Anna Sethe an Ernst Haeckel, [Berlin], 30. April – 2. Mai 1859, mit Beischriften von Karl und Carl Gottlob Haeckel
Sonnabend 30. 4. 59.
Es ist 12 Uhr, mein lieber Schatz, zu welcher Stunde Deine Aenni eigentlich längst schlafen und von ihrem besten Theil träumen sollte; es kommt aber einmal solch ein unruhiger Tag, wo eine Ausnahme gemacht werden muß, und überdies ist mein Herz so voll, daß ich mir Luft machen muß. Schon die ganze Woche habe ich schreiben wollen und bin vor Arbeit und Unruhe, die ich so satt bin, nicht dazu gekommen; hundert Briefe habe ich in Gedanken geschrieben und mich unaufhörlich mit Dir beschäftigt. Der Krieg ist unausbleiblich für Preußen, das leider wieder in eine unglückselige Stellung gerathen ist und einer Verbindung mit Österreich nicht wird ausweichen können. Heute Abend brachte Heinrich die Nachricht mit, daß Montag sämmtliche Armeecorps mobil gemacht würden; bisher war nur die Reserve vom 3, 7 und 8 Armeecorps einberufen, dann müßen die beiden Brüder marschfertig sein; Du kannst denken, wie uns das nahe geht und dazu reis’t Mutter morgen früh nach Steinspring, wo heute Morgen laut einer Depesche ein kräftiger Junge glücklich geboren ist. Da habe ich denn den ganzen Tag für Mutter gestichelt, viele Besuch gehabt von Tante Sack, Tante Untzer etc; auch Magdalene Dieckhoff war ein paar Stunden bei mir; Abends noch Jacobis und Dein Bruder Karl, der gestern herüber gekommen ist. Ach wenn sie Dich nur nicht jetzt abriefen oder Du keiner Gefahr im kriegerischen Italien ausgesetzt wärest, was glaube ich, noch näher liegt wie das Erstere. Dein Blondkopf wird den Deutschen nur zu sehr verrathen, auf den ich so stolz bin. Sei klug und vorsichtig, mein liebes, liebes Herz, Gott wird Dich schützen, wie er Deine Aenni täglich mit frischem Muth, neuer Hoffnung und Ruhe und Zufriedenheit stählt. Ich entbehre entsetzlich viel in der Trennung von Dir und doch wiegt es den Gedanken an ein frohes Wiedersehen nicht auf, so fern es auch noch liegt. Ich komme mir so leer, so dumm und so abgeschloßen vor, daß ich manchmal vor mir selber erschrecke; die Quelle ist versiegt, wird aber gleich einem artesischen Brunnen wieder hervorsprudeln, wenn Du sie anbohrst. Verzeihe den prosaischen Vergleich; ich las heute im Roßmäßler über artesische Brunnen und habe wieder sehr viel Neues und Intereßantes gelernt; das Buch ist wirklich vortrefflich und erhöht meine leidenschaftliche Vorliebe zum Waßer noch mehr; dieser unermeßlich gewaltigen Kraft in Zerstörung und Bildung, Entwickelung der tiefsten Erdschichten und höchsten Himmelsräume. || Was ich überhaupt bei diesem speciellen Abschnitt über das Meer und namentlich deßen Anfang das schöne Glasbrennersche Gedicht, gefühlt, gedacht und nachgelebt habe, brauche ich wohl kaum anzudeuten; mein Blick flog dabei nach dem Plätzchen in meiner Stube hin, wo Du und ich am 3 Mai zum ersten Mal einer Liebe Ausdruck gaben, die sich still eingeschlichen, aber desto festere Wurzel geschlagen hatte, um als starker Baum schon jetzt seine breiten Äste über Länder und Meere zu breiten, ja der über die Erde fort in das Jenseits hinaufwachsen wird, wo meine Seele der Abglanz der Deinigen, Dein Wiederschein sein wird; die Liebe kann nicht aufhören, so mächtig auch der Tod an ihr zu rütteln versucht; sie dauert über das Grab fort, mein Erni; wenn Du auch nichts davon wißen willst. Der heutige Tag hat uns ein liebes, hochverehrtes Glied, das Haupt unserer Familie genommen und wiederum ein neues eingereiht, das hoffentlich dem Urgroßvater alle Ehre macht. Genug für heute; meine Augen wollen sich schließen, um morgen wieder beßer und klarer zu sehen. Gute Nacht, süßer Schatz; so sehr ich Dir guten Schlaf wünsche, so gern flöge ich statt seiner zu Dir und würde Dich vielleicht auch erquicken; felicissima notte!
