Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Potsdam, 13. Januar 1889

Potsdam

13 Januar 1889

Abds.

Lieber Bruder!

Mutters Zustand hat sich seit einigen Tagen, was die geistige Seite anlangt, wesentlich verschlimmert. Ein klares Denken tritt nicht mehr ein. Sie erkennt die Nächsten ihrer täglichen Umgebung, sagt ihnen ein freundliches und dankbares Wort; aber im Nächsten Augenblick ist sie mit ihrer Fantasiebildern beschäftigt, die meist auf häusliche Sorgen, Gesellschaft, die vorzubereiten, Gäste, die zu bedienen sind und dergleichen || sich beziehen. Dazwischen ist sie viel in einem schlummerähnlichen Zustand. Als ich heute vom Eislauf kam, redete ich sie „mein Mutterchen“ an u. nahm ihre Hand. Sie antwortete mit: „mein Herzenskind“. Ich erwiderte: „Das Alter ist doch schwer“, worauf sie „ja alles“, dann kam sie aber gleich wieder auf ihre Angstgedanken: „ob denn die Kinder auch genug hätten?, ob denn auch Marie da wäre?“ usw. Heute Vormittag sprach sie von der „Geheimen Räthin“, daß sie da sei. Sie meinte auf meine weitre Frage: nun die Helene. Ich sagte, die sei nicht da, und als ich bald drauf || herunterging, hat sie nachher zu Fräulein Rühs gesagt: „Da geht der Geheime Rath Jacobi fort.“ Du siehst darausa, wie sie fantasirt. Die lichteren Momente sind nur kurz: So hat sie heut Vormittag gesagt zur Rühs: „Helft mir doch denken, mein Kopf ist so wüst.“ Die ganze vorige Nacht hat sie aufgeregt fantasirt, so daß es für Frl. Rühs kein leichtes ist, sie zu besorgen, und doch muß das sein, da sie sich leicht blos wirft. Die Morphiumgaben wirken nicht mehr recht, regen || nur auf statt zu beruhigen, b Dabei ist der Athem regelmäßig und keine nächtlichen Beängstigungen; es kann noch länger so dauern. Wir wollen sie für nächste Nacht fortlassen u. bis 12 Uhr Frl. Rühs Ruhe gönnen; dann geht Marie erst zu Bett. Wird es schlimmer, so nehme ich eine Nachtwärterin. – Verändert sich dieser Zustand nicht zu einem klareren, so muß ich Dir abrathen, zu kommen. Jetzt hättest du nur ein viel wehmüthigeres Bild, als Du im October vorigen Jahres von ihr mit fortgenommen.

In Eile Dein

treuer Bruder.

Der Brief muß in den Kasten!

bDabei ist der Athem regelmäßig und keine nächtlichen Beängstigungen; es kann noch länger so dauern.

a eingef.: daraus, b weiter am Rand v. S. 4: Dabei ist der…länger so dauern.

Brief Metadaten

ID
35210
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
13.01.1889
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
10,4 x 17,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35210
Zitiervorlage
Haeckel, Karl an Haeckel, Ernst; Potsdam; 13.01.1889; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35210