Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Steinspring, 14./15. Februar 1859

Steinspring d. 14.2.59.

Vor zwei Stunden, mein lieber Erni, habe ich Deinen Brief erhalten, der mir den Montag zum Sonntag, zum Festtag gemacht hat, ach Liebchen, wie mein Herz immer pocht, wenn ich von meinem Fensterchen aus den Briefträger kommen sehe, und meine unendliche Freude, hat er dann einen Brief für mich, wirst Du aus eigener Erfahrung beurtheilen können. Mir ist beim Lesen immer, als säße ich neben Dir auf dem Dir bekannten kleinen Sopha, und bin so überselig, daß ich Momenteweis die Trennung vergeße, bis ich sehr bald die öde Leere an meiner Seite empfinde, doppelt fühlbar, da Du Dich auch so schwer in die Trennung findest; ich weiß ja selbst, wie gerade im Wald, wenn die Sonne hell scheint und ich mich so recht der lieben Natur freue, ich Dich herbeiwünsche, doch meine Genüße stehen in keinem Vergleich zu Deinen italienischen und ich hoffe, sie werden es noch vermögen, Dich zu begeistern, Dir wirklichen Genuß von allem Schönen zu verschaffen und zwar recht tiefen Eindruck machen, der ja lange vorhalten muß, zunächst über ein Jahr, denn Deine Änni willst Du bei Deiner Rückkehr doch auch einen recht tiefen Blick in die große Vergangenheit der Geschichte thun laßen, die dort jetzt vor Dir aufgerollt liegt. Die erste Zeit, wo man entbehren lernt, ist ja immer die schlimmste und diese trifft gerade das schöne Florenz und a die fühlbare Kälte erhöht noch dazu Deinen ungemüthlichen Zustand. Lieber Schatze, halte den Gedanken fest, wie noth uns Beiden die Trennung thut, wie Du dort einen guten Grund für Dein ganzes zukünftiges Leben legen kannst sowohl in wißenschaftlicher als esthätischer [!] Beziehung, und wer weiß, ob Du im schlimmsten Falle jemals Italien wieder siehst; dann weißt Du ja, wie sehr ich mich freue, wenn Du Deine unendliche Liebe zur Natur und Kunst befriedigen kannst und Deine erregbare Seele sich am Schönen erfreut. Ich verbinde viel lieber diese Überzeugung mit dem Gedanken an Dich, als Dich in so gedrückter, mißmuthiger Stimmung zu wißen, die ganz und gar || nicht b geeignet ist, schöne Eindrücke zu empfangen. Ich will Dich aber nicht etwa schelten, da Deine Gefühle nur zu natürlich sind, ich hoffe aber Du wirst ihrer Herr und genieß’t die Gegenwart. Für mich ist diese jetzt so gut wie todt; ich lebe der Vergangenheit, der süßen Erinnerung an so viele schöne Tage und Stunden, die ich mit Dir verlebt habe, und fühle mich reich, unendlich reich, selbst jetzt in der Entbehrung; betrachte nur so viele andere Menschen, die, wenn auch in glücklichen Familienverhältnißen lebend, niemals eine so reine, edle Liebe, die uns verbindet, gekannt haben, nie empfunden haben die süße, selige Harmonie zweier liebender Seelen. Ach eins entbehren sie nicht, abgesehen von der Schranke, die ihrer inneren und äußeren Entwickelung gesetzt ist, kennen sie nicht die Seligkeit, die Ruhe und Frieden, die auch stellenweis über das Erdenleben erheben, im Besitze eines Einzigen lieben Wesens, in dem die ganze Welt zusammenfällt. Mit diesem Reichthum im Herzen, der mir nie, nie wieder geraubt werden kann, mit diesen schönen Bildern der Vergangenheit in der Seele, lüftet sich mir auch dann und wann der Schleier der geheimnißvollen Zukunft, die meine schönsten, je gehegten Hoffnungen verkörpern wird. Welche herrliche Aussicht hast Du mir in Deinem gestrigen Briefe eröffnet. Halte sie fest und rufe sie Dir immer vor die Seele, wenn sie von Kleinmuth beschlichen wird. Überall ginge ich mit Dir hin, aber in Würzburg leben zu können, würde mich unendlich glücklich machen. Dank dem lieben Kölliker und Schenk, die Dir diese wenn auch zweifelhafte Aussicht eröffnet haben; sie ist eine schöne Mitgift nach Italien. Was Du mir über die dortigen lockeren Verhältniße, selbst des Bandes schreibst, das eigentlich nur fest bestehen kann, ist unendlich betrübend, und ich kann mir denken, wie stolz sich da die Brust eines deutschen Jünglings hebt, der in einer frommen, lieben Familie (das Wort sollte eigentlich die italienische Sprache gar nicht haben) aufgewachsen ist, und so Gott will, sich selbst eine solche schaffen will. Mögen Fremde, namentlich Franzosen noch so sehr über die Deutschen spotten, zwei Dinge haben sie || vor allen Anderen voraus, ihr tiefes Gemüths- und Verstandesleben, dem freilich der Schwung, der esprit der Franzosen häufig fehlt. Ausnahmen sind wohl immer statthaft, und so habe ich inc jüngster Zeit einen Franzosen: Michelet gerade seines tiefen Gemüths wegen lieben gelernt, das auf jeder Seite des Vogels und noch mehr des Insekts sich ausspricht. Jetzt lese ich früh Morgens im Eschricht, der mich sehr belehrt und feßelt; gestern las ich das Kapitel über die Entwickelung des Embryos, wobei ich von Neuem die weise Einrichtung der Natur bewundert habe, in der eben alles Leben, alle Entwickelung ihren natürlichen, selbstredenden Verlauf nimmt. Nachmittags, vom Spaziergang zurückgekehrt, lese ich jetzt die letzten Kapitel in der Odyssee, die mir die schönsten zu sein scheinen. Ulyßes ist zurück, wieder bei seiner Penelopeia, der er sich aber noch nicht wieder zu erkennen gegeben hat; da denke ich viel der frohen Zeit, wenn mein Ulyßes von seinen italienischen Irrfahrten zurückkehrt. Ich hoffe dieser Brief trifft Dich noch in Florenz, damit Du dort Deine Änni noch ein halb Stündchen hast und Dich trösten und beruhigen kann; drum habe ich mich auch gleich nach Empfang Deines Briefes, d. h. nachdem ich die Gotthard Fahrt abgeschrieben und nebst einem Brief an Deine Eltern zurück expedirt hatte, hingesetzt, Dich von Neuem zu grüßen. Im nächsten Brief wirst Du mir wohl schreiben, ob ich nach Rom poste restante und via Marseille schreiben soll.