Sonntag, den 1 Mai. Ich mußte heute Morgen gleich an den ersten Mai des vergangenen Jahres denken, wo Du Johannes Müller zu Grabe trugst und ich Dich in tiefem Schmerz sah über den Verlust des Koryphäen der Wißenschaft, Deines besten Lehrers, den Du nach Deinem letzten Brief immer wesentlich entbehrst. Später kam Karl und sprach den Wunsch aus, zu Herminens Unterstützung gleich mit ihm nach Freienwalde zu gehen, was denn auch beschloßen ist, trotzdem ich sehr gern noch bei Deinen Eltern geblieben wäre, die dies im Verein mit Ottilie wünschten. Demnach werde ich Dienstag wieder meinen Wohnort verändern, was ich wirklich herzlich satt bin; ich komme mir vor wie mobil gemacht, ohne in’s Feuer zu gerathen. Nun muß ich wieder Abschied nehmen von allen meinen lieben Sachen, von meinem trauten Zimmerchen; heute Morgen habe ich sämmtliche Herbarien durchblättert und mich unbeschreiblich über meine üppige Flora gefreut, an der ich jedes Mal neue Reize entdecke. Die lieben Hände möchte ich immer faßen, die die schönen Exemplare so sinnig und sauber arrangirt haben und deren Werk ich in vollem Maße anerkenne. || Nun von meinem Leben. Montag am 2 Ostertage erhielt ich Deinen lieben Brief, eben nachdem ich den an Dich expedirt hatte und im Begriff, zu Untzers zu gehen und Tante Julchen zum Geburtstag zu gratuliren und dann bei Deinen Eltern zu Mittag zu eßen. Daß der Besuch nicht allzulange wurde mit dem ungelesenen Brief in der Tasche, wirst Du Dir erklären können. So sehr er mich gefreut hat, so muß ich Dich doch etwas schelten über Deinen Kleinmuth, wohin Dich unruhiges Streben nach Vorwärts, das in seiner Art so edel und schön ist, bringt. Ich kann mir unmöglich denken bei Deinem unendlich reichen Material, daß Du schon nach ein paar Wochen, in denen Du obenein noch schlecht versorgt worden bist, Dir schon ein bestimmtes Thema festsetzen und dem entsprechend eine abgegrenzte Arbeit anfertigen kannst. Darum aber nur nicht den Muth verloren, herziger Erni; laß Dich nicht vom Stoff bewältigen, Du wirst schon seiner Herr werden, wenn Du auch sehr viel Schwierigkeiten dabei wirst durchmachen müßen, ohne Lehrer, ohne Anleitung bei dem Umhertappen in den unzähligen Thierchen, die das Meer beherbergt. Könnte ich nur bei Dir sein und wenigstens die kleinen häuslichen Sorgen abnehmen, in denen Du jetzt meinem späteren Berufe vorgreifst. Du dauerst mich wirklich, rein machen und einkaufen zu müßen wie gern, wie gern besorgte das Deine Aenni, wüsch und trocknete Dir Deine Gläschen und rief dir immer Muth zu. Jetzt, wo die Engländer wieder nach Rom sind, wirst Du gewiß reichlicher bekommen, wenn das Volk, den Freiheitsideen huldigend, nicht vielleicht noch fauler werden [wird]. Daß die Frau Blöst so krank ist, thut mir recht weh; ich hoffe Dein nächster Brief, der eigentlich morgen ankommen muß, meldet ihre Genesung. Es muß ein schönes Gefühl für Dich sein, die Überzeugung zu haben, Dein Mittel hat geholfen; sie ist dem Leben wieder näher. Wenn sie sich nur in dieser Zeit recht schonen kann, ihr Mann muß doch gewiß auch in’s Feuer, was für sie nicht ohne große Aufregung sein kann. Recht bös bin ich Dir, daß Du die schöne Gegend nicht mehr benutzest; Sonntags mußt Du feiern und Dir auf den Bergen, oder am Meer im Blick auf dieselben und die schönen Inseln Kraft und