Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Frankfurt (Oder), 30. Januar 1859

Frankfurt a/O d. 30.1.59.

Guten Morgen, mein lieber, lieber Schatz, einen innigen Kuß von Deiner Änni, die wo Alles noch im Haus schläft, ihren Tisch an’s Fenster gerückt hat und Angesichts des herrlichsten Morgenroth’s, das sich in blauen und lila Tönen über den Bergen jenseit der lieben Stadt Frankfurt hinzieht, ihren Liebsten und Besten den ersten Gruß in die Fremde sendet. Daß ich eher nicht dazu kommen werde, wirst Du nach dem Bericht der vorigen Tage einsehen, an denen ich noch viel zu schaffen und zu besorgen hatte vor der Abreise. Liebchen, ich habe Dich schon sehr vermißt; allein ich werde die Trennung und ihr Leid noch mehr empfinden, da ich eben in den beiden Tagen noch zu sehr von äußeren Dingen bestürmt war. Dennoch hoffe ich mir meine unverwüstliche Heiterkeit und Frohsinn, wozu ich bei meinem unendlichen Glück gewiß die meiste Ursache habe, zu bewahren und voller Hoffnung und Gottvertrauen auf das nächste Jahr zu schauen.

Wie wir uns am Donnerstag Abend getrennt hatten, saß ich eine Weile mit Deinem lieben Bild in der Hand, dann las ich noch in alten Briefen und hatte mich dabei so vertieft, daß es 1. Uhr war, ehe ich anfing meine Schreibmappe zur Reise einzurichten. Gegen 2 Uhr lag ich im Bett, was ich am anderen Morgen sehr bereute, denn ich hatte auch nicht eine Minute geschlafen vor Aufregung und Kummer. Dazu bemühte sich die ganze Nacht hindurch eine Maus dicht neben meinem Bett in einem Papierkorb mich graulig zu machen; die Braut des Naturforschers ließ sich aber nicht beirren, war nur ärgerlich, ihren trüben Gedanken nicht ungestört nachhängen zu können. Um 6 Uhr stand ich auf, bat Heinrich, Dir mein letztes Lebewohl zu sagen und das vergeßene Glas zu bringen, das du aber verschmäht hast. Ich stand am offenen Fenster in Heinrich’s Zimmer, horchte auf den bösen Pfiff und verfolgte den Dampf der tückischen Locomotive so weit es irgend ging. Mir war in einem Moment, als stürzte die Welt zusammen, weil mir Alles genommen war, im nächsten schalt ich mich wegen meines Kleinmuths, stellte Dein liebes Bild vor mich hin und flickte noch Einiges zur Reise. Um 10 Uhr saß ich am Fenster beschäftigt ein Dutzend Hemden aus dem schönen Stück Leinwand aus Hirschberg zu schneiden, was ich mit Helenens Hülfe bis drei Uhr vollendete. Um 1 Uhr wurden || wir dabei unterbrochen durch den Oberregierungsrath Triest aus Stettin, der um 2 ½ Uhr mit uns Mittag aß und mir endlich Nachricht von Anna und Louise aus Meran brachte, wonach ich micha längst schon sehnte. Es geht Anna entschieden beßer; sie haben herrliches Wetter dort gehabt; nur die vierzehn Tage, wo der König da gewesen ist, ist es rauh und kalt gewesen. Louise ist wohl und erfreut sich und die ganze Gesellschaft durch ihren schönen Gesang und Klavierspiel, womit Mutter Natur sie so üppig ausgestattet hat. Funck, Anna’s Bräutigam hat nun auch glücklich sein Examen gemacht und schon eine brillante Anstellung in Breslau als Baumeister mit 1000 Thalern Gehalt, das sich nach 2, 3 Jahren zu 2000 Thalern steigt; nun könnten sie sich also heirathen, hätte nicht der Meraner Arzt dem Oberregierungsrath geschrieben, daß Anna entweder gar nicht heirathen dürfte oder noch ein paar Jahre sich ganz ruhig pflegen müßte, ehe sie an Heirathen denken könnte. Ein schreckliches Verhängniß waltet über diesem Paar; die Zeit wird lehren, was daraus wird. Er war sehr herzlich und freundlich und läßt dich sehr grüßen. Er blieb bis nach 5 Uhr und erhielten wir zum Kaffee an Magdalene Dieckhoff noch einen Gast, die mir Briefe nach Frankfurt und ebenfalls Grüße für Dich brachte. Um 5 ½ Uhr machte ich mich beim gräßlichsten Regenwetter auf die Beine, zunächst zu Schellers, wo ich noch war, als Du um 6 Uhr Deine Nachtfahrt antratest, die Dir hoffentlich gut bekommen ist. Ich bedauerte Dich den ganzen Tag in Halle, so schlechtes Wetter zu haben, doch war es da noch beßer angebracht, als gestern im lieben Würzburg, wo Dich denn auch das schönste Frühlingswetter begrüßt hat, und Dir gewiß die herzlichsten Grüße von Deiner Änni zugerufen hat, die in Gedanken noch einmal mit Dir zum Käppele und zur Zellerwaldspitze hinaufgesprungen ist, und freilich noch glückseliger war, den Ernst Haeckel am Arm zu haben, als vor drei Jahren. Mein lieber Schatz, wie innig liebe ich Dich und Jedermann sieht mir mein inneres Glück und meine Zufriedenheit an. Die Landräthin