Dienstag früh. Gestern Abend überwältigte mich doch die Müdigkeit, ehe ich Deinen Brief vollenden konnte; ich war aber auch schon um 4 Uhr aufgestanden, um Bernhard mit Mundvorrath zur Jagd zu versehen, die er um 5 Uhr antrat. Es regnet heute in Strömen; ich hoffe morgen nicht, namentlich nicht in Florenz; Sonnenschein thut am Geburtstag gar zu wohl, namentlich wenn man ihn in der Fremde, fern von allen Lieben feiern muß. Der meinige wird auch in diesem Jahre nicht ein solcher Freudentag sein wie im vergangenen, den Du lichte Sonne so prächtig erleuchtetest. Sei recht vergnügt und || erfreue Dich an den Briefen, die hoffentlich richtig ankommen. Freitag habe ich Deinen Brief abgeschickt und gleichzeitig Deinen aus Genua zurückgeschickt, nachher ging ich noch etwas mit Bertha und Bernhard spazieren, als [es] aufgehört hatte zu regnen; Abends las Bernhard uns Träumereien eines Junggesellen aus dem Englischen von Marvel vor, die allerliebst, wirklich herzig geschrieben sind. Die betreffende Person ist 27 Jahr alt und eingefleischter Junggeselle, als ihn ein Traum nach dem anderen im Schlafen und Wachen beschleicht, wo er sich verheirathet träumt, bald mit diesem, bald mit jenem Mädchen von verschiedensten Eigenschaften; das Ende vom Lied wird wohl seine wirkliche Verheirathung sein, so sehr er sich auch früher dagegen gesträubt hat, doch sind wir noch nicht so weit. Sonnabend Vormittag war eben Sonnabend in der Wirthschaft, der mich zu Nichts Anderem kommen ließ; nach Tisch machten wir einen weiten herrlichen Spaziergang in den schönen Wald; es war ein hügeliges Terrain mit grünen Kiefern und welken jungen Eichen bewachsen; die Luft so erfrischend und schön, daß ich laut meine sehnsüchtigen Lieder in den Wald hineinsang; Mädele ruck, ruck, ruck; hoch vom Dachstein her und wenn i komm, wenn i wiederum komm etc. waren auch darunter, mir fehlte Nichts wie Du, mein Alles. Der Abend verfloß außer intereßanten Kammerberichten ebenso wie der vorhergehende. Sonntag Vormittag schrieb ich an die Alten einen Brief, der hauptsächlich von Ernst handelte und nachher las ich einen schönen Monologen [!] von Schleiermacher über Selbstbetrachtung, der mit den Worten schloß: „Beginne darum schon jetzt Dein ewiges Leben in steter Selbstbetrachtung; sorge nicht um das, was kommen wird, weine nicht um das, was vergeht; aber sorge Dich selbst nicht zu verlieren und weine, wenn Du dahin treibst im Strome der Zeit, ohne den Himmel in Die zu tragen;“ ich sagte Amen hierzu, mir wohl bewußt des Himmels, den wir Beide in unserer Brust tragen. Ich dachte dabei noch | viel des schönen Sonntags in Heringsdorf in der Sollitüde, der kleinen Buchenschonung, wo wir auch einen Monologen zusammen lasen und seliges Glück genoßen; ich dachte noch weiter zurück an einen Sonntag, wo wir Beide Nachmittag bei Tante Bertha gewesen waren und Religion und Wißenschaft sich in Deinem Innern um die Herrschaft stritten, namentlich Ehrgeiz und Selbstsucht von Tante Bertha verwechselt wurden und Dir viel zu schaffen machten; zu Haus zurückgekehrt suchte ich Dich zu beruhigen und las Dir den schönen Monolog über Aussicht vor. Du warst also ganz bei mir und ich bei Dir. Nach Tisch gingen wir trotz Regen in den Wald, mußten aber bald umkehren, da er zu heftig wurde. Ich las einen Gesang im Homer und schwelgte in Heineschen Gedichten, in denen unaufhörlich Deine Seele wiederklang. Klärchen war Abends sehr drollig und amüsirte mich sehr. Gestern Morgen nähte ich nach der Lectüre im Eschricht fleißig Ausstattung, die kleinen Theeservietten von Deiner Mutter, wobei ich lebhaft uns Beide beim trauten