Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 1./2. Oktober 1856, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel

Berlin 1 Octob. 56.

Mein lieber Ernst!

Gestern Abend sind wir von Freyenwalde zurükgekehrt, wo wir uns 11 Tage aufgehalten haben und munter und vergnügt gewesen sind. Bertha hatte uns Deinen Brief aus Nizza nachgeschikt, er war bis Berlin über Marseille und Paris 5 Tage gegangen. Auf dieser Tour wirst Du wohl auch die gegenwärtigen Zeilen erhalten. Hier haben wir Hiobsposten vorgefunden. Der Obrist Slevogt ist aus Spanien zurükgekehrt mit einem Karbunkel und es ist sehr die Frage: was aus ihm werden wird? Aber das Schlimmste, was uns sehr nahe angeht und was wir so eben in Erfahrung gebracht, ist das, daß unser Freund der Profeßor Weiß jetzt wahrscheinlich schon todt ist. Er ist schon kränklich am Unterleibe abgereist und nach Teplitz gegangen, wo er sich gebeßert und er 14 Tage geblieben. Hierauf nach Carlsbad, wo er wieder kränker geworden. Er ist nur bis Eger gekommen, wo er wahrscheinlich sterben wirda. Ein Unterleibskatharr oder deutlicher gesagt: Blasenentzündung ist hinzugetreten. Die Professor Beyrich ist auf den Wunsch der Weiß hingereist, um ihr zu helfen. Sie hat ihn wahrscheinlich nicht mehr lebend gefunden. Denn als die Weiß geschrieben, ist er schon ohne Hoffnung gewesen. Das ist für uns ein sehr schmerzhafter Verlust, ich verliere meinen ältesten Freund und es ist, als ob ich hieher gekommen wäre, um alle meine Freunde begraben zu helfen, bis ich selbst an die Reihe komme. Es ist eine tüchtige Generation von Generalen, Staatsmännern und Gelehrten, die jetzt in das Grab sinkt und die schwere Zeiten durchgemacht hat. Von der jetzt eben im vollen Mannesalter befindlichen Generation kann man (mit Ausnahme der Gelehrten) dieses nicht sagen. Es ist ein schlaffes, charakterlosesb, schwaches Geschlecht, oder in voller Verblendung und Raserei begriffen (die Reaktionairs). Das aber jetzt heranwachsende Geschlecht wird c wahrscheinlich schwere Zeiten, von den größten Krisen erfüllt, durchzumachen haben. Denn so bleibt es nicht. Die so in der Raserei begriffene reaktionäred Generation wird sich festfahren und die Rettung wird in einem vollen Umschwung zu etwas Beßeren, wozu die Noth sie drücken wird, gefunden werden müßen. Es ist die Zeit der politischen Reformation, in der wir leben. Mit dem Jahre 1789 begann ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte, die Ideen überstürzten sich und führten danne zu einer Reaktion in Frankreich. In Deutschland ging es mäßiger, vernünftiger zu, das Feudalsystem wurde überall in der civilisirten Welt in Europa gestürzt. Jetzt macht die Reaktion den letzten Versuch, den Feudalismus wieder aufzurichten. Sie wird darüber zu Grunde gehen. So lehrt es wenigstens der Gang der Geschichte, von welchem die Reaktionärs nichts wißen und nichts lernen wollen. Dabei wird die Religion als Deckmantel des Egoismus gebraucht. Bei uns in Preußen ist jetzt der Zusammenstoß am stärksten, und hier wird auch || die Krise am gefährlichsten werden. Aber ich glaube, daß Preußen sie überwinden wird. Denn Preußen ist in einem schweren Uebergange begriffen, der alte Absolutismus hält nicht mehr vorf und zum vollständigen politischen Erwachen für eine freie Verfaßung ist es noch nicht gekommen. Der Drang der Umstände von Außen und Innen wird aber dieses Erwachen herbeiführen, nur durch gewaltige Noth wird es erfolgen. Die Frage von Seyn oder Nichtseyn wird an den Preußischen Staat zum 3ten Mahl gestellt werden, und falls Dich Gott leben läßt, wirst Du diese Krise wahrscheinlich durchleben. Die natürlichen Zustände sind in Frankreich so wenig vorhanden wie in Deutschland, nur bei jedem auf andre Art. Oesterreich hat jetzt einen guten Schritt vorwärts gethan, aber es ist übermüthig geworden durch die elende Regierung Preußens und durch die schlaffe Haltung seines Volks. Es denkt an die Spitze von Deutschland zu kommen mit Unterjochung Preußens. Es möchte mit Einem Mahl die norddeutsche Cultur, an der seit 2 Hundert Jahren gebaut ist, erobern und auch als das Land der Intelligenz den Reigen in Deutschland führen. Das wird ihm nicht gelingen, so sehr seine jetzt sehr intelligenten Staatsmänner darauf hinarbeiten und so elend es jetzt bei uns hergeht. Die norddeutsche Intelligenz hängt sehr genau mit [dem] Charakter des Volks zusammen, der durch ein emsiges Arbeiten an der Ergiebigmachung eines zum Theil stiefmütterlichen Bodens gestählt wird. Sie hängt zusammen mit dem Protestantismus, der bei uns tiefe Wurzel geschlagen hat, während in Oesterreich der Katholicismus seit Jahrhunderten festgewurzelt ist. Die höhern und MittelClaßeng in Oesterreich sollen allerdings das Pfaffenwesen sehr satt haben. Diese werden aber die Maße des Volks nicht so leicht loslaßen. Doch genug hievon und mündlich mehr. –