Stubenrauch, Agnes’ Mutter freute sich auch über die glückliche Braut. Also zu meinem Tagesbericht zurück. Von Schellers aus, die mir auch Grüße für Dich mit auf den Weg gaben machte ich noch viel Besorgungen; war unter Anderem auch bei || Groß, der die Kratzer wohl herausschaffen kann, und dann soll Karl es auch erhalten. Um 7½ Uhr traf ich Wilhelmstraße 73 ein; die beiden Alten waren nicht zu Hause, sondern im Unionsvortrag. Ich lief gleich in Dein Zimmer, hielt es aber nicht lange dort aus; die Seele, die den Raum sonst so belebte, fehlte; es sah so öde und leer aus, daß ich mit einem Blick nach dem schönen Capri daraus fort eilte. Die lieben Alten kehrten bald zurück und wir plauderten ein paar Stündchen gemüthlich zusammen; daß sich die Unterhaltung sehr um einen gewißen Ernst drehte kannst Du Dir denken; ich war betrübt, daß die Alten schon einen Brief an Dich abgeschickt hatten, ohne daß ich ein paar Worte hinzufügen konnte, Du hast ihn hoffentlich noch in Würzburg bekommen. Ich nahm mir Martens Gedicht mit, daß ich Dir in diesem Briefe abgeschrieben mitschicken werde. Vor 1 Uhr kam ich wieder nicht zu Bett, schlief aber meine 5 Stunden sehr gut ab, kramte noch gestern Morgen und packte meine Sachen, was zuletzt in einer fürchterlichen Hetze ging, weil Heinrich gelesen haben wollte, der Zug ging nicht, wie ich dachte um 12¾, sondern um 12 Uhr. Zu meinem großen Ärger war sie ganz unnütz gewesen und hatte mich nur meinen Morgenrock vergeßen laßen. Eine volle Stunde wartete ich auf dem Bahnhof, bis ich unter dem Schutze der alten und jungen Frau Halfeder, Verwandten von Petersens, die zu ihrer silbernen Hochzeit herübereis’ten, der bösen Stadt den Rücken wandte, die meinen Erni fortgelaßen hatte aus ihren Mauern. Mutter war wohl noch sehr angegriffen, doch, da sie bestimmt nach Freienwalde gehen will, was will [!] nicht mehr sehr lange hin sein wird, bin ich ganz ruhig abgereis’t. Auf dem Bahnhof empfing mich Agnes sehr freundlich und zu Hause angekommen, ihre Mama nicht weniger, die ich wirklich Beide sehr liebhabe; ich werde statt Montag zu reisen, wohl noch ein paar Tage hier bleiben, da überraschender Weise Bertha und Klärchen Bernhard gestern hierher begleitet haben, und wohl ein paar Tage bleiben werden. Ich saß gestern Abend mit Agnes und ihrer Mama gemüthlich zusammen, als gegen 8 Uhr Herr Kneiß eintraf, Bruder von Ferdinand Petersen’s Braut, der uns keine Ruhe ließ, sondern Agnes und mich mit zu Familieb Kneiß nahm, aus Vater, diesem Sohn || und zwei sehr netten Mädchen bestehend, von denen die ältere Ferdinands Braut ist. Wir fanden nur Familie Petersen dort, die sich Alle sehr freuten, mich zu sehen, und von Dir zu hören. Lieschen Kneiß, ihr Bruder und Elise Petersen, die Du in Berlin bei uns gesehen hast, sangen abwechselnd allerliebste Partien aus der Oper Die Heimkehr aus der Fremde, sehr paßend zu meiner Stimmung; sie handelten von Sehnsucht nach der Geliebten und Kranzwinden zu einem frohen Fest; wo da meine Gedanken waren, kannst Du Dir denken. Nur ist’s mir gar nicht recht, nicht genau zu wißen, wie Du Deine Reise machst; doch hoffe ich, Du ruhst Dich heute noch in Würzburg aus und rutschst heute Abend der Schweiz zu. Sei recht munter und vergnügt und mache Dir die Trennung nicht zu schwer; die ersten Wochen werden die schlimmsten sein, doch werden sie bei den verschiedenen Zerstreuungen hingehen. Vor allen Dingen bleib recht gesund und erfreue Deine Änni bald durch gute Nachrichten. Bücher habe ich mir sehr viele mitgenommen; auch Roßmäßler hat noch ein Plätzchen gefunden, wobei ich viel des dritten Mais denken werde, der mich so unendlich glücklich und reich gemacht hat. Je länger ich Dir innerlich so recht nahe stehe, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß die glücklichste Zukunft uns blüht, erhält Gott uns Beide recht gesund. Denke Dir meine Freude, in Agnes’ Zimmer über dem Sopha hängt mein Bild von Salzburg als Kupferstich; meins habe ich sorgfältig verpackt, ebenso Herbarien, die ich mir noch flüchtig durchgesehen habe. Dabei fällt mir ein, den kleinen Botaniker habe ich weder bei mir noch in Deinem Bücherschrank gefunden, vielleicht kannst Du Dich entsinnen, wo Du es gelaßen hast. Deine Eltern haben mir sowie Mutter herzliche Grüße aufgetragen; ich hoffe von Ersteren bald einen Brief von Dir zu bekommen; eilec an den schönen Orten nicht zu sehr, ich besorge gutes Wetter, herziger Schatz, und hole Dir in Genua diesen Brief ab.

