Meyer, Hans

Hans Meyer an Ernst Haeckel, Leipzig, 22. September 1894

DR. HANS MEYER.

BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT.

LEIPZIG, DEN 22.9.94.

Liebster „Grosspapa“

Könntest Du jetzt das selige Lächeln Deiner Lissi sehen und neben ihrem Bett die Wiege mit dem kleinen runden rothen Enkelchen, Dir würden die Thränen ebenso über die Wangen rinnen wie mir. Es ist ein vollständiges Haeckelchen, das da in den weissen Kissen eingebettet liegt, || „ganz die Mutter“ en miniature, mit ebenso dunkelen Haaren und blauen Augen, wie einst Euer erstes Töchterchen auf die Welt kam. Innigst hoffe ich, dass es der Mutter auch in allem Uebrigen gleich werden möge; das ist mein allerbester Wunsch, den ich dem kleinen Wesen mit in’s Leben geben kann.

Eigentlich hatten wir das Ersehnte schon gestern erwartet, aber die Wehen, die gestern früh begonnen hatten, liessen wieder nach, und setzten erst heute morgen 5 Uhr wieder mit voller Kraft und Ausdauer ein. Doch leistete Lisbeths straffe Muskulatur dem Austritt des Kindes kräftigen Widerstand, so dass das kleine Frauchen tüchtig zu leiden gehabt hat.

Sie hat aber alle Schmerzen mit bewundernswerther Standhaftigkeit ertragen, und ihrer grossen Geduld ist es zu verdanken, dass ohne alle Verletzung || der Akt sich ganz normal vollzog, und endlich um ½ 7 Uhr der neue Weltbürger zappelnd und kräftig schreiend in ihrem Schoos lag. Den ersten Ton des Kindes und den schwachen seligen Freudenschrei meines jungen Mutterchens werde ich mein Lebtag nicht vergessen! Beiden geht es sehr gut. Mama erwarten wir morgen. Du selbst wirst wohl auch bald einmal Dein erstes Enkelchen Dir anschauen.

Heute nimm vorlieb mit diesen Zeilen, baldigst mehr.

Treusten Gruss

Dein Hans.

Dass wir über alledem gestern Onkel Karls Geburtstag vergessen, wird er entschuldigen. Ich bitte ihn herzlichst darum.a

a Nachtrag kopfüber am oberen Rand von Seite 4.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
22.09.1894
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35794
ID
35794