Theekeßel vereint sitzen sah. Kurz vor Tisch kam Dein lieber, lieber Brief, den ich mit wahrem Heißhunger verschlang. Ich komme gleich ausführlicher auf ihn zurück, muß mich aber jetzt erst anziehen. Selten hat wohl Jemand der Gefahr so offen in’s Auge gesehen d. h. ich meine eine solche, die von der Natur ausgeht, als Du bei dieser Gotthardpaßage, mein herziger Schatz; selten wird Einer aber auch trotz Mühen und anstrengender Arbeit, Kälte, Hunger und Unbequemlichkeiten aller Art, das Auge offen halten für das Schöne, Großartige, Erhabene, was die Natur Dir so reichlich auf der gefahrvollen Reise geboten hat; ein Engländer z. B. würde sich gar nicht umgesehen, sondern nur geschimpft haben, was eben die Lage nicht verbeßern und die Sinne gewiß nicht reizen würde. Doppelten Dank also Gott, der Dich glücklich wieder in Italien hat festen Fuß faßen laßen; zuerst muß Dir der Anblick Deiner lieben Alpen im weißen Kleide recht wunderbar vorgekommen sein, allein eine Winterlandschaft hat in ihrer Einförmigkeit wieder ihren besonderen Reiz, namentlich der gefrorenen Waßerfälle und die schöne blaugraue Farbe des Eises denke ich war an schroffen Felsen und tiefen Abgründen ganz || wundervoll. Du schilderst so hübsch lebhaft in Deiner Beschreibung auch den ganzen Gedankengang, den Ihr bei der Tour verfolgt habt, daß ich in Andermatt im Geiste mit in den Conducteur drang, die Weiterfahrt zu ermöglichen; wo es auf Ungeduld ankommt, ist mir gewiß aus der Seele gesprochen. Das muß ein glücklicher Moment gewesen sein, als Ihr im Hospiz nach Erklimmung der Höhe angelangt seid, doch scheint mir die Herunterfahrt auch nicht ohne bedenkliche Gefahren gewesen zu sein; gut, daß Du vor keiner zurückschreckst und keiner als Opfer gefallen bist. Schade, doch sehr natürlich, daß Ihr mit der ganzen Fahrt von Airolo nach Bellinzona geschlafen habt, doch gut, daß Menschen mit bösen Absichten Euch nicht aus dem Schlaf geweckt haben. Dafür hast Du wieder eine schöne Fahrt über den Lago maggiore gehabt. Genua scheint Dir nicht besonders zugesagt zu haben und von der Dampfschifffahrt nach Livorno erwähnst Du auch nichts. Es wird Dir wohl gethan haben, nach langer Zeit dort ein paar gemüthliche Stunden zuzubringen, ich weiß nicht warst Du dem Herrn Chan empfohlen oder kanntest Du ihn schon persönlich. Daß Du in Florenz nach Deiner richtigen Befürchtung so frieren mußt, dauert mich sehr, da haben wir es ja hier wärmer. Ich denke diese wenigen, flüchtig geschriebenen Zeilen (ich muß zum Schluß eilen, sonst geht der Brief nicht mehr heute mit fort, woran mir zuviel liegt) sollen Dich etwas erwärmen und anspornen, recht lieb zu sein, die schönen Kunstschätze nicht flüchtig anzusehen, damit Florenz einen beßeren Eindruck in Deinem Gedächtniße zurückläßt, als mir Dein gestriger Brief geschildert hat. Ich bin nur froh, daß Du wenigstens körperlich gesund bist, dann kann Geist und Herz sich schon beßer aus dem moralischen Katzenjammer herausrappeln. Wenn Du die Idee, gleich nach Neapel zu gehen, ausgeführt hättest, würde ich sehr böse geworden sein; Rom darfst Du Dir nicht entgehen laßen, sondern mit Muße genießen; Du würdest Dir nach der Rückkehr selbst Vorwürfe gemacht haben. Ich sehe sehnlich einem recht hübschen Brief || entgegen, drücke Dir einen innigen Kuß auf, wie Dein liebes Bild ihn so oft aushalten muß und grüße Dich mit Bernhard und Bertha viel tausendmal.

In Liebe Deine treue Änni.

a gestr.: erhöht; b gestr.: empfänglich; c eingef.: in

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
15.02.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34436
ID
34436