Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Ragaz, 23. August 1889

Ragaz 23 August

1889

Villa Flora.

Lieber Bruder!

Da sitze ich in dem wahrhaft schön gelegenen Ragaz, genieße die erhabenen guten Stunden u. warte auf beständiges Wetter, um – wenn der Rücken sich bis dahin mehr gefestigt hat –, größere Ausflüge zu machen, nach denen ich mich recht sehne. Vorläufig studire ich sie im Baedeker u. lasse meiner Fantasie freien Lauf im Ausmalen des noch zu sehenden. Du kennst ja wohl auch Ragaz; verschrien wegen großer Hitze bei warmem Sommerwetter, läßt es jetzt an angenehmer Kühle nichts zu wünschen übrig. Ich genieße die frische Bergluft in einem freundlichen nach Süd Ost gelegenen Zimmer mit Balkon u. habe (2 Treppen hoch) die freie || Aussicht über einen ca. 1 Morgen großen Obst- u. Weingarten hinweg auf das Dorf und die Berghöhea jenseit des Rheins, auf die eigenthümlich gezackte Luziensteig-Kette u. den höher gelegenen Falknis sowie die nach Landquart zu sich hinziehenden hohen und kahlen Gebirgsspitzen. Rechts wird der Blick durch schöne mit herrlichen Buchen bedeckte niedrigere Waldabhänge begrenzt, durch welche die Tamina sich hindurchbricht. Der Gutschenkopf ein rundlicher, steilabfallender Fels, ragt unmittelbar über meiner Wohnung in etwa 500 Fuß Höhe aus dem Buchenabhang empor. Bis jetzt habe ich alle Morgen 6 Uhr warm gebadet, nach ½ - 1 stündiger Bettruhe gefrühstückt und Vor- u. Nachmittags je einen meist || zweistündigen Spaziergang gemacht. Zu Mittag wird in meiner kleinen, aber recht behaglichen Pension um 12½ Uhr gegessen, zu Abend um 7½ Uhr. Für Schweizerfrühstück, Mittag- u. Abendbrod (excl. Wein) zahle ich, mit der Zimmermiethe, 5½ fcs pro Tag (während ich eben einen alten Bekannten, Kammergerichts Rath Freischmidt aus Berlin) klagen hörte, daß er für sich u. seine Frau bei einem kleinen Zimmer in der Dependance des Quellenhofs (mit dem Hof Ragaz erstes Hotel Eines Besitzers) täglich 22 fcs. gebe. Kaffee oder Bier genieße ich billig in einem der Dorfgasthöfe. Die Bäder kosten je 2 fcs., ohne Unterschied.

Mit der Gesellschaft ist es bei || schlechtem Wetter noch etwas dürftig gewesen. Die Pension in meinemb Hause (bei einem früheren Herrnhuter Lehrer mit Frau u.c 3 Töchtern) genießen außer mir nur noch 3 Schweizerdamen u. ein morgen abgehender junger Kaufmann aus Mailand, der kein Deutsch spricht. Eine Justizräthin aus Dresden, mit der ich am ehesten plaudern konnte, ist heute früh abgereist. Des Berliners u. seiner Frau habe ich erst heute habhaft werden können. Der Pastor, an den ich von Ritter empfohlen bin, ist auf einige Tage verreist. – Von Hause habe ich heutd Nachrichten: Ernst hat wieder eine Stelle in Iserlohn u. ist vorgestern dorthin abgereist. Die Meisdorfer gehen mir viel durch den Kopf. – Ich schließe und bitte Dich, mir doch durch (internationale) Postkarte über Euer Befinden eventuell Reisepläne Nachricht zu geben. Hier würdet Ihr zu gleichem Preise wie ich in meiner Pension noch Unterkommen finden. Doch es zieht Euch wohl mehr nach eGastein; wenn nur erst das Wetter sich besserte! – Jetzt versäumst Du fnichts. Mit herzlichem Gruß an Dich und die Deinen

Dein treuer

Karl.

gBitte gieb diese Zeilen auch an Heinrich. –

a eingef.: Berghöhe; b eingef.. meinem; c eingef.: Frau u.; d eingef.: heut; e weiter am Rand v. S. 4: Gastein; wenn nur…Jetzt versäumst Du; f weiter am Rand v. S. 3: nichts. Mit herzlichem… Dein treuer Karl.; g weiter am Rand v. S. 2: Bitte gieb diese…auch an Heinrich. –

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
23.08.1889
Entstehungsort
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35192
ID
35192