Anna Sethe an Ernst Haeckel, Heringsdorf, 6. Oktober 1858
Heringsdorf d. 6.10.58.
Gerne hätte ich Dir gleich vorgestern, als ich Deinen lieben, lieben Brief erhielt, oder wenigstens gestern geschrieben, allein mein dummes Auge machte es mir unmöglich. Du bester Herzensschatz, laß Dir einen innigen Kuß von Deiner Lieb geben, die Dir so viel Kummer macht. Du hast schwere Tage durchgemacht und ich jetzt mit Dir. In tiefe Wehmuth hat mich Dein Brief versetzt und ich begreife nicht, wie man Dich, besten Menschen so quälen kann. Erni, Dir Leichtsinn in dieser ernsten Sache vorzuwerfen, die wir Beide nach reiflicher Überlegung eingegangen sind! Wüßte Dein Freund nur, wie schweren Sinnes und unter wie vielen Kämpfen Du diesen Schritt gethan hast, die ich sehr ehre; warum hast Du ihm das nur nicht gesagt? Dir wird es freilich wohl gegangen sein, wie mir und den meisten Menschen, daß ihnen das Beste immer hinterher einfällt. Der Vorwurf Deines Freundes war gerecht für einen Menschen, der sich ganz blind von der Leidenschaft zu einem so ernsten Schritt hinreißen läßt, der seiner Braut Vorspiegelungen und goldene Aussichten in die Zukunft ausmalt, nicht aber für Dich edlen Menschen, der Du mir nie ein Hehl daraus gemacht hast, wie unsicher Deine Zukunft ist, wie lange das Ziel noch hinausgeschoben und dann wie kärglich das Einkommen sein kann. Das weiß und wußte ich Alles, habe es wohl || erwogen, und meine Liebe verließ mich nicht, sondern wuchs mit jedem Tage. Erni, ich denke, Du kennst mich so weit, daß ich, an ein bequemeres Leben gewöhnt, vielleicht anspruchsvoll erscheine, daß ich aber in der ärmlichsten Hütte mit dem kärgsten Auskommen glücklich und zufrieden sein würde, kann ich Beides mit Dir theilen; „zum Paradiese würde sie, wärst Du bei mir“. Ