Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Potsdam, 22. Juli 1874

Potsdam d. 22. 7. 74.

Lieber Bruder!

Heute bekommst Du einige Zeilen auf „Naglers Verdruß“, einmal, weil der Brief sonst zu dick wird, dann aber auch, weil Verdruß-Papier zu dem Inhalt paßt.

Je mehr ich mir Deine Situation überlege, desto mehr komme ich dahin, anzunehmen, daß die Gründe, die Dich zur Ablehnung der Bonner Stelle bewogen haben, überhaupt fast bei jeder Berufung in den nächsten Jahren Platz greifen werden. Du willst Arbeiten vollenden, zu denen Du die jetzige Sammlung in Jenaa nothwendig brauchst, und Du scheust wohin zu gehen, wo die Sammlungen in ihrem jetzigen Zustande Dir nicht genügen. Das halte ich nicht für Recht. Die anderen Vorteile, namentlich die einer andern günstigen Athmosphäre halte ich für so groß, daß Du jene Nachtheile mit in den Kauf nehmen mußt, || zumal dieselben sich ja auch nach u. nach beseitigen ließen und mildern.

Könntest Du nicht jederzeit in Jena mehrere Wochen Ferien zubringen und die alten Schätze benutzen? Und hast Du nicht zu lebhaft bloß an das gedacht, was Du in Jena zurückläßt, nicht aber auch an das, was Bonn Dir Neues bieten würde. Mit Sammlungen, mit denen Max Schultze doziren konnte, hättest Du Dich auch durchschlagen können.

Und was den Wirkungskreis betrifft, den hättest Du Dir auch nach und nach gewiß gebildet, so gut wie sich Deine Zuhörerschaft in Jena auch erst gebildet hat. Sei also offen und gestehe Dir nur selber: Du willst nicht aus Jena weg, außer vielleicht nach Heidelberg, weil dort Carl Gegenbauer ist. Namentlich wenn Du letztre Reservation Dir in Deinem Innern machst, hast Du erst recht Unrecht gethan. ‒

Schreibe mir, ob ich richtig Deine Gedanken errathen, oder welche andern Gründe Du hattest. || Ich möchte es gern bis zum 27st wissen. Die paar Minuten kannst Du b Dir wohl abmüßigen.

Ich fürchte Du wirst dies Ausschlagen später noch bereuen.

Was hat Dir Gegenbauer in dieser Sache gerathen? Ich kann mir nicht denken: das Abschlägliche, und wenn dazu Ursachen vorlagen, warum diese nicht in Bedingungen umwandeln, z. B. eine Portion Reisegeld, um die dortige Sammlung in einigen Ferienreisen vervollständigen zu können? –

Willst Du aber in Jena bleiben, so baute ich mir alsbald an Deiner Stelle ein solides Haus, in dem ich auch im Winter wohnen könnte oder kaufte mir eines.

Nichts für Ungut, aber wenn Du nicht einräumen kannst, daß ich recht habe, appellire an an den besser zu unterrichtenden

Bruder.

a eingef.: in Jena; b gestr.: Dich

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
22.07.1874
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35063
ID
35063