Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 9. Juli 1859, mit Beischrift von Carl Gottlob Haeckel

Sonnabend Abend 11 Uhr.

a Nach dem schönen, guten Abend, Herzliebchen, muß ich nun gleich mein Unrecht bekennen, das ich in diesem Augenblick gegen die Alten begehe, denen ich alle Abend versprechen muß, um 11 Uhr zu Bett zu gehen. Die Verlockung ist aber zu groß bei der klar stimmenden Kühle des Abends in Deinem Zimmer, an Deinem Tisch, unter allen bekannten Gegenständen, die immer so gern 4 Augen auf sich weilen sahen, daß ich nicht anders kann und den kleinen Teufel in mir siegen laßen muß. Überdem muß der Brief morgen abgehen, und bei Tage finde ich jetzt schwer eine ruhige Minute für mich heraus. Ich habe mich sehr erschrocken, als ich Donnerstag früh um 4 Uhr mit der Nachricht erwartet wurde, die Mutter habe ihren Krampf; jedoch fand ich ihn nicht so heftig, wie ich mir den im Winter gedacht habe und hoffe, sie wird sich unter meiner strengen Pflege, mit der Quincke sehr zufrieden ist, rascher wieder erholen. Daß Leichtsinn selbst im Alter noch statthaft ist, ist ein gutes Beispiel für uns Beide; einer Erkältung hat sie sowie der Alte seine rheumatischen Schmerzen zu verdanken. Da giebt es denn im Haus und mit der Mutter viel zu thun und in der freien Zeit, um sie nicht Langeweile im Bett fühlen zu laßen, lese ich ihr vor, jetzt Stifter’s Studien. Abends mache ich beim Alten auch den Vorleser und intereßirt uns das eben erschienene erste Heft der Bahrdtschen Reise in Afrika sehr. Dabei komme ich auf den Hauptpunkt meines Briefes, Deinen Plan nach Algier und in den Atlas, dem die Alten auf eine mir unbegreifliche Weise entschieden entgegen treten. Da ich weiß, Deine Abwesenheit von der Heimath wird darum nicht verlängert und der Geldbeutel auch nicht mehr in Angriff genommen, so würde ich bei Deiner Nähe des andern Welttheils und der vortrefflichen Gelegenheit nicht einen Augenblick zaudern, mag sein, daß ich einseitig und befangen in meinem Urtheil bin aus großer Liebe zu Dir, die alles || Gute und Schöne, was die Erde bietet, auf Dich herabwünscht und kann ich auch unmöglich den Gründen der Alten entgegentreten; der Alte fürchtet Schwindsucht des Geldbeutels, die ich weder erkenne noch heilen kann, und die Mutter wünscht Dich je eher, je lieber zurück, und wollte ich dem opponiren, müßte ich im Grunde unwahr sein oder bei ihr in falschen Verdacht kommen, daß ich nicht mit aller Gewalt auf Rückkehr dringe. Ich will nicht entscheiden, weßen Liebe hier die stärkere ist; aber ich kann mich so in Deine Wünsche und Pläne nach Afrika hineindenken, dem Du vielleicht nie wieder so nahe bist, daß ich eigentlich schon nach Deiner Andeutung im vorletzten Brief darüber es für abgemacht betrachtete, falls keine Mobilmachung zu Stande käme, gingst Du nach Algier und in den Atlas. Über die politische Sachlage hat Dich der Vater unterrichtet, ich schweige also darüber, um so mehr, da dies Mal wegen La Valette’s Brief der Raum für mich sehr klein ist, den der kleinste Staat im Staat mit Recht beanspruchen kann. Fast kein Brief hat mich so glücklich gemacht, wie der gestrige, mein lieber, lieber Erni, weil er Dich so glücklich und zufrieden schildert, wie ich Dich so gern weiß; ich kann dem Schicksal nicht genug danken, das Dir fern der Heimath unter ungebildeten und unverkehrlichen Menschen eine so reiche, edle und liebenswürdige Seele in Deinem neuen Freunde zugeführt hat, nicht genug danken dem trefflichen Allmers, daß er sich Deiner annimmt und Dir so nahe getreten ist, wie es unter verwandten Naturen nur der Fall sein kann; seine Wahl ist aber auch eine sehr glückliche gewesen, das weiß Deine Braut am besten.

