Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Freienwalde, 12./13. Juni 1859, mit Nachschriften von Carl Gottlob und Charlotte Haeckel

Freienwalde, 12. 6. 59.

Guten Morgen, mein süßer, lieber Schatz; wie gern wäre ich die schönen Festtage mit Dir zusammen, welch heiße Sehnsucht fühlt mein Herz nach Dir, der Du auch einsam in aller herrlichen Natur bist. Die Natur scheint mit das Fest zu feiern, so klar und wolkenlos ist der Himmel. Rosen, Linden und Akazien duften in den Gärten und am Wege um die Wette; Alles haucht Liebe, und ich kann Dich nicht einmal an’s Herz drücken, Dir in die treuen Augen blicken und Deine feste Hand halten. Das sind die schweren Momente der Trennungszeit, die jeder Tag Dir sowohl, wie mir bringt. Ich arbeite mit aller Kraft gegen sie an und wieder ist es die Liebe, die Ursache dieses Wehs, die auch die Lichtseiten, das Gute Deiner Abwesenheit, hervorhebt, und mir Muth und Hoffnung auf ein reiches Leben einflößt, von dem Du leider wenig oder gar nichts besitz’st. So leid und betrübt mir dies auch in Deinem Sinne ist, so gräme ich mich deßwegen doch nicht oder mache mir Sorgen wegen Deiner ganzen geistigen Entwickelung, Deinen wachsenden Zweifeln, je weiter Du in der Forschung der Natur, der Wahrheit vordringst; Du bist ein Jünger der Wißenschaft; wie kannst Du also verlangen, den jahrelangen, mühsamen Studien eines Johannes Müller und anderer bedeutender, erfahrener Männer Deine Arbeit von ein paar Monaten an die Seite zu stellen; wie ist es möglich, daß Du so schnell das Ganze der immensen Natur bis in die feinsten, zartesten Details überblicken kannst; was glaube ich nie dem Menschen vergönnt ist, und wenn es wäre, wohl nur nach längjährigen Erfahrungen möglich ist. Schelten muß ich Dich aber, daß Du das Neue, was Du im Leben und Entwickelung der Echinodermen gefunden hast, von vornherein für unrichtig hältst, weil es die bisherigen Ansichten umstößt, weil Du es eben gefunden hast. Ebenso häßlich, wie || Prahlerei, Renommage und Selbstüberschätzung am Menschen ist, ebensolchen Tadel verdient derjenige, der die in ihn gelegten geistigen Anlagen läugnet, und auf Kosten allzu großer Bescheidenheit sich nie seiner Kräfte bewußt wird. Du hast von Mutter solch schöne, edle Seele, einen so kräftigen, strebsamen Geist erhalten, daß Du auf dem Felde der Wißenschaft Etwas leisten mußt und wirst, wann und wie viel liegt im Schoße der Zukunft begraben, der ich gewiß nicht vorgreifen will. Du schreibst ja selbst, daß Du trotz der ewigen Zweifel, trotz der tausend vergeblichen Mühen, Dir Deine Arbeit, Dein Streben nach immer neuer Wahrheit, Dich beglückt, daß die Frucht des Paradieses die Vertreibung aus demselben werth ist. Ganz recht, ich theile diesen erhabenen, jugendlich frischen Gedanken, warum die Rose nicht halten und sich an ihrer Farbenpracht und Duft erfreuen, weil ihre Dornen verletzten können? „Warum des Lebens Schönes nicht mit vollen Händen greifen? – Weil an das Schöne Häßlichkeiten streifen?“