Frische für die ganze Woche holen, in der Du hoffentlich auch täglich nach der Mahlzeit einen Spaziergang vornimmst. Du schreibst so lieb, so lieb, || wie immer, dafür einen Kuß. Wie kann ich Dein Heimweh, Deine Sehnsucht begreifen, die ich von gleichen Gefühlen bewegt werde. Die Briefe sind immer ein Lichtstrahl, der auf acht Tage ganz gut Licht und Wärme ausstrahlt. Ich hoffe nicht weder für Dich, noch mich, daß die Briefe in Folge des Krieges langsamer oder unregelmäßiger gehen; verspreche Dir aber mich nicht zu ängstigen, wenn nicht so pünktlich einer ankommt. Wir plauderten den Mittag viel, viel von Dir. Nach dem Kaffee spielten Ottilie und ich quatre-main, alle Sachen durch, die wir zusammen gespielt haben, bis zum Dunkelwerden, dann begab ich mich zu Haus, wo Helene sich auch zum Thee einfand. Ich las Lesbares aus Deinem Briefe vor und war guter Dinge. Dienstag Morgen nähte ich bis 12 Uhr, dann ging ich durch die Bellevue-Straße zu Magdalene Dieckhoff und sah auf dem Wege prachtvolle Blumen, weiße und dunkelrothe Rhododendern, mit Kamelien, anderen Blumen in den verschiedensten Farben prangend, untermischt vor Privathäusern aufgestellt, dazu waren die Kastanienbäume der Straße ganz grün, die Sonne schien, Alles Freude für mich; ich ging plaudernd mit Magdalene die Straße auf und ab, die eben aus der Ravenau’schen [?] Bildergallerie kam. Dann ging ich zu Helene, wo ich meinen Liebling: Ernst Brunnemann traf, der wegen Plattfüße nicht mit mobil gemacht wird. Als er fort, ging Helene mit mir, ein Stück Leinewand zu kaufen, das ich nach Tisch gleich zuzuschneiden anfing. Am Morgen hatte Theodor uns besucht, der Tages zuvor angekommen war und Nachmittag wieder abreis’te; er grüßt Dich herzlich, sieht aber sehr elend aus. Ich ging Nachmittag mit meiner Leinewand zu Tante Bertha herüber, wo sich bald auch Deine Alte nach langer Zeit einmal einfand; gegen Abend kam Onkel auch und nachdem Tante Bertha uns eine sehr schöne Rede Bethmann-Hollwegs über die Dißidentenfrage, im Februar gehalten, vorgelesena hatte, eilte Jeder zu Haus. Deiner Mutter ist die Ausfahrt (zurück ging sie) gut bekommen. Mittwoch Vormittag wurde wieder Leinewand zugeschnitten, wobei die Gedanken ungestört nach dem Süden eilen konnten. Nachmittag war Magdalene ein Weilchen bei mir, dann Ottilie Lampert, mit der ich wieder etwas quatre-mani spielte, gegen 7 Uhr mit ihr und Heinrich zu Tante Bertha ging, wo letzterer || uns eine sehr intereßante Broschüre der Neuzeit: eine politische Todtenschau vorlas, die die Verhältniße in Preußen (Königsberg) namentlich Emil Lindenbergs Treiben schildert. Daß sie gut und gewiß auch wahr ist, siehst Du daraus, daß sie verboten ist und Verfaßer sich anheischig macht, sobald eine Thatsache, eine Meinung ihm widerlegt werden kann, er augenblicklich seinen Namen nennen werde. Ehe ich es vergeße: Dein Alter bestellte mir Tages zuvor, daß er bei dem Bildhauer Süßmann gewesen sei, der den Wein erhalten und schon vor zwei Monaten durch Bleichröder an das Haus Rothschild die Bezahlung angewiesen hat. Dein Alter kam nach 9 Uhr, um Ottilie abzuholen. Wir saßen noch eine Stunde beisammen. Donnerstag Vormittag machte ich mit Ottilie Lampert zusammen Besorgungen, aß dann bei Deinen Eltern und war Abends zu Haus, wo Klärchen Mollard uns besuchte und viel von