Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Heringsdorf, 8./9. Oktober 1858

Heringsdorf 8.10.58.

Du herziger Schatz, wie hast Du mich heute durch Deinen Brief erfreut, der die wiedergewonnene Ruhe und Frieden Deines Gemüthes abspiegelte. Wie glücklich das Deine Änni macht, brauche ich Dir wohl nicht erst sagen, Dich glücklich zu wißen, ist ja mein ganzes Glück; nach Deinem letzten Brief summten mir immer die Worte des Glasbrennerschen Liedes aus dem Roßmäßler: doch das tobende, wogende Meer beruhigt sich schwer etc.; diesmal hat es eher die Wogenlieder gedichtet, als ich vermuthete. Das Meer hält doch einen prächtigen Vergleich mit der Seele des Menschen aus und ist zu diesem Zwecke von den Dichtern aller Zeiten benutzt worden. Wie oft kommt dies Bild im Homer vor, überhaupt spricht mich die Reducirung der menschlichen Verhältniße auf die Natur und deren Kräfte sehr an; Patroklos ist heute gefallen, das war mir auch ein Stich durch’s Herz. –

Meine Sehnsucht nach Dir wird immer stärker und ich erwarte Deinen Brief immer zu früh; gestern hatte ich schon darauf gehofft, doch da die Expedition nicht mehr hier in Heringsdorf ist, braucht ein Brief zwei Tage und ich konnte ihn wohl nicht vor heute Mittag erhalten. Du wirst hoffentlich heute auch den meinigen bekommen haben, der Deinen Sturm und Drang beruhigen sollte; das war gar nicht mehr nöthig und ich bin selig, wie Harmonie in Dein Wesen kommt, wie du Wißenschaft und Liebe vereinen lernst und Deine Angst vor Erdrückung der ersteren schwindet. Das muß aber auch eine köstliche Beschäftigung sein, Dich so in die Ideen Deines großen Meisters vertiefen und hineinleben zu können, die Du zum Theil selbst || von ihm hast aussprechen hören. Wie wirst Du Dich freuen, hast Du das Skelett seiner Philosophie, die Dir und gewiß allen Naturforschern so hoch steht, entworfen. Darum habe ich die Männer von je her beneidet, sich so in die Wißenschaft vertiefen zu können und einen Gedanken von allen Seiten beleuchtend, förmlich durchzuarbeiten. Dazu reicht unser Verstand nicht hin und die Zeit ist uns nicht gegeben, ihn zu solchen Diensten auszubilden. Wie schön aber, wenn da der Frau ein Mann zur Seite steht, der nicht müde wird im Ringen und Arbeiten des Geistes und hiervon der Frau mittheilt, so viel ihr hausbackener Verstand faßen kann, o das ist dera schönste Lohn für das Weib für so manche langweilige häusliche Arbeit, für das Sorgen im Haus, derb ihr vom Manne werden kann. Wie danke ich Dir, mein lieber Erni, daß Du mich an Allem, was Seele und Geist Dir bewegt, Theil nehmen läßt; bleibt doch so manchen Frauen der Wirkungskreis ihrer Männerc gänzlich unbekannt; doch wie sieht es dann da auch mit der Harmonie aus? Hab’ nur Geduld, ich werde mich schon mit der Zeit in Deine Gedanken hineinleben können, eine lernbegierige Schülerin sollst Du stets an mir finden. Meine Thierkreise sitzen jetzt ziemlich fest im Gedächtniß; damit hast Du hoffentlich einen guten Grund gelegt. Die moralische Einwirkung der tieferen Kenntniß der Natur im großen Ganzen, wie im Einzelnen, auf den Menschen ist meiner Meinung nach sehr groß; die Natürlichkeit in ihm gewinnt immer mehr die Oberhand und Wahrheit muß ihn || durch und durch durchdringen, die Triebfeder zu allem Guten. Der Brief war also Deine silberne Hochzeitsfeier; ich kann mir denken, wie gern Du Dich derselben entzogen und die Zeit mir geschenkt hast; ich ertappe mich auch schon darauf, mit anderen Menschen zu verkehren, für Zeitverschwendung anzusehen, doch muß ich dies egoistische Gefühl, namentlich, da es Dir auch nicht unbekannt ist, unterdrücken, um die Menschen nicht vor den Kopf zu stoßen, die nächsten Angehörigen nicht zu empören und in unserem eigenen Intereße nicht einseitig zu werden. Dein Zimmer hast Du mir so klar geschildert, daß ich es deutlich vor mir und mich in Gedanken schon darin sehe; heute über acht Tage hoffe ich ganz bestimmt bei Dir zu sein, mein lieber, lieber Erni und bin selig in dieser Erwartung. Mein Auge ist auch wieder gut; es ist tüchtig viel Unrat herausgekommen; desto klarer wird es in Dein liebes hineinsehen können. Es stürmt und regnet heute den ganzen Tag, so daß das geheizte Zimmerchen, das Hermine mit den Kindern bewohnte, sehr behaglich ist; hinaus gewagt habe ich mich auch nicht des Auges wegen; werde aber morgen meine Sehnsucht nach der See stillen, die ich seit vergangenen Sonnabend nicht in der Nähe gesehen habe. Bis auf Wallenstedts und wir, ist Alles fort, wir werden wohl bis zuletzt aushalten. Ich muß gleich abbrechen und morgen fortfahren, da wir den Abend bei Wallenstedts zubringen sollen. Er ist übrigens, wie er mir neulich erzählte, mit Widerwillen Arzt, hat auch Deine Carriere einschlagen wollen; da sie aber || mit sehr viel Kosten verbunden sei und er sich schon vor dem großen Examen verlobt habe, hat er in den saueren