„Wie schön, wenn auf der weiten Erden

„Zwei Geister gleichen Stoff’s sich finden,

„Sie müßen liebe Freunde werden,

„Die alles Edle gleich empfinden.“

Durch Deine jüngste Erfahrung wirst Du nun auch die Ansicht los geworden sein, daß man mit Niemanden || verkehren brauche, im Gegentheil den doppelten Werth im gemeinsamen Genuß des Augenblicks hat Dich das lange Alleinstehen in Italien jetzt recht erkennen lassen, wo Du jetzt eine so gleich fühlende, Deiner würdige Seele gefunden hast. Fast schilderst Du den Aufenthalt in Ischia und die Fahrt dorthin zu lockend, um die Sehnsucht nach dem Geliebten im Süden nicht zu lebendig werden zu laßen; wie würde ich jauchzen und jubeln, könnte ich die herrliche Natur auch einmal schauen, von der wir im Norden uns nur ein schwaches Bild entwerfen können. Halb genieße ich ja Alles mit Dir durch Deine lebendigen und begeisterten Briefe, denen gegenüber ich vor Dir einen recht langweiligen Eindruck von meinem nüchternen Geschreibsel vermuthe, und doch plaudere ich Dir so gern Alles vor, was mich bewegt, was ich äußerlich und innerlich erlebe, wenn mir nicht oft die rechten Worte zur Mittheilung fehlten. Ein Kuß, ein Blick sagt oft so viel und wie lange muß ich beides schon entbehren! Klagen paßt nicht zu meiner strengen Natur, und habe ich auch keine Ursache dazu, ich fühle mich augenblicklich körperlich so wohl, wie lange nicht (ich bin Quinckes Rath in Betreff des Molkentrinkens recht dankbar) und geistig lebe ich in Dir und Deinen täglich frischen Genüßen fort; ich bin so glücklich in Deinem Zimmer, wo der gestrenge Virchow, der tiefnachdenkliche Johannes Müller, das menschenfreundliche Gesicht Humboldt’s, und der strenge, finstere Vesall manche heimliche Thräne von mir sehen, aber meistens auch ein recht freundliches, heiteres Gesicht, das hoffnungsvoll und Glücksbewußt [!] in die Zukunft blickt. Glücklich bin ich auch, den lieben Alten eine Stütze und Aufheiterung sein zu können, obgleich es mir auf der andern Seite auch sehr leid ist, meinen lang gehegten Plan, eine Zeit lang bei Bleeks am schönen Rhein, meinem || Geburtslande zuzubringen und nachher mit Mutter die Verwandten in Westphalen zu besuchen, scheitern zu sehen; es kommt oft anders, wie man gewünscht und gedacht hat, da heißt es, sich schicken und das Gute und Angenehme der gegenwärtigen Lage herausfinden. Sonntag nach Absendung des letzten Briefes hörte ich mit dem Alten eine Predigt von Jonas und schüttelte nachher ein paar nothwendige Besuche bei Voswinckels, Brunnemanns und Dr. Loos ab. Den Abend brachten wir bei entsetzlicher Hitze bei Tante Bertha zu. Montag setzte ich der Alten Blutegel und saß den ganzen Nachmittag mit ihr bei der Mutter Reimer im Garten, der prächtig war. Abends kamb Helene her und ließ sich von August abholen, der Beckmann gesehen hatte. Dienstag Vormittag brachte ich auf ein paar Stunden im Garten allein mit meinen Liebesgedanken bei der Arbeit zu und war vergnügt, mit Dir allein sein zu können. Nachmittag nach dem Kaffee ging ich mit der Mutter zur Weiß, der und Beirich’s ich mehrere von Deinen Briefen vorlas zu Aller Freude. Sie ließen Dich 1000mal grüßen. Die Weiß war sehr lieb und nett zu mir, ich glaube, weil ich Deine Braut bin, denn Dich stellt sie sehr hoch. Mittwoch unternahm ich meine erste Marktexpedition und Nachmittags besuchten wir Beide die Kortüm, die, wie Du wohl weißt, ihren Mann vor 14 Tagen verloren hat. Sie war nicht zu Haus, woher Deine Alte zu Tante Bertha ging, ich bei Helene im Garten die herrliche Liebigsche Musik aus dem Nebengarten mit anhörte bis 8 ½ Uhr, wo ich zu Haus eilte. Dann kamen die kranken Tage, die gleichmäßig verlaufen sind und ich gar nicht herausgekommen bin. Heute geht es der lieben Alten viel beßer; sie kann sich mehr bewegen und soll morgen baden. Sie grüßt Dich 1000, 1000 mal, so wie Theodor mir gestern Mittag auch aufgetragen hat. Das dumme Papier geht zu Ende, und ich bin lange noch nicht fertig. Ich drücke ihm einen heißen Kuß für Dich auf als letzten Gruß vor dem Schlafen und dem süßen Träumen von Dir und dem blauen Süd. Ade [?] nun Deine Aenni. ||

[Beischrift von Carl Gottlob Haeckel]

9 Juli 59.

Lieber Ernst!