Venedig erzählte, das sie sehr entzückt hat; zu Haus sei es aber auch beßer, eine Meinung, die mir aus Deinem letzten Brief auch hervorgeht, trotz der schönen Natur Neapels. Ich theile diese Ansicht und hoffe, daß Du in Zukunft nach einer längeren Reise auch recht gern in die Heimath zu Deinem Frauchen eilst. Ich mußte Abends noch nothwendige Briefe schreiben, schlief dann ein. Freitag Vormittag wurde wieder Leinewand geschnitten. Nach Tisch zum Kaffee fanden Heinrich, Ottilie und ich uns wieder bei Tante Bertha ein, um die Todtenschau fortzusetzen; leider wurden wir aber vielfach unterbrochen; zuerst kam Frau Kortum mit einer hübschen, liebenswürdigen Nichte, einer Holsteinerin, die jetzt bei ihr zum Besuch ist. Sie erzählte mir viel von Italien, wo sie ein halbes Jahr mit ihrem Mann gewesen ist, wovon 3 Monate auf Rom kommen und trug mir herzliche Grüße für Dich auf. Er hat sich sehr erholt nach der Abgestumpftheit und Mattigkeit im Winter. Später kam Helene Naumann, die von uns eine Zeit lag zum Vorlesen benutzt wurde, was sie im höchsten Pathos und den dummsten Augen von der Welt ausführte. Gegen Abend kam Dein Bruder Karl, der forsch und munter ist, sowie Helene und Dein Alter. Wir wollten eigentlich alle den Abend bei Euch zubringen, allein, Deine Mutter mußte noch einmal Blutegel im Rücken setzen, die ihr sehr gut gethan haben, weßhalb wir zu Jacobis gingen. Wieder hatte ich nicht mit Dir plaudern können und legte mich ganz mißmuthig zu Bett, wo aber liebe Träume beim Erwachen mich sofort umstimmten. Dazu kam am Sonnabend Morgen die Depesche von Berthas glücklicher Entbindung, über die ich mich sehr gefreut habe; ein Junge war beider Wunsch, den das Schicksal ihnen erfüllt hat.
Montag den 2. Ich wollte gestern noch den Brief beendigen, Morpheus wollte es anders. Guten Morgen, herziger Schatz. Hoffentlich scheint die Sonne heute eben so warm und licht nach der langen schlechten Zeit, wo Alles grau, regnerig und trübe hierb war, auch bei Dir in Neapel und stimmt Dich freudig und glücklich. Der Wonnemonat scheint wirklich seinem Namen Ehre machen zu wollen. Das schöne Wetter hat auch Deine Aenni zum 3 Mai bestellt, und laß Dir die Sonne einen warmen Gruß von Deinem Lieb bringen, die alle Wonnetage des vergangenen Jahres wieder durchlebt und morgen, wo ich schon in Freienwalde bin, mein Zimmerchen, das kleine Heiligthum, das außer uns Beiden acht Tage lang das süße Geheimnis eingeschloßen hat, sehr vermißen werde. Das wollte ich mir ja Alles gefallen laßen, hätte ich Dich nur auf ein Stündchen, Du lieber, lieber Schatz. Ich denke, Du wirst mir schreiben, daß Du den Tag mit einer hübschen kleinen Tour in der herrlichen Natur gefeiert hast und mich brieflich Theil nehmen läßt an dem Genuß, den sie Dir gewährt. Ich bin heute kanpp bestellt mit dem Papier, weil Karl und Dein Vater ein Blatt beschrieben haben. Tante Bertha, mit der ich mich neulich gründlich ausgesprochen habe über das Verhältniß zu Dir und umgekehrt, wollte eigentlich mitschreiben; nun muß sie es für ein anderes Mal laßen. Sie sagt, Du seist ganz anders gegen sie geworden, worin ich natürlich nicht miteinstimmen konnte und ihr sagte, sie sei seit unserer Verlobung so auffallend anders, zurückhaltender und theilnahmloser gegen uns Beide, daß es uns tief ver-c||letzt habe; sie wollte