Darin mußt Du mich aber nicht mißverstehen, mein liebes Herz, als ob ich Dir meinen Glauben aufdrängen wollte. Das wäre unchristlich und [würde] den Zweck gänzlich verfehlen, will man einem Menschen Religion, überhaupt eine geistige Richtung aufdrängen; am allerwenigsten wird das Deine liebe Braut thun, die Dich ganz versteht, Deine herrliche, göttlich reine Seele zu würdigen weiß und voller Stolz an ihren reichen Schatz des Lebens denkt. Theile ich selbst doch nicht den Glauben an alle Dogmen der christlichen Kirche, wie diese es verlangt und habe in vieler Beziehung a freiere, natürlichere Ansichten über Leben und Lebenlaßen mir gebildet, als es vom christlichen Standpunkt namentlich von einer Frau verlangt wird. Warum soll ich aber mit Gewalt mir andere Ansichten aufdrängen, die mein || Herz weder erwärmen noch befriedigen und mir mit unserem Leben unvereinbar scheinen. Mein Glaube an die göttliche Kraft in der Natur steht unwandelbar fest, meiner Unterwerfung unter dieselbe verdanke ich meine Ruhe, meinen Frieden, meine Befriedigung über mich und mein Dasein. Ich wollte Dir ja eigentlich sagen, wie gern ich diese Festtage mit Dir in Capri, Camaldoli, Sorrent etc. kurz an den schönen Punkten umherstreifte, deren Reize ich in Gedanken oft und viel genieße; oder könntest Du hier in unserem gemüthlich netten Kreise sein und Deine Aenni lieb haben in der auch sehr hübschen Natur Freienwaldes. Gestern Nachmittag sind Deine lieben Alten und Adolph Schubert in furchtbarster Hitze im fünften Beiwagen der Post hier eingetroffen und bleiben acht Tage hier. Morgen in acht Tagen reise ich mit ihnen auf einige Wochen nach Berlin zurück und werde später mit Mutter in Westphalen zusammentreffen, vielleicht vorher noch einige Zeit bei Bleeks in Bonn verleben. Ich freue mich sehr die Verwandten Alle nach 13 Jahren einmal wiederzusehen; verändert werden sie und ich mich haben, ob zum Vortheil, wird der Augenschein lehren. Ich schreibe Dir, sobald b etwas über meine Reise bestimmt ist. Schicke also Deine nächsten Briefe nach Berlin, wo ich gewiß in Deinem lieben Zimmer schlafen werde; wie todt wird es mir sein und doch so reich an lieben Erinnerungen. Deine Schilderungen von Pompeji haben mich ungemein intereßirt; wie herrlich denke ich es mir, in diesem Stückchen Geschichte aus grauer Vorzeit umherwandern zu können, die man auf diese Weise gewiß am Besten lernt, ebenso wie Reisen die trefflichste Geographiestunde ist. Deine Kenntniße in diesen beiden Kulturfächern, die Du neben Deinem reichen Fach der Naturwißenschaft wenig oder gar nicht pflegen || kannst, werden durch diese schöne Reise auch bedeutend erweitert. Du bist allerdings zum Reisen wie geschaffen, denn ich kenne Niemanden, der so versteht Alles auszubeuten und sich die Hauptsachen, die für einen richtigen Totaleindruck nothwendig sind, herauszusuchen, wie Du. Glückspilz bist Du auch nebenbei, in Pompeji wieder mit Deutschen zusammenzutreffen, mit denen zusammen Du Dein liebes Vaterland, Deine speciellen Lieben dort hast leben laßen und über die Herrlichkeiten vor Dir nicht hast vergeßen können. Der Krieg scheint ja jetzt in Oberitalien hell aufzulodern. Die Österreicher haben nach der Schlacht bei Magenta einen geordneten Rückzug angetreten; Victor Emmanuel und Napoleon sind feierlich in Mailand eingezogen; mich soll wundern, wer Sieger bleiben wird, danach wird unsere Stellung sich gewiß auch richten. Von Mobilmachung verlautet vorläufig gar nichts; sei Deinetwegen also ganz ruhig und laß Dich in der Arbeit nicht stören. Auf Capri freue ich mich mit Dir; dort wirst Du die Hitze eher ertragen können. Es ist kaum möglich, einen ordentlichen Gedanken faßen zu können, mein lieber Schatz, Deine Mutter, Karl, Adolph Schubert, Hermine und kleiner Herman unterhalten sich auf’s Lebhafteste; und doch ist dies das einzige Zimmer zum Schreiben; dabei amüsirt mich sehr, wie Deine Alte Adolph Schubert zum Heirathen perfundirt, was nicht recht Gehör finden will. Eben wird zum Eßen gerufen; nach Tisch werde ich mehr Ruhe haben. Ade ein Weilchen.

Da bin ich wieder, mein lieber Erni und kann Dir nun ungestört vorplaudern, was ich in der letzten Woche gethan und gedacht habe; intereßant ist es freilich immer nicht, Du mußt es aber doch wißen, und schreibst ja auch, daß Du zufrieden mit meinen ausführlichen Berichten bist und bittest mich, so fortzufahren. ||

Montag 6. schickte ich gegen Mittag den letzten Brief an Dich ab und erkundigte mich gleichzeitig auf der Post, ob kein Brief für mich angekommen sei; vergebens, das wäre nach langer Zeit die erste Unregelmäßigkeit gewesen; am Abend dachte ich anders. Da wir Wäsche hatten, konnte an Ausgehen nicht gedacht werden; ich las Nachmittag in North and South; bin aber seitdem noch nicht wieder dazu gekommen.

Eben kommt Deine gute Alte und gibt mir einen herzlichen Kuß für Dich mit der Bemerkung, schreiben würde sie Dir nicht, da Dir ein Brief von mir willkommener und inhaltreicher sei. Heute Mittag haben wir mit 57 Moselwein, den Karl vor einigen Tagen abgezogen hat, auf Dein Wohl getrunken, das erste Mal, daß ich seit langer Zeit wieder Wein getrunken habe. Mein Husten ist übrigens vorüber und zur Verhütung von ähnlichen Katarrhen muß ich noch meine 6 mal Brunnen und Molken trinken. – Abends lasen Hermine und ich abwechselnd bei der Arbeit Schleiermacher’s Briefe vor; um 11 Uhr kam Karl wohlbehalten an und brachte den letzten lieben, lieben Brief von Dir mit; leider mußte ich noch mitgebrachten Brunnen und Pulver zum andern Morgen auspacken, so daß es 12 Uhr geworden war, ehe ich das Blatt für mich allein durchlesen konnte, das mir Dein Inneres ganz enthüllt; was kann einem Menschen Schöneres werden, als daß er die Seele eines Zweiten klar durchschauen kann, den herrlichen Lichtseiten derselben nachzustreben hofft und die Schattenseiten nicht unberücksichtigt läßt, einmal mit dem Bemühen, sich dieselben nicht anzueignen, andererseits denselben nach besten Kräften entgegenzuwirken und dem [!] Menschen zur Klugheit über sich selbst kommen zu laßen, eine der schwierigsten Aufgaben für jedes einzelne Individuum. Du schreibst so wahr und lieb, daß ich dem Blatt Papier einen innigen Kuß aufdrückte, mit Deinem lieben Bilde einschlief und erst am anderen Morgen die Wanderung durch Pompeji antreten konnte. Dienstag ging ich mit Deinem Briefe die Brunnenstraße hinunter in den Wald an || einen stillen Platz, wo ich von Nachtigallen begrüßt las von der genußreichen Expedition nach Pompeji, das Du gewiß noch öfter besuchst und mir viel nach Deiner Rückkehr davon erzählen mußt. Das war ein schöner Anfang für den sonst sehr unruhigen Tag; bald war ich auf dem Hof in glühender Sonne, um Wäsche aufzuhängen oder abzunehmen, bald oben im kühlen Zimmer dieselbe glatt legend, wobei meine Gedanken ungestört nach der Santa Lucia eilen konnten. Nachmittag beim Kaffee gab ich Deinen Brief zum Besten; setzte dann meine Beschäftigung vom Morgen bis spät Abends fort und kroch recht müde in’s Bett. Mittwoch Morgen begleitete mich Karl auf meinem Spaziergang, den wir über den Ruinenberg nach dem Akazienberg machten, und von dort durch Waldpartien auf die Berliner Chaussee kamen und so den Rückweg antraten. Bis Mittag hatte ich noch Wäsche zu legen; erhielt einen Brief von Emilie Scheller, mit der freundlichen Bitte, die Pfingsttage bei ihnen zuzubringen, da Mutter auf der Rückkehr von Steinspring dort acht Tage bleiben wollte. So gern ich einmal bei Schellers wäre, war es unter diesen Verhältnißen doch nicht möglich. Nach Tisch wurde die Rollwäsche ausgelegt und gegen Abend um 6½ Uhr machten wir bei eingetretener Kühle noch einen sehr schönen Spaziergang nach der Geschwisterbank herauf, von wo ich den Blick auf die geschmackvollen Baumpartien an der Mühle so gern mag, dann ein ganzes Stück in den herrlichen Wald hinein und die Brunnenstraße wieder zu Haus. Jedes Mal, wenn ich mich so recht innig über die frischgrünen Bäume c freue, muß ich denken, wie gern Du sie dort sähest, und doch scheinen sie mir gar nicht zum südlichen Charakter zu paßen. Sie sowohl wie die saftigen, bunten Wiesen rufen bei uns die Färbung in der Landschaft hervor, wogegen in Italien Meer und Himmel die zauberhaften Lichteffecte hervorrufen, die durch das dunkele Graugrün der Bäume sanft gemildert werden und auf diese [Weise] Harmonie in das Ganze || kommt. Ich glaube meine Vorstellungen vom Süden sind doch nicht ganz richtig und werden durch Deine Erzählungen erst d ein getreues Bild verschaffen. O wie viel, viel wirst Du mir vorzuplaudern haben und wie gespannt werde ich Dir lauschen! Die Zukunft schwebt mir köstlich vor! Gemach, gemach, ich will ja nicht träumen. – Donnerstag Morgen war ich wieder auf der Königshöhe über eine halbe Stunde, weil ich immer und immer wieder in die schönen Bäume auf den gegenüber liegenden Bergen sehen mußte und mir eben aufgeblühte wilde Rosen heim nahm. Auf der Chaussee ging ich nach Haus zurück, nachdem ich in der Stadt noch mehrere Besorgungen gemacht hatte. Die Auffrischung that an dem Tage Noth, da ich gleich nach dem Frühstück bis Nachmittags 4½ Uhr plättete (Pause für Mittagbrod natürlich ausgenommen). Dann trank ich den edlen Mocca bei Marie Fritzner vor dem Landhaus im Freien. Sie sowohl, die sie vor zwei Jahren eine Reise mit ihrem Mann nach Norwegen gemacht hat, wie ihre Schwägerin eine Norwegerin mußten mir viel von dem schönen Ländchen erzählen, deßen Besuch auch in unseren Reisesatz mitaufgenommen ist. Dabei erfuhr ich, daß man dort noch wenig oder gar nicht correspondirt, sondern sich die Mittheilungen gegenseitig auf telegraphischem Wege zu kommen läßt, was enorm billig ist und natürlich Zeit spart. Nach dieser Norwegerin zu urtheilen, muß das Volk unverdorben, natürlich und gemüthlich sein. Fritzners haben damals die ganze Reise mit dem Maler Tiedemann gemacht, der uns im vergangenen Jahre so hohe Genüße auf der Ausstellung verschafft hat. Ehe ich es vergeße, muß ich Dir doch mittheilen, daß gestern kurz vor der Abreise Deine Alten ein Paquet mit Deiner letzten Arbeit in vielen Exemplaren von Georg Reimer erhalten haben, ein Beweis, daß sie nun der Oeffentlichkeit und ihrem Urtheil übergeben ist. Schon im letzten Brief vergaß ich Dir mitzutheilen, daß Max Schultze nun officiell zum ordentlichen Profeßor in Bonn ernannt ist und ebenso der Dr. Pflüger als Profeßor der || Physiologie daselbst; er hat also seinen Wunsch erreicht, den er an dem Abend bei Quinckes aussprach. Ob Hartmann wirklich Max Schultze’s Stelle annehmen wird, bin ich neugierig darauf. Hermine kam am Donnerstag Abend, nachdem sie Heinrich befriedigt hatte, noch nach und saß noch zwei Stunden mit uns in der lauen Sommerluft. Karl hatte einen auswärtigen Termin gehabt und kam noch später, wie wir zu Haus. Die Abende denke ich mir am schwersten für Dich; da ist man nicht gern allein und fühlt die Einsamkeit im fremden Lande doppelt schwer. Ich bin ganz böse auf Neapel, dem ich den Verlust Deiner schönen Perrücke zu verdanken habe; beßer und sicherer mag es für Dich gewesen sein, allein vortheilhaft ist es nicht für Dich und entschieden eine Verstümmelung Deiner Natur; Dein Kopf muß langes Haar haben und hoffe ich bis zur Rückkehr auf kräftigen Nachwuchs. Laut Depesche ist gestern Nachmittag Fürst Metternich in Wien gestorben; eigenthümlich, daß sein Ende gerade in diese verwickelten politischen Zustände fällt, die er vielfach auf seinem Gewißen hat. Freitag Morgen ging ich bis zur Sonnenburger Chaussee, wollte von dort aus über den Kahlenberg zurückkehren, verirrte mich aber im Walde nicht zu meinem Schaden, denn ich kam durch reizende junge Birkpartien, Buchen, Kiefern und Eichen und schöne tiefe Schluchten, freilich ohne Waßer, bis ich schließlich auf der Rückseite der Gärten an der Brunnenstraße herauskam; ich ging noch zu Frl. Wangemann, um eine Bestellung auszurichten und ihr einen eben gepflückten Feldblumenstrauß zu schenken, der viel Freude machte. Den übrigen Tag habe ich eifrig bei der Arbeit geseßen, um mein Weihnachtskleid von Deinen Eltern noch zum Fest fertig zu machen; was mir schließlich doch nicht gelungen ist. Gegen Abend setzten Hermine und ich uns mit Anna und Heinrich in den kleinen Garten, von duftenden Rosen rings umgeben. Leider blühen Bäume und Blumen wohl bei der großen Hitze nur sehr kurz, so daß die Freude nicht lange dauert. Karl kam erst spät von Hohenwutzen || zurück. Sonnabend früh erkletterte ich den Monte Caprino, hatte eine freie, klare Aussicht in’s Bruch; machte den Rückweg durch’s Mühltal; nahm dann noch ein Bad im Alexandrinenbad, eine Festfeier für den Korpus und eilte dann schleunigst zum Frühstück. Dann backte ich Rolle und Napfkuchen zum Fest, der Allen sehr mundet, und Deinen Beifall gewiß auch haben würde, räumte mein Zimmer für Deine Alten ein und setzte mich dann an die Arbeit. Ein Brief von Mutter nebst Kistchen mit Taufkuchen aus Steinspring brachte Desert zum Mittag, das die Kinder namentlich nicht verschmähten; Dein großes Kind delectirte sich nach langer Zeit auch einmal wieder an Studentenfutter, meiner kleinen Paßion, wozu uns Karl vom 57er zu kosten gab, der am Morgen bei einem solennen Frühstück von Grieben, Sekretär Schwant und Direktor Löwe probirt worden war. Um 4 Uhr gingen wir nach der Post um Deine Alten abzuholen; mußten aber über 1 Stunde warten, ehe das Posthorn annoncirte und zwar außer dem Hauptwagen noch 5 Beiwagen. Adolph Schubert kam auch mit, der im Gasthof wohnt und den Tag über hier ist. Er hat in Alt-Golm bei Bernhard Reimer, bei dem er seit dem April ist, in Folge der Begeisterung über den Lohengrin ein großes Gedicht verfaßt, das er uns morgen vortragen will. Nachdem die Alten sich durch Kaffee nach der heißen, angreifenden Tour gestärkt hatten, ging der Alte noch mit Adolph Schubert spazieren, Karl hatte wieder einen Termin außerhalb, zu dem er die beiden Jungens mitnahm. Abend ging Alles früh schlafen, nur Hermine und ich nicht, die wir uns bei der Hitze noch nicht dazu entschließen konnten. Soweit gestern Abend (es ist nämlich Montag Morgen geworden). Gestern früh bin ich mit Karl und dem lieben Alten im Wald umhergestrichen, bis wohin die Pfingstgäste sich noch nicht erstreckten. Um 9 Uhr waren wir in der Kirche und genoßen stickende Hitze und keine gute Predigt. Dann habe iche nach dem 2ten Frühstück mit Dir geplaudert und Nachmittags nach dem Kaffee, alsf eine tüchtige Regenhusche die Luft abgekühlt hatte, gingen wir nach dem Brunnen heraus, hörten Musik und sahen die fremden Menschen auf- und niederwogen, unter denen hier und da Bekannte auftauchten. Die Übrigen machten von da noch einen weiteren Spaziergang; ich brachte die kapute Alte und die Kinder nach Haus und besorgte Abendbrod, nach welchem Karl verschiedene wieder kriegerisch aussehende Artikel vorlas. Als Alles zu Bett war, habe ich noch an Dich geschrieben, bis die Müdigkeit mich überwältigte. Heute Morgen begleitete mich Dein Vater auf die Königshöhe, wo trotz bezogenen Himmels die Wälder das Auge feßelten. Ich muß schließen, da der Alte noch ein paar Worte hinzufügen will. Ich hoffe stark, heute noch einen Brief zu bekommen, wie Du gewiß heute meinen letzten erhältst. Nebst herzlichen Grüßen von Karl, Hermine u. der guten Mutter gibt Dir in Gedanken einen innigen Kuß Deine treue Aenni.

