Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Potsdam, 12. August 1892

Potsdam d. 12 August 1892.

Lieber Ernst!

Gestern habe ich eine Nummer der Vossischen Zeitung vom 8t dieses Monats in Lichterfelde in den Briefkasten geworfen, über deren Leitartikel Du Dich hoffentlich mehr amüsiren als ärgern wirst. Er ist charakteristisch für die Haltung der deutsch-freisinnigen Partei gegenüber den Bismarck-Kundgebungen. Es ist bedauerlich, daß nicht einmal bei solchem Anlaß die Schreiber der Partei ihren Ärger und Haß gegen den großen Mann wegena früherer unliebsamer Behandlung unterdrücken u. ihm diejenigen b Anerkennung widerfahren lassen, die ihm jede national gesinnte Partei || jetzt und in aller Zukunft schuldig ist. Selbst Tante Bertha, die ständige Leserin von Tante Voss ist über die Haltung der Zeitung in dieser Hinsicht entrüstet. Das Berliner Tageblatt soll eine ähnliche Stellung eingenommen haben.

Eine Entgegnung von Deiner Seite würde ich unterlassen. Einzelne scharfe Ausdrücke in Deiner (mir nicht zu Händen gelangten) Auslassung, auf die sich der Artikel bezieht, hättest Du besser vermieden, so den der Untergrabung (oder wie es heißen mag) des Reichs durch die Partei. Da drückt sich denn doch Bismarck selbst vorsichtiger aus. Aber Du bist kein Jurist oder Politiker, der bei solchen Kundgebungen die Worte auf die Goldwaage legt! – Laß Dich auf keinen Zeitungskampf ein, der Dir die Ruhe, die Du nach Semestral- || und Bismarckfest-Arbeit bedarfst, rauben könnte! –

Heinz [hat] in seinem Briefe an Richard, – dessen Geburtstag wir gestern in Lichterfelde feierten, die Eindrücke des Festes, und namentlich des persönlichen Auftretens Bismarcks recht lebendig geschildert. –

Dein Brief an Tante Bertha, den sie mir vorgestern sandte (sie war auch gestern in Lichterfelde) gab mir den nöthigen Aufschluß über Eure Reisepläne. Ich konnte, nach Deiner Karte an mich, mir gar nicht zusammenreimen, daß Du jetzt schon, vor dem 20st dieses Monats, – nach Schottland reisen wolltest. Es ist recht, daß Du noch erst in Kissingen Dich ausruhst u. mit Agnes und den Töchtern dort bis 21st zusammen bleibst. Schreibe mir doch bald Eure dortige Adresse. ||

Mit mir bessert es sich dauernd. Ich hoffe auch die Nachtschweiße, die sich sehr vermindert haben, bald ganz loszuwerden. Siegfried ist wieder hier und Julius erwarte ich am 18t dieses Monats, bis wohin er noch in Danzig bleibt. Er hat eine lohnende Tour durch West- und Ost Preußen gemacht.

Mein Ernst ist auch so weit, daß er wieder eine geordnete Thätigkeit beginnen kann. c Er wird in einer der Bodelschwingh’schen Anstalten bei Bielefeld (wahrscheinlich in einem ländlichen Hof in der Senne, mit Gartenumgebungen u. Wald) in ca. 14 Tagen (zunächst als Volontair) eintreten. Die Anstalten von Bodelschwingh’s sind mir mehrseitig empfohlen; die Behandlung grade solcher (ich möchte sagen Halb-) Kranker soll eine sehr angemessne sein. Frl. Kniebe, die zu ihrer Erholung auf einige Wochen nach Minden geht, wird mit Ernst reisen.

Bei Hahn’s geht es gut; der Junge gedeiht prächtig u. wird meinem Georg u. meinem Bilde mit der Trompete ähnlich.

Nun, lieber Bruder, wünsche ich Dir u. den Deinen einen recht heiteren u. wohlthuendend Aufenthalt in Kissingen, grüße das Leipziger Paerchen u. behalte lieb Deinen (heute mit recht unsichrer Hand schreibenden) treuen Bruder

Karl.

a irrtüml.: wenn; b gestr.: (Gerechtigkeit u.); c gestr.: Ich; d weiter am Rand v. S. 4: thuenden Aufenthalt in…treuen Bruder Karl.

Brief Metadaten

ID
35292
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
12.08.1892
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,0 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35292
Zitiervorlage
Haeckel, Karl an Haeckel, Ernst; Potsdam; 12.08.1892; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35292