Ich schließe heute, denn mit Plaudern und vielen Unterbrechungen ist es 1 Uhr geworden; ich muß mich noch anziehen, um Mittags bei Petersens, die Alle herzlich grüßen, still in der Familie die silberne Hochzeit zu feiern. Agnes und ihre Mutter grüßen herzlich; das andere Gedicht habe ich seiner Frische und Naturwüchsigkeit wegen Dir auch abgeschrieben. Den nächsten Brief richte ich nach Firenze. Tausend Gruß und Kuß von Deiner

lieben Änni. ||

Preußens Frühling im Januar

Noch ist es lang hin bis zum Frühlingsgrün,

Bis zum Blütenduft und zum Blumenblühn,

Bis zum Jubel der kleinen Waldvöglein,

Bis zum Flug der Schwalben im Sonnenschein.

Und dennoch aus fernem, aus warmem Land,

Wohin der Winter den Flücht’gen verbannt,

Ist heimgekehrt ein verfrühter Gast,

Ein allbekannter, zu erneuter Rast.

Er sucht sich die höchsten Giebel wohl aus

Und baut dort sein Nest auf der Menschen Haus,

Und wo er es thut, tönt’s ihm entgegen:

„Willkommen, Du bringst dem Hause Segen!“

Wer mag noch fragen zu dieser Stund’,

Welchen Gast wir meinen? Des Volkes Mund

Ruft jubelnd aus: „Nun ist er da!

Der Storch ist gekommen! Victoria!“

Und Alles schaut herzfreudigen Blick’s,

Hinauf zur erwählten Stätte des Glücks.

Zum Königspallast, des höchste Spitze

Der schwarz-weiße Vogel erwählt zum Sitze.

