Heinrich Haeckel an Ernst Haeckel, Stettin, 28. November 1898

Stettin, 28. XI. 98

Lieber Onkel!

Deine Büchersendung hat mich, wie immer, sehr erfreut; habe besten Dank dafür, wie für Deinen Brief. Wenn Du freilich meinst, ich habe Jena vergessen, so trifft das, je länger ich hier bin, desto weniger zu. Denn nachdem die erste unruhige, interessante Zeit der selbstständigen Thätigkeit, nachdem der Reiz des Neuen verflogen, habe ich in wachsendem Maße das Gefühl des Fremdseins in einer mir nicht adäquaten Umgebung. Die fromme Atmosphäre hat auf die Dauer etwas Widerliches, wenn ich auch nach Mög|lichkeit versuche, den geistlichen Elementen Bethaniens aus dem Wege zu gehen; aber je mehr ich das thue, desto übler nehmen sie es mir. In mancher Hinsicht ist die Bornirtheit der Männer Gottes geradezu kindisch. So sagte gestern – es war Stiftungsfest von Bethanien und ich saß wie ein armer Sünder in dem Kirchenstuhl des Oberarztes – der Geistliche in seiner Rede: „2000 Kranke haben in diesem Jahr unser liebes Bethanien aufgesucht, um Christum zu suchen“ – operirt und behandelt wollen sie sein, deshalb kommen sie, und da bildete sich diese sancta simplicitas ein in unbescheidener Selbstüberschätzung,| Sie wollten Christum suchen!! – Wenn ich, wie ich beabsichtigt, im October nicht nach Jena kam, so geschah es, weil ich durch Tante Bertha hörte, daß Tante Agnes längere Zeit wieder liegen mußte. Zudem fand ich nach meiner Rückkehr aus den freien Bergen so mancherlei zu thun, daß ich nicht gleich wieder fort konnte.

Deine Cambridge-Rede, für die ich herzlich danke, war wie ein frisches Bad in schwüler Sommerhitze, wie ein erquickender Luftzug in der stagnirenden Atmosphäre der „Central-Dogmen“. Ich habe hier nur wenige Menschen, mit denen ich frei reden kann,| die Meisten, mit denen ich zusammenkomme sind „Anthropisten“. – Das hindert nicht, daß ich mit der Hauptsache, meiner Schneiderei, nach wie vor zufrieden bin und ich denke mit jenem nicht sehr feinen, hier aber zutreffenden Sprichwort: Die Krähe laust den Elephanten nicht um seinet- sondern um ihretwillen. – Jetzt, dicht vor Weihnachten, wo operativ eine etwas stillere Zeit ist, habe ich Muße, Vieles meiner Erfahrungen litterarisch zu verwerten, und werde nach und nach eine Anzahl kleiner Aufsätze publiciren.

Georgs trauriges Los hat mich| um so mehr ergriffen, als er mit seiner Frau 10 Tage vor deren Tode noch hier bei mir zu Gast war; das Erste, was Trautchen seit ihrer Genesung im Frohgefühl der wiedergewonnenen Gesundheit wagen konnte, war eine Fahrt nach Berlin, zu Julius und zu mir. Es scheint fast ein Fatum in unserer Familie zu sein, daß Alle die erste Frau verlieren müssen: Großvater, Vater, Du, Hermann, Richard und nun Georg!

Vor Kurzem bekam ich von einem Kollegen, den ich behandelt hatte eine famose Bronce, die Dich sehr interessiren wird: ein Orang sitzt auf den Werken| Darwins und betrachtet grübelnd einen menschlichen Schädel, den er in der Hand hält; darunter steht: Eritis sicut Deus.

Anbei sende ich mit bestem Dank zurück, was ich von Deiner Cambridge-Reise an Briefen hier habe. Ein sonderbares Zusammentreffen, daß der mumificirte Berliner Pathologe bald nach Dir in England gefeiert wurde, und gar wegen einer Huxley-Rede! Lucus a non lucondo.

Die Weihnachtstage werde ich bei Hahns sein, wo auch Friedel sich einfinden wird. – Mit herzlichsten Grüßen an Tante und Emma, denen es hoffentlich wieder gut geht, treuestens Dein dankbarer

Heinrich

Brief Metadaten

ID
35592
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
28.11.1898
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Format
14,0 x 22,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35592
Zitiervorlage
Haeckel, Heinrich an Haeckel, Ernst; Stettin; 28.11.1898; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35592