Apfel gebißen; ich freute mich innerlich, daß Du es nicht ebenso machtest und über diese Ansicht von einem Arzt selbst. Da bin [ich] wieder zurück und kann und doch heute Abend mit Dir plaudern. Wallenstedts erzählten sehr viel von der Schweiz, in der sie vergangenen Winter zugebracht haben. Meine Gedanken weilten unaufhörlich bei Dir und begleiteten Dich auf Deiner Reise, in der ich gestern Deine Begeisterung über Deutschland beim kurzen Aufenthalt in der Schweiz nach dem schmutzigen, theueren Italien [theilte]. Mit spannendem Intereße bin ich Dir auf dem gefährlichen, wilden Wege von [ ] bis Bormio gefolgt und hatte mich heute Abend sehr auf das Wormser Joch gefreut, der mir nun morgen bevorsteht; ich lebe mich durch Deine klare, faßliche Schilderung so in die ganze Gegend und Deine gehabten Genüße hinein, daß ich mir manchmal wirklich einbilde, dort gewesen zu sein. Wenn ich so lese, wie glücklich Du damals gewesen bist, denke ich unwillkührlich, so glücklich ist Dein Erni jetzt gewiß nicht, aber, denke ich dann weiter, ist er mit Dir einmal zusammen in der herrlichen Natur, fühlt er sich gewiß ebenso glücklich, wie damals. Bei glücklich fällt mir ein; sehr amüsirt hat mich in Deinem Briefe Deine Befürchtung, durch den Verkehr im Jacobischen Hause möchte ich zu hohe anspruchsvolle Ideen für’s Leben bekommen; der Versuchung bin ich öfter ausgesetzt gewesen, als Du denkst; d. h. Versuchung war es eigentlich nicht für mich, denn ich habe nie gefunden, daß das Glück des Lebens || in derd Befriedigung aller Genüße, in einem üppigen, verwöhnten Leben jeder Art bestünde und ich habe nie einen Wunsch hiernach gehabt; übrigens leben Jacobis auch nicht so übermüthig, wie Dir Tante Bertha wahrscheinlich darüber berichtet hat, die trotzdem sie ihr Haus gar nicht kennt, ein ganz bestimmtes Urtheil darüber ausspricht, über das ich mich schon oft geärgert habe. Tante Berthas Benehmen Helenen gegenüber ist der größte Beweis ihrer Einseitigkeit, die sie mit den Jahren erlangt hat. Ich würde August nie gewählt haben, der eben ein anderes Leben verlangt und anderen Intereßen nachhängt, als man in unserer Familie gewohnt ist; allein dies äußere Leben braucht doch das innere nicht ganz zu untergraben; von August spreche ich nicht; aber Helene hat immer ihre sehr guten Eigenschaften, die gerade bei Tante Bertha Anerkennung finden sollten. Sie hat ein tiefes, wahres Gemüth und es ist durchaus nicht leicht geworden, sich in manche Wünsche Augusts zu fügen und zwar hat sie sich so schön darin gefunden, was ihr freilich in mancher Hinsicht auch kein Opfer gekostet hat, daß sie ihre Augusts überlegene geistigere Befähigung nie fühlbar macht, sondern ihn sehr zu heben weiß, ein echt weiblicher Zug, der sie mir sehr hochstellt. Dies Urtheil habe ich noch von Allen gehört, die in ihrem Hause bekannt sind und es selbst auch gefunden. Sie haben nun einmal andere Ansichten vom Leben, wie wir, aber darum sie so behandeln, wie Tante Bertha es thut, – nun sie muß es zu verantworten wißen. Ich wundere mich überhaupt sehr über Letztere. Die Äußerung, daß sie nun alle Plackerei von Jacobis Aus- und Einzug hätte, hat mich wirklich frappirt und Mutter sehr wehe gethan; so viel ich weiß, hat || noch Niemand Ansprüche auf ihre Hülfe [gemacht], und wenn sie meint Mutter sei zu ihrer Ruhe und Annehmlichkeit jetzt hier, so irrt sie sich sehr; es wird ihr im Gegentheil sehr schwer, nicht in Berlin sein zu können, um Helene zu helfen, allein wenn sie fortgeht, unterbleiben einmal nach hiesiger Sitte und Indolenz des Volkes sämmtliche kleine Arbeiten, Reparaturen etc., wobei Mutter selbst fast den ganzen Tag nicht zum Sitzen kommt. Ich sehne mich wirklich danach mich ordentlich mit Tante Bertha auszusprechen, auch wegen der Briefe, unter denen zwei sehr ausführliche über Heringsdorf und unser Leben waren, die sie gewiß intereßirt haben würden; wo sie ein Ende genommen haben, weiß ich nicht. Ich habe Tante Bertha wirklich so sehr lieb, daß es mir schwer sein würde, eine Schranke in unserem Verhältniß zu wißen. Doch es wird Zeit zu Bett, was ich über Dich ganz vergeße. Gut daß ich Dein zweites Bildchen noch hier habe, denn nicht genug mit dem kleinen in der Kapsel, weil ich es bei der Arbeit nicht fortwährend aufmachen kann, stelle ich das andere vor mich hin und werfe manchen verstohlenen Blick nach dem lieben Gesicht hin. Deine Mutter wird hoffentlich nicht danach fragen; es ist mir schon so lieb geworden, daß ich es ungern abgeben würde; in meinem Zimmerchen weiß ich schon ein prächtigen Platz dafür. Ach sitzen wir erst wieder auf unserem kleinen Sopha von den Koocksfeuern beleuchtet und kann ich Dir Abends mein felicissima notte mit auf den Weg geben, das brieflich ganz anders klingt. Es liegt einmal keine Seele im Papier, man muß sie hineinlesen. – Drum felicissima notte, mein lieber, süßer Schatz. ||

Ob ich nicht einen lieben treuen Schatz habe, frage ich eben strahlend Johanna als Morgengruß, die mir gestern ganz ernsthaft sagte, wie würde sie sehen, ob ich einen getreuen Bräutigam hätte, nämlich ob heute gut Wetter zum Trocknen wäre. Johanna ist zartfühlend wie immer und erkundigt sich nach jedem angekommenen Brief wie Dir’s geht. Die helle Morgensonne bescheint die starkbethauten Pflänzchen und Bäume, so daß der Seitenblick: Heringsdorf, mit dem Waldhintergrund, in tausend Diamanten zu strahlen scheint. Wie wonnig, könnte ich [ ] mit Dir in den lieben Wald oder an der [ ] bewegten See mich über den köstlichen [ ]morgen freuen, der sein schönstes [ ] angelegt hat. Wandern muß ich heut [ ] langem Einsitzen und werde alle [ ] Plätzchen grüßen, die mein Erni ges[ ] Wie doppelt schöne Erinnerungen [ ] mein liebes Heringsdorf für mich und doch wird mir dies Mal die Trennung unter diesen Umständen nicht schwer werden. Es zieht mich mit Gewalt nach Berlin und die Ungeduld wird mich wohl in den letzten Tagen packen; wären sie nur erst da! Was Sehnsucht heißt, lernt doch eigentlich erst ein Liebender; ich wenigstens, obwohl ich manche Freude, manchen Tag mit freudiger Ungeduld herankommen sah, habe bisher noch keine Ahnung von diesem unendlichen Drängen und Streben des ganzen geistigen Menschen nach dem geliebten Wesen hin, gehabt, das manchmal so wächst, daß ich meine der willenlose Körper muß nachgeben und dem Zuge des Herzens folgen. Ade, Herzensschatz, 1000 Grüße Deinen Eltern, Tante Bertha, Jacobis, Marie Bleek etc. etc., Allen die mich lieb haben. Den besten und einen herzlichen Kuß nimm Dir warm von Deiner treuen, glücklichen Änni.

a korr. aus: das; b korr. aus: das; c korr. aus: ihres Mannes; d eingef.: der

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
09.10.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34426
ID
34426