir von hier abzureisen; Carl muß am 20 August Abend wieder zurük sein. Den Stettinern hat es sehr in Carlsbad gefallen, der Brunnen hat Christian sehr angegriffen und er ruht hier etwas aus, dennoch gehen wir täglich fleißig spatzieren, auch alle Morgen vor dem Frühstük, selbst wenn es regnet. Das Taufen war ganz einfach, die beiden Großmütter und Bertha standen Gevatter. Dann erfolgte ein Mittageßen, dem der Diakonus und Frau (der Superintendent war krank) und Doktors beiwohnten. Auch war der Nachmittag schön, so daß wir uns einige Zeit in Carls kleinem Park aufhalten konnten. – Da Mutter sich schonen muß, || so sind Minchen und Bertha in Mimis Pflege sehr behülflich, die bis jetzt das trefflichste Wochenbett hat. – Das Klima ist hier doch rauh und sehr veränderlich. Dadurch und durch das viele Steigen und Chauffiren ist man vielen Erkältungen ausgesetzt, was auch bei uns, seit dem wir hier sind (über 5 Wochen) nicht gefehlt hat. Dazu kommt, daß Carl sehr mit Arbeit überladen ist und er wünscht daher in die Mark versetzt zu werden, weshalb er auch heute bei dem Kammer Gericht in Berlin einkommt. –

Ich habe hier allerlei gelesen, in der letzten Zeit besonders den ersten Theil von Gervinus eben herausgekommener g Geschichte des 19ten Jahrhunderts, die als eine Fortsetzung von Schlossers Geschichte des 18ten Jahrhunderts anzusehen isth. Sie ist mit vieler Mäßigung, Besonnenheit, Billigkeit und Gerechtigkeit, aber auch mit strenger Wahrheit geschrieben. Das Benehmen der Bourbons nach ihrer Wiederkehr, der Wiener Congreß und Oesterreichs Treiben und Benehmen wird besonders dargestellt. Die Preußischen Sünden werden erst in den späteren Theilen vorkommen. Das Buch ist mit Geist geschrieben und ich habe es mit großem Intereße gelesen. So sind die 5 Wochen hier schnell vergangen. Die Monate August und September wird Mutter wohl sehr emsig ihre Kur brauchen müßen; dann kommt der Umzug. Da jetzt so viel schlechtes Wetter ist, so wirst Du wahrscheinlich zu Deiner Alpenreise beßeres bekommen, was wir Dir sehr wünschen. Wir freuen uns ungemein auf das Zusammensein mit Dir. Herzliche Grüße von Allen. Für heute genug.

Dein Dich liebender Vater Haeckel

Sollten wir am Donnerstag nicht eintreffen, so ängstige Dich nicht, es könnte wegen Fuhre etc. doch etwas dazwischen kommen, dann treffen wir etwas später ein.i

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

Wenn ich auch nicht viel schreiben kann, so muß ich meinem Herzens Sohn doch selbst eben begrüssen. Daß so früh getauft wurde, war, weil ich schleunig nach Berlin sollte, und Christians Geburtstag Tauftag sein sollte, nun bleibe ich doch noch hier. Taufkuchen wird Vater Dir mitbringen.

Wie immer Deine alte Mutterj

Carl u. Mimi grüßen Dich herzlich.k

a eingef.: 26sten; b eingef.: so; c gestr.: Freitag; d gestr.: ab; e korr. aus: Höllengeist; f gestr.: Auch; g gestr.: Kirchen; h eingef.: anzusehen ist; i Nachschrift auf dem linken Rand von S. 1: Sollten wir … später ein.; j Briefschluss am unteren und oberen Rand von S. 1: Taufkuchen wird … alte Mutter; k Nachschrift auf dem linken Rand von S. 2: Carl u. … Dich herzlich.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
22.07.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35894
ID
35894