Seit mehreren Tagen sind Mutter und ich unwohl gewesen. Wahrscheinlich durch Erkältung! Das Wetter war so heiß, daß wir in der Nacht die Balkonthüre in der Balkonstube öffneten und die frische Luft durch die geöffnete Türe unseres Schlafzimmers in dieses letztere hineinströmen ließen, was Quinke sehr gemisbilligt hat. Ich bekam darauf Gliederschmerz im ganzen Untertheil meines Körpers und Mutter, die mir in der Nacht Tropfen aus der großen Stube holen wollte, hat sich wahrscheinlich beim Durchgehen durch die gelüfteten Zimmer erkältet, ungeachtet ich ihr aufs dringendste zur Pflicht gemacht hatte, sich warm anzuziehen und sie sich auch wirklich angezogen hatte. Mutter bekam nun vor 2 Tagen früh 4 Uhr wieder ihren Krampf wie im Februar und dann starken Rückenschmerz, welcher beständig die Hauptsache ist. Die Attacke ist dieses Mahl nicht so schlimm wie im Februar, auch ist Mutterc geistig munter, darf aber noch nicht das Bett verlaßen und fühlt sich auch sehr steif und unbeholfen. So sind wir denn beide Mutter und ich krankschälig. Gestern erhielten wir Deinen Brief mit Beschreibung Deiner Reise nach Ischia, worin Du Dich auch über Deinen weiteren Aufenthalt in Italien aussprichst. Heute bringen die Zeitungen die Nachricht von einem zwischen Oesterreich und Frankreich geschloßenen Waffenstillstande. Ob aber dieser Waffenstillstand den Frieden zur Folge haben wird? ist noch sehr die Frage, da Oesterreich noch Mittel genug besitzt, um den Krieg hartnäckig fortzusetzen. Wahrscheinlich treten nun Friedensvermittlungen von Seiten Preußens, Englands und Rußlands ein, wobei Preußen die Intereßen Oesterreichs mehr wahrnehmen wird als die übrigen beiden Mächte. Alle 3 werden wahrscheinlich darauf drängen, daß die Zustände in Italien beßer werden und daß Oesterreich nicht mehr den despotischen Einfluß dort übt, wie früher. Preußen wird aber wahrscheinlich nie zugeben, daß Oesterreich die Minciostellung verliert, weil Frankreich dadurch ein bedeutendes Uebergewicht in Italien erhalten würde, was Preußen Deutschlands wegen nicht zugeben kann. Es würde nicht lange dauern, so würde Frankreich unter allerlei Vorwänden einen d ähnlichen Einfluß in Deutschland zu erlangen suchen und auf diese Art übermächtig werden. Die Fortsetzung des Krieges ist also sehr möglich und in diesem Fall würde Deutschland wahrscheinlich darin verwickelt werden. Darüber können aber noch einige Monate hingehen und Du mußt Dich allerdings auf einen Ausbruch des Krieges gefaßt machen. Schon e deshalb kann ich auf eine Reise von Deiner Seite nach Algier nicht eingehn. Der 2te Grund ist, daß ich in den nächsten Monaten viel Ausgaben habe und Du also alle nicht durchaus nothwendigen Ausgaben, welche die Reise nach Algier doch verursachen würde, vermeiden mußt. f Bleibe also in Neapel und Sicilien und benutze den September um Sicilien kennen zu lernen und Anfang Octoberg schon h Deine Arbeiten in Messina zu beginnen. Bei der Ungewißheit Deines dortigen Aufenthalts mußt Du alle Zeit streng benutzen, um Deine Arbeiten so bald als möglich fortzusetzen. Es wäre ja möglich, daß du noch im Herbst abberufen würdest. Endlich läßt Mutter Dir sagen: Du müßtest Dich auf die zu Deiner Ausbildung nothwendigen Reisen, wozu Algier nicht gehört, beschränken. Auch ich glaube nicht, daß Dir Algier besonders intereßant sein und Dir besonderen Gewinn bringen würde. Unterlaß also diese Reise. Mutter meint: es wäre nun endlich Zeit, daß Du bald in die Heimath zurückkämst und Dir eine bestimmte Stellung für Deinen Beruf suchtest, da wir beide alt sind (Mutter ist nun 60 Jahr) und man nicht wißen kann, wie lange uns noch zu leben vergönnt ist. Daß Du Dich übrigens nunmehr in Neapel und Umgebung beßer orientirt und einen lieben Freund gefunden hast, freut uns recht sehr. In Freyenwalde ist alles gesund und Anna pflegt jetzt Mutter. Sonst wüßte ich Dir von hier nichts Neues zu schreiben. Dein dich liebender Alter Hkl

Die herzlichsten Grüße und Küße von Mutter.

[Adresse um 90 Grad nach rechts gedreht]

Al Signore Dottore Ernesto Haeckel

p. adr. Signore Ernesto Berncastel

Farmacia Prussiana

Largo San Francesco di Paola No 7

Napoli (Italia)

via Marseille

a gestr.: Gute; b korr. aus: kamen; c gestr.: sie; eingef.: Mutter; d gestr.: gl; e gestr.: dadurch; f gestr.: verbl; g gestr.: solltest; eingef.: Anfang October: h gestr.: dann

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
09.07.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Neapel
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34458
ID
34458