einen Grund davon wißen und als ich ihr unter andern ihren Mißbrauch von unserem Vertrauen ihr vorwarf, behauptete sie, Richter nichts von dem Geheimniß vertraut zu haben, was er mir selbst und Du mir von ihm erzählt haben. Entweder muß er oder Tante Bertha die Unwahrheit sprechen. Von ersterem habe ich keinen Grund dies zu glauben, wohl aber hat leider Tante Bertha in den letzten Jahren vielfach es nicht scharf mit der Wahrheit genommen, weßhalb sie viel von meinem Vertrauen, meiner Liebe eingebüßt hat, drei Sachen, die meines Erachtens immer Hand in Hand gehen. Sie sagte, sie wolle Dir gern einmal schreiben, doch könnte sie nicht anfangen, weil Du sie nicht einmal hättest grüßen laßen. Ich hätte fast gelacht über diese Äußerung, denn Du grüßt ja immer Alle, sie auch wohl speciell, was sich übrigens auch immer von selbst versteht, und dann hört sie alle Briefe, was verlangt sie noch mehr? Ich bat sie, Dich nicht fallen zu laßen, was sie, glaube ich, auch nicht kann; und könnte sie es, würde ich mich darüber wegsetzen in dem Gedanken, sie kennt, sie versteht meinen lieben Menschen gar nicht. Darüber vergingen einige Tage, dann sagte sie mir, sie möchte gern an Dich schreiben, worüber ich mich sehr freute, denn es ist ein Beweis, daß die gute Natur wieder Oberwaßer gewonnen hat. Man muß viel bei Tante Bertha auf ihren gebrechlichen Körper rechnen, um ihre wirklich vortrefflichen und schönen Seiten nicht durch ihre Schwächen und Fehler verdeckt zu sehen. Schicke mir doch die Briefe direkt nach Freienwalde; ich denke, ich bekomme sie so eher und werde sie sofort an die Alten schicken. Die Sehnsucht nach einem Brief ist immer gar zu groß. Das Papier geht zu Ende; ich wollte, es wäre glücklich in Deinen Händen. Ich drücke ihm einen innigen Kuß auf, so einen 3 Mai-Kuß, wenn heute auch erst der 2te ist. Gott schütze Dich, liebes Herz und denke freundlich Deiner Aenni. ||
[Beischrift von Karl Haeckel]
Berlin 1 Mai 59.
Lieber Ernst!
Eben hat mir Dein zweites Ich den letzten Brief von Dir bei einer Tasse Chokolade vorgelesen. Ich beeile mich, die gute Stimmung zu benutzen und mein Frühstück bei Schreibung dieser Zeilen weidlich zu verdauen. Anna wird Dir zwar schon ebenfalls den Kopf gewaschen haben und noch waschen. Es kann aber nichts schaden, wenn ich meine Nachwaschung dazu gebe. Wie kannst Du verlangen, daß sich Dir jetzt schon ein passendes Thema zu einer größeren Arbeit Dir darbiete. Wenn Du 2–3 Monate untersucht hast, dann laß ich mir dies Verlangen gelten. Jetzt aber nicht. Gieb Dich mit Unbefangenheit dem Studium deßen, was ich Dir grade bietet hin. Mit der Zeit wird sich dann schon das Thema finden. Ich thue Dir gewiß nicht Unrecht, wenn ich behaupte, daß Deine Sehnsucht nach einer festen Existenz, zu der Dir die Arbeit den Weg bahnen sollte, Dich ungeduldig darauf macht. Du würdest selbst, könntest Du Dich objektiv beurtheilen, über Dich lächeln. Dann Deine Noth mit den Fischern. Würdest Du nicht eher etwas gutes geliefert bekommen, wenn Du mit ihnen ins Meer hinaus führest und dort unter d dem, was sie grad herausziehen, gleich nachsähest? Aber: sollten die Leute an einem entlegeneren Fischergestade nicht dienstwilliger und e zu Deinen Zwecken geeigneter sein, als diese durch die Fremden verwöhnten und verdorbenen Neapolitanischen Fischer? – Wie’s