Heinrich Haeckel an Ernst Haeckel, Stettin, 22. November 1909
Stettin, 22. XI. 09
bei Großvaters Geburtstag
Liebster Onkel!
Noch habe ich dir nicht gedankt für die freundliche Dissertationen etc. Sendung, die du vor deiner Abreise mir schicktest: ich hole das nach, ebenso wie für die Rücksendung des Baedeker-Abschnitts. Die Tage in Luzern waren ungewöhnlich nett, ich freute mich, daß du nach der scheußlichen Plate-Affäre wieder || Ruhe und die nach Bismarck zum Dasein zu nöthige „Wurschtigkeit“ gefunden hattest. Ich besuchte nach der Abreise in Karlsruhe Vierordt, in Frankfurt Georg, und dann ging es in die Winterarbeit, die die immer besonders reichlich zu sein pflegt. Der Herbst war hier ungewöhnlich schön, lange in den Oktober hinein schöne Sommertage, jetzt aber schon voller Winter im Schnee. Ich habe eine || famose Bismarck-Biografie vor, die eben, d. h. ihr erster Theil erschienen ist. Von Erich Marcks, die erste wirklich gründliche und zuverlässige Biographie. Sehr merkwürdig aber ist zu sehen, daß dieser doch sonst so weit über den Dingen stehende große Geist um sein 30. Lebensjahr sowie viele Jahre hindurch sich von seinen Freunden und pommerschen Nachbarn im pietistischen Sinne hat bearbeiten lassen, bis er || schließlich erleuchtet wurde und sich zum intensiven frommen Glauben bekannte. Sonst komme ich leider nicht viel zum Lesen, die tägliche Arbeit absorbirt zu viel Zeit. Indem ich dir einen guten Winter wünsche und Tante Agnes bestens zu grüßen bitte, verbleibe ich mit herzlichem Gruß
stets dein treuer
Heinrich