[Nachschrift von Carl Gottlob Haeckel]

Lieber Ernst!

Seit vorgestern sind wir hier und genießen die schöne Natur. Adolph Schubert ist auch hier. Wir wollen 8 Tage hier bleiben. Es sieht sehr kriegerisch aus, halte Dich zur Abreise bereit. Wenn Du jetzt abberufen werden solltest, so mußt Du Sicilien ein ander Mahl [!] nachholen, da doch der Aufenthalt in Messina für Deine wißenschaftliche Ausbildung wesentlich nützlich erscheint. Es wäre doch aber nicht unmöglich, daß der Streit jetzt beigelegt würde, in diesem Fall kannst Du jetzt auf der Insel, und im Winter in Messina bleiben. Wir haben jetzt einige Wochen sehr schönes Wetter gehabt. Mutters Kräfte sind noch nicht vollständig wiedergekehrt, sie klagt auch über den Rücken, den Rest des Hexenschußes, sie badet fleißig. Ich denke, den Monat August wieder hier in Freyenwalde zuzubringen, da es hier doch sehr hübsch ist, besonders die schönen Waldungen sind sehr erquickend. Deine Vettern sind meist zu den Mobilmachungen eingezogen. Ottilie Lampert ist wieder nach Schlesien zurück. Deine Anna wünschen wir den Juli über bei uns in Berlin zu haben. Carl ist vor 8 Tagen in Dortmund gewesen, um der Generalversammlung der Westphalia beizuwohnen. Es sieht dort recht gut aus und wir hoffen im Jahr 1860 die erste, wenn auch sehr mäßige Dividende zu bekommen. Dagegen sieht es im Thüringischen Bergwerk sehr schlecht aus, man hat viel Geld verbrannt und noch kein Erz gefunden. Es hat uns dort an einem tüchtigen Techniker gefehlt, den wir in Westphalen haben. Anna mahnt zum Schluß. Dein Alter Hk

Deine Beschreibung von Pompeji hat mich höchlich intereßirt.

[Nachschrift von Charlotte Haeckel]

Nun, mein Herzens Sohn, noch den herzlichsten Gruß von Deiner alten Mutter. Halte Dich gesund und sei vorsichtig in jeder Art. –

[Adresse]

Al Signore Ernesto Haeckel. | p. ad. Signore Ernesto Berncastel | Farmacia Prussiana. | Largo S. Francesco di Paola 7. | Napoli (Italia). | via Marseille

a gestr.: eine; b gestr.: best; c gestr.: denk; d gestr.: rich; e Textverlust durch Ausriss, sinngemäß ergänzt; f Textverlust durch Ausriss, sinngemäß ergänzt

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
13.06.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Neapel
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34454
ID
34454