bei uns aussieht, wirst Du aus den Zeitungen ersehen. Laß Dich nicht durch die mit jedem Tage wechselnden unsicheren Gerüchte schrecken, die Du in den Zeitungen immer noch in bestimmter Weise gefärbt liesest. Ehe die Ereignisse Dich berühren, hat es noch lange Zeit. Sorge Dich also darum nicht, sondern widme Dich so lange die dortigen Verhältnisse es zulassen, Deiner wißenschaftlichen Aufgabe mit aller Emsigkeit. Wirst Du nicht von hier zurückgerufen, so würde ich an Deiner Stelle so lange bleiben, als Du diesem Hauptzweck Dich ohne eigne Gefahr widmen kannst. Solltest Du unter ungünstigen Verhältnissen die Rückreise machen || müssen, so wirst Du wohl am besten beurtheilen können, welcher Weg der geeignetste dazu ist. Die Sicherheit desselben wirst Du dabei mehr als die Kürze oder Kostspieligkeit in Betracht ziehen müssen. Neutrale Schiffe werden bei sonst gleichen Umständen immer die geeignetsten sein. Ob und auf welchem Wege dieser Brief in Deine Hände gelangt, läßt sich von hier aus jetzt gar nicht übersehen. Sollten die Zeiten noch unsichrer werden, so wirst Du Dich nicht ängstigen, wenn die Briefe oft ausbleiben.
– Nun etwas von der Familie. Gestern früh ist die Belege-Nachricht von Bertha’s Niederkunft mit einem Jungen hier angekommen. Heute früh ist Mutter Minchen, die bis vor 14 Tagen bei uns war, von hier nach Steinspring abgereist. Anna geht übermorgen mit mir nach Freienwalde, um einige Wochen Mimmi zur Hülfe zu sein. Bei uns geht es wieder gut, seitdem Mimmis schlimme Brust (es kam zum aufgehen), verhältnißmäßig sehr rasch, geheilt ist. Sie und die Bälger sind im Ganzen recht munter. Der Kleinste, Heinrich Friedrich Ernst, ist ein prächtiger Bengel, sieht Karln ähnlich und hat die Schutzpocken prächtig gehabt, vorgestern ist Mimmi vor ihm geimpft worden. Die Kinder sprechen oft von Dir und kutschiren alle Augenblick nach Neapel oder Italien mit einem Stuhlpaar. Karl soll nächstens mit den Schülern draußen zu turnen anfangen. Im Uebrigen ist es in Freienwalde ziemlich ledern. Fräulein Wangemann und Arndt, die Schulvorsteherinnen, sehen wir oft, sie erkundigen sich stets nach Dir. Aegidi’s sind seit 4 Wochen auch wieder da. Deren Sohn ist an Pfarrer Wurm’s Stelle Professor für Naturwissenschaft und Geschichte am akademischen Gymnasium (ein Mittelding zwischen Gymnasium und Universität) in Hamburg geworden, 2000 rℓ Gehalt. Er geht zum September von Erlangen dorthin ab. Jetzt war er einige Tage in Hamburg und fährt dieser Tage mit nach Freienwalde. Er ist ganz der liebe alte Freund. Schwager Carl war zur Taufe bei uns und fühlt sich recht glüklich in seinem Beruf, zur Zeit ist er noch nicht aus demselben herausgerißen; dagegen ist es wahrscheinlich, daß Heinrich nächstens nach Pasewalk fort muß. – Vater ist frisch, Mutter hat immer noch mit dem Rücken zu thun, das Treppengehen wird ihr sauer, übrigens hat sie sich doch bedeutend gebeßert. – In Bonn geht es leidlich. Marie ist sehr nerveus angegriffen, Theodor ist in Zossen, ob es ihm ähnlich wie Heinrich gehen wird ist noch nicht bestimmt. – Dieser Tage ist Dr. Wendt || der sein Staatsexamen hinter sich hat, nach Wien abgereist, um dort den Sommer zuzubringen; er erkundigte sich nach Dir. Nun leb wohl, alter Junge. Mimmi ließe grüßen, wäre sie hier.
Dein alter treuer Bruder Karl.