Der Adler daneben, dehnt majestätisch

Die Fittige aus und spricht gravitätisch:

„Weil du mein geflügelter Herr Kumpan,

Am Preußenland so was Braves gethan,

So will ich dich ehren fortan als Freund,

Und hoff’ wir seh’n uns hier oft noch vereint!“

Der Storch beugt sein langbeschnäbeltes Haupt

Und spricht: „Wenn’s gnädigst mir ist erlaubt,

So bring’ ich alljährlich, was heut ich gebracht!“

Da hat der preußische Adler gelacht:

„Herr Vogelbruder, ich halt dich beim Wort!

Vermehre du fleißig der Preußen Hort;

Der Storch bringt den Segen, ihn hütet der Aar,

Und Gott schützt das Haus jetzt und immerdar!“ ||

So haben die beiden Luftsegler da oben

Es abgesprochen, – wir können’s nur loben.

Und drinnen im Haus singt in’s Land hinein

Sein erstes Lied unser Prinzlein klein. –

Gott laß dich wachsen, du kleiner Mann,

Bis du reichst zum großen Fritzed hinan!

27 Januar 1859

Voßische Zeitung ||

Sylvester Abend 1858.

Zur Reise und weiter.

Non dire

Che il tuo destin ti porta; allor che il

forte ha detto: io voglio, si sente esser più

assai Signor di se che non pensava

in prima.

Auch aus Manzoni.

Der Seele innigem Gefühle folgend

Hast du geknüpft ein süßes, ernstes Band,

Und für ein künft’ges lebenswerthes Leben

Damit Dein Manneswort gesetzt als Pfand.

Vorüber sind für uns der Kindheit Zeiten,

Wo mit des Augenblickes Laun’ wir gehn.

Nicht klagen darfst Du, sollst nur Trost bereiten;

Daß sie an Dich sich lehnen, mußt du stehn.

Laß Andere das fremde Mächte nennen,

Was in dem eigenen Herzen doch entstand;

Verschmähe nie, zu dem Dich zu bekennen,

Was du in Deinem Sinn für gut erkannt.

Laß ungerecht das Schicksal Andere schelten,

Die, haltlos selbst, in Allem Zufall sehn,

Und denen Will’ und Geist als Wirkung gelten,

Die sinnlos mit des Stoffes Wellen gehn.

Wer nie allseit’ zu Selbstbetrachtung fliehet,

In sich, der Seinen Urtheil jederzeit

Das reinste Glück die herbste Strafe siehet,

Der findet überall Gerechtigkeit. ||

Laß Andre, Überfreie, spöttisch fragen,

Ob Recht und Pflicht denn gleich in jedem Land?

Frag’ Dein Gewißen, es wird Antwort sagen,

Durch seine Stimme wird ihr Sein erkannt.

Laß freies Urtheil nie Dir niederdrücken,

Doch Spott und Läugnen nimm für Freiheit nicht,

Laß nie vom Augenblicke Dir verrücken

Was Du in ruh’ger Stund’ erkannt als Pflicht.

Um Selbstbeherrschung, Seelenruh’ zu wahren,

Nicht Kraut, nicht Salbe gibt’s, noch Zauberspruch.

Du darfst nur wollen stets, Du wirst erfahren,

Des Mannes ernster Wille ist genug.

Und fürchtest Du, daß er im Kampf Dir fehle,

So ruf den Stolz, als Mittel ist er gut;

Naht auch ein theu’res Bild Dir vor die Seele,

Es hält den Treuen in der besten Hut.

2 Januar Abends.

Vor einem Jahr – wie doch die Zeiten eilen! –

Stand vor Dir das Examen schwarz und schwer;

Drum schrieb ich Dir ein paar scherzhafte Zeilen,

Dich zu erheitern, ja zu necken mehr.

Und heute, wie doch ändern sich die Zeiten! –

Stellt rosenfarb’ die Zukunft Dir sich dar;

Drum schrieb ich Dir ein paar ernsthafte Zeilen,

Denn Widerspruch mein Element stets war.

Der Widerspruch regt mind’stens an zum Denken,

Macht Redlichen bisweilen etwas klar;

Drum mögst Verzeihung Du der Predigt schenken

Im neuen gleichfalls rasch vergeh’nden Jahr,

für welches hiermit aus vollem Herzen

und mit vollen Backen Glück wünscht

Dein

Martens.

a korr. aus: von welch; b eingef.: Familie; c korr. aus: eilt; d korr. aus: Fritzen

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
30.01.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34431
ID
34431