2 October

Die Beschreibung Deiner Reise hat uns sehr intereßirt und es freut uns ungemein, daß es Dir seit Vevey beßer gegangen ist. Ich fühle mich durch unsre Reise im nordwestlichen Deutschland geistig sehr erfrischt und angeregt. Ich muß Menschen und Länder selbst sehen, dann bekomme ich ganz andre Anschauungen. Ostfriesland, Westphalen, das linke Rheinufer, das Bergisch-Märkische Land, sind alle in ihrer Art eigenthümlich, Menschen und Natur. Meine Neigung zur Politik, zur Auffassung der verschiedenartigen Völker und Länder und ihrer Bestimmung ist fortdauernd vorherrschend und findet auch auf Reisen ihre Nahrung. Im nordwestlichen Deutschland ist immer die Fruchtbarkeit der Küstenländer mit ihren fetten Weiden und ihrer Viehzucht, am linken Rheinufer die Betriebsamkeit der armen Weinbauern und das katholische Treiben auf dem rechten Rheinufer die ungeheure Gewerbsamkeit und Industrie, hier in der Mark bei Freyenwalde der große Fleiß der Menschen in Kultivirung des Bodens, der troz der Magerkeit doch einen wohlhabenden Bauernstand zu Tage gefördert hat, aufgefallen, alles dieses hat mich zu mancherlei Betrachtungen veranlaßt. Hier in Berlin ist in unsrer Gegend am Kanal, in der Potsdamerstraße, in der Nähe des Thiergartens sehr viel gebaut worden. Du wirst es sehr verändert finden, es sind ganz neue Straßen entstanden, die Eichhornstraße, die Schellingstraße etc. –

Die heutigen Nachrichten über Weiß Zustand lauten, daß er ohne Hoffnung ist und wahrscheinlich bald sterben wird. Er ist in Eger. – Slevogt dagegen beßert sich. Man muß bei Weiß nicht vergeßen, daß er im 77sten Jahr ist und ein sehr schönes, von den Verhältnißen begünstigtes Leben gehabt hat. Eine große Gnade von Gott, wofür man dankbar sein muß. Auch in der Wißenschaft hat er bedeutendes geleistet. Nun mag sich die junge Generation auch rühren und auch etwas bedeutendes leisten. Ich erleide durch seinen Tod einen großen Verlust. Bis in die frühesten Jahre unsrer Jugend giengen unsre gemeinschaftlichen Erinnerungen. Er war in meiner Eltern Hause! So etwas läßt sich nicht ersetzen. –

Zeige uns doch noch an: wann wir Dich ohngefähr erwarten dürfen? Carl kommt zum 20sten her zu Berthas Geburtstage. Du wirst wohl auf der Rükreise noch manches schönes sehen. Quinke wünscht zu wißen: ob der Dr. Schütz von hier dort angekommen ist. Wir werden nicht weiter an Dich schreiben. Adieu Dein alter Dich liebender Vater

Hkl

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

Mein lieber Herzens Ernst! Von Deiner alten Mutter kommt nur noch der innigste Gruß und der Wunsch, daß Du Dich gesund und frisch halten sollst und ich die Freude habe, Dich so wiederzusehn. Mit der innigsten Liebe Deine alte Mutterh

Meine Gedanken sind immer bei unserem lieben Weiß.i

a gestr.: gestorben ist; eingef.: sterben wird; b eingef.: charakterloses; c gestr.: aber; d eingef.: reaktionäre; e eingef.: dann; f eingef.:; vor; g eingef.: und Mittel; h Nachschrift auf dem linken Seitenrand von S. 1 und S. 2: Mein lieber … alte Mutter; i Nachsatz auf S. 1 oben: Meine Gedanken … lieben Weiß.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
02.10.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 35885
ID
35885