[Beischrift von Carl Gottlob Haeckel]
Ich will nun noch ein paar Worte hinzufügen. Nun es unruhig wird und kriegerisch aussieht, ängstet sich Mutter schon wieder in gewohnter Art. Ich bin Karls Meinung, daß Du dort so lange aushältst als möglich, doch aber den geeigneten Zeitpunkt zur Abreise nicht versäumst, damit Du auch abreisen kannst, wenn es nötig werden sollte. Jetzt, wo es noch nicht heiß ist, wirst Du die nächsten Monate wohl noch in Neapel benutzen können zu Deinen Untersuchungen. Werde nur nicht zu ungeduldig.
Ich lese und studiere jetzt Momsens [!] römische Geschichte und bin also fortdauernd in Rom, welches mich gewaltig intereßirt; ich lerne viel aus dieser Geschichte auch für die Gegenwart. Es ist merkwürdig, wie sich gewiße Erscheinungen nach Jahrtausenden wiederholen, z. B. die Junkerwirthschaft. Das weist denn auf gewiße Gesetze des Völkerlebens hin, wornach sich dieses entwikelt. Da bei uns, wie Du aus den Zeitungen ersehen wirst, 3 Armeekorps in Kriegsbereitschaft gesetzt werden so werden schon manche junge Leute uns aus der Bekanntschaft der Reserve eingereiht. – Der ganze Aprill ist sehr unfreundlich, regnerisch und kalt bei uns gewesen, wir haben noch keinen Frühling, obwohl die Bäume schon ziemlich grün sind. Aber wir müßen noch ordentlich einheitzen, über und unter uns in unserm Hause wird viel gebaut, was das Wohnen sehr unbehaglich macht. Auch kann ich mich bei dem unbehaglichen Wetter in dieser Uebergangszeit viel weniger erwärmen als im Winter. – Mutter hat bei ihrem Rückenschmerz nun schon 4 Mal, immer nach gewißen Intervallen, Blutigel setzen müßen, was sie durch den Blutverlust immer sehr angreift. Abgesehen von dieser Schlafsucht und Kraftlosigkeit ist sie sonst munter. Ottilie wird den Mai überf noch bei uns bleiben. Ich mache mir gewöhnlich täglich meine Promenaden. Gestern war ich bei der Geheim Räthin Weiß, welche Dich herzlich grüßt. Bertha ist wohl und fährt aus, wenn es die Witterung gestattet. Sonst wüßte ich Dir für heute nichts zu schreiben. Bei aller Befriedigung, die mir das Studium der Geschichte gewährt, sehne ich mich doch auch nach Studien, die mir die Entwikelung des Christenthums in der Welt vergegenwärtigen. Denn dieses ist doch das belebende Princip der neuern Zeit geworden und gewährt, wenn man nicht mehr weiß, wo aus noch ein, und es in der Welt toll und wild aussieht, den ewigen Frieden, da es uns mit einem unumstößlichen Glauben an Gottes Rettung und Weisheit erfüllt. –
Dein Alter
Hkl
Durch Anna erfährst Du, daß ich bei den Bildhauer Fuhrmann gewesen bin. Er hat den Wein aus Neapel erhalten und war sehr betroffen [daß er] die Zahlung nicht erhalten hatte, da er schon vor mehreren Monaten die nöthige || Summe durch den hiesigen Banquier Bleichröder an das Handlungshaus Rothschild zu Neapel zur Bezahlung an Herrn Berncastel angewiesen hatte.g
[Anschrift um 90 Grad nach rechts gedreht]
Al Signore Dottore Ernesto Haeckel
p. ad: Signore Ernesto Berncastel
Farmacia Prussiana
Largo S. Francesco di Paola No 7.
Napoli (Italia).
via Marseille.
[Absender auf dem Kopf stehend]
Absender: Anna Sethe – Berlin (Preussen).
Hafenplatz No 4.
a korr. aus: vorlas; b korr. aus: war; c Beginn der eingefügten Beischriften von Karl und darauffolgend Carl Gottlob Haeckel; d gestr.: suchtest; e gestr.: leichter; f eingef.: über; g Anschluss des Briefes von Anna Sethe: „letzt habe; sie wollte einen Grund … Deiner Aenni.“