Von Carl Gottlob Haeckel, Teplitz, 29. August 1859, mit Nachschrift von Charlotte Haeckel
Teplitz 29 August 59.
Lieber Ernst!
Gestern und heute sind Briefe von Dir hier bei uns eingegangen, gestern der vom 16ten, den Du an Carl beigelegt, heute einer den Du an Anna geschrieben, vom 16ten, worin Du Deinen Aufenthalt auf der Insel Capri beschreibst. Was diesen letztern betrift, so gönne ich a Dir zwar sehr gern den hohen Naturgenuß, den Dir der Aufenthalt auf dieser Insel gewährt, andrerseits hat er nicht nur mich, sondern auch besonders Mutter sehr bedenklich gemacht, Du schwelgst in Kunstgenüßen, die doch den Naturforscher abwendig machen könnten und doch ist letzteres Deine Haupt- und Berufs-Bestimmung. Ich freue mich sehr, daß Du in Italien an allgemein menschlicher Ausbildung besonders für die Kunst und für das Leben gewonnen hast, die Liebhaberei für die Landschaftsmalerei aber, die in den letzten Wochen so lebendig bei Dir geworden, muß ihre Grenzen haben und darf Dich Deinem Hauptberuf, für den Du seit 7 Jahren gearbeitet hast, nicht entfremden. Es ist daher Zeit, daß Du von Capri wegkommst. Du magst nun Deine Reise durch Sicilien im September durchführen, dann aber aufs ernstlichste Deine Arbeiten in Messina beginnen. Es wäre offenbar beßer gewesen, wenn Du statt im Februar schon vorigen September nach Italien gegangen wärst und vom October ab den Winter hindurch in Messina gearbeitet hättest. Dir steht nun noch der große Genuß bevor, Palermo zu sehen und den Aetna zu besteigen. Dann aber auch mit den Genüßen Punctum! und dann an die Arbeit. Ich bin kein reicher Mann, der Dich Jahre lang in der Welt umher reisen laßenb kann, Du mußt Dir nun Deinen äußern Berufc bilden, der Dich nährt. Denn auch Deinen Bruder Carl und seine Familie muß ich unterstützen, und wenn ich sterbe, wird nur ein sehr mäßiges Vermögen vorhanden sein, von deßen Zinsen Deine Mutter nur eben ihr sehr mäßiges Auskommen haben wird. Dergleichen Betrachtungen werden Dir vielleicht philiströs vorkommen, das nüchterne Alter muß aber die sprudelnde Jugend daran erinnern, daß sie nicht die rechte Fährte ihres äußern Lebensweges verliert, sonst könntest [!] es Dir gehen, wie auf letzter Tour auf den Vesuv, Du könntest vielleicht Deine ganze äußere Lebensd Existenz aufs Spiel setzen! Dergleichen kühne Unternehmungen wollen wir doch bleiben laßen. Du hast jetzt so viel genoßen, daß Du die Tour nach Algier unbedenklich bei Seite laßen kannst. Du wirst aus meinem letzten Briefe ersehen haben, e wie ich der Ansicht bin, daß Du alle Weiterreisen aufgeben mußt, bis Du endlich in einen bestimmten Beruf eingetretenf bist, und wie ich g es gar nicht für unmöglich halte, daß Du später noch einmal im Dienste des Staats vielleicht noch eine weitere Tour mitmachst, wenn Du erst als Naturforscher einen gewißen Ruf erlangt haben wirst. So geht z.B. Anfangs October Dein Freund Martens mit der Preußischen Expedition der Thetis auf einige Jahre als Naturforscher nach China und Japan, und wenn Du ihm nochmals schreiben willst, so muß ihn Dein Brief noch vor dem 1 October treffen, wie mir heute Bertha geschrieben hat. Du hast nun eine sehr volle Dosis von Genuß durch Deine Reise nach Italien erhalten. Vom 1 October ab erwarte ich, daß Du Dich lediglich Deinem Beruf als Naturforscher widmest und dann direkt zu uns zurükkehrst. In diesen naturforschlichen Studien in Messina will ich Dich nicht stören, und wenn sie bis in den Februar hinein dauern, dann aber erwarte ich, daß Du die Resultate Deiner Forschungen schriftstellerisch bekannt machst und Dir dadurch den Weg zu Deiner äußern Stellung bahnst. Dein Brief an uns Eltern vom 12ten schildert uns Deine großen Gefahren, die Du nebst Deinem Freunde Almers auf der 8ten Besteigung des Vesuv bestanden. Gott sei gedankt, daß er Dich aus dieser Gefahr errettet hat, ich erwarte nunmehr, daß Du für Dein ganzes Leben von allen tollen Wagnißen kurirt sein wirst.
Wir sind nun 4 Wochen hier in Teplitz und genießen auch eine schöne Natur. Wir haben hier wahrhaft tropische Hitze gehabt, noch in diesen Tagen ist sie wiedergekehrt, sie wird nun wohl aber zu Ende gehn, da in wenigen Tagen der September beginnt. Deiner Mutter Krankheit ist ein Rükenleiden, Andrängen des Bluts nach dem Rüken und Anhäufungen des Bluts daselbst, wodurch die Rükennerven tangirt werden, welches dann von Zeit zu Zeit Krampfanfälle zur Folge hat. Den 3ten Anfall hatte Mutter hier vor 8 Tagen, sie wird dann dadurch sehr angegriffen, der Körper ist mehrere Tage wie ganz zerschlagen, überhaupt ist ihr Rüken h sehr sensibel, sie muß immer ein Kißen im Rüken haben, wenn sie sitzt oder liegen [!], ihre Kräfte sind sehr niedergedrükt, sie schleicht mehr herum, als daß sie geht. Sie kann aber doch kleine Promenaden machen und 1 Stunde langsam || früh und gegen Abend umher gehen, sonst ist sie geistig munter, hat auch guten Appetit und ziemlich guten Schlaf. Sie hat bereits 25 Bäder genommen, darunter 6 Douschbäder. Diese Woche wird sie noch baden und spätestens nach dem 6 September denken wir von hier abzureisen. Die Gegend ist hier sehr schön und wir haben manchen Naturgenuß. Unser Umgang mit Menschen ist sehr beschränkt, da fast nur Oesterreicher hier sind. Nur Minchen Coquerill, die alte Jugendfreundin von Mutter, mit ihrer Niece Freitag ist hier und badet, mit ihr sind wir täglich zusammen.– Hier habe ich nur eine Bekanntschaft gemacht, den Kreisgerichtsdirektor Odebrecht aus Berlin, bei deßen Gericht Heinrich Sethe und Theodor Bleek arbeitet. Der Zustand i unseres Königs, so sehr er verborgen wird, ist sehr traurig, er hat vor einigen Wochen einen starken Schlaganfall gehabt, der ihn ganz gelähmt haben soll, man glaubte gewiß, er werde sterben, er scheint sich aber dieses Mahl noch durchzuarbeiten, so daß der Prinz Regent auf einige Wochen nach Ostindien gegangen ist. Unser Carl ist mehrere Wochen in Steinspring gewesen und hat sich von seinem Scharlachfriesel wieder erholt. Wir haben einen außerordentlich schönen, fruchtbaren und heißen Sommer gehabt, oft 4–5 Wochen lang keinen Regen, dann immer 8–10 Tage lang Gewitter, die den Erdboden befeuchtet haben. Nach dem Friedensschluß haben sich die Bäder Mitte Juli bis Ende August gefüllt. Jetzt fangen sie an, leerer zu werden. Ich habe Lektüre bei mir, gehe früh und gegen Abend spatzieren, lese Abends mit Mutter Walter Scott und bin aufmerksam auf Mutters Zustände, begleite sie möglichst, wenn sie ausgeht und nehme Mutters Krankheit als eine Prüfung hin, die uns Gott zuschikt und die auch zum Leben gehört und uns sittlich und religiös ausbilden hilft. Ohne Christenthum ist einmal dieses Leben, wenn es vernünftig durchgeführt werden soll, nicht durchzumachen. Die höchsten Forderungen des Christenthums sind auch die der höchsten Sittlichkeit. Das Christenthum schenkt uns aber auch noch oben drein Ergebung und Vertrauen in Gott, so daß uns die irdische Existenz nicht mehr als eine Dissonanz erscheint, sondern sich mit diesem Gottvertrauen in die sichere Zuversicht eines dereinstigen vollkommenen Lebens auflöst, zu welchem wir uns schon hier auf Erden vorbereiten sollen. Das Erdenleben aber hat auch seinen eignen Zwek, es sollen sich hier eigne Kräfte entfalten, die nur für dieses Leben bestimmt sind und so sollen wir auch hier Gott in eigenthümlicher Weise in der Natur und Geschichte erkennen lernen. Ich gehöre also gar nicht zu den Dukmäusern, welche die höhern Freuden dieses Lebens von sich weisen, sondernj verlange vielmehr eine volle Hingabe an dieses Erdenleben, auf eine sittlich religiöse Weise.
[Nachschrift von Charlotte Haeckel]
Mein lieber Herzens Ernst! Wie sehr ich mich auch freue, daß die Zeit, die Du jetzt erlebst für Dich so reich an Natur und Kunstgenuß ist; so muß ich Dich doch warnen nicht zu vorherrschend dem Zeichnen und Mahlen zu leben; denke wie Du als Kind, wenn Kinder Dich aufforderten Deines Talents wegen Mahler zu werden, Du immer antwortetest: Das ist ja keine Arbeit, das ist nur Vergnügen, und so soll es bei Dir auch bleiben, zum Vergnügen kannst || Du immerhin zeichnen, aber darüber nicht das ernste Studium und Deinen Beruf vernachlässigen, auf die Dauer würde Dich das nicht befriedigen.
Gestern bekamen wir durch Hermine Deinen Brief, die schreibt uns, daß sie heute Karl zurück erwarttete, sie seien alle wohl. –
Unbekannterweise grüsse Deinen Freund Allmers von mir. ‒
Tante Bertha schreibt uns heute: Frau Professor Weiß sei bei ihr gewesen und habe ihr gesagt: Marthens mache die Reise nach Japan mit, und würde im October abreisen. –
Nun leb wohl lieber Herzens Ernst und behalte lieb
Deine
alte Mutter.
[Adresse]
Al Signore Dottore Ernst Haeckel | di Berlino | p. Adresse Signore Müller | Hôtel du Nord | Messina | (Sicile) | via Marseille
a gestr.: Dich; b eingef.: laßen; c eingef.: Beruf; d eingef.: Lebens; e gestr.: daß; f teilw. Textverlust durch Tintenfraß, sinngemäß ergänzt; g gestr.: der Ansicht; h gestr.: ganz wie zerschlagen; i gestr.: des; j Textverlust durch Tintenfraß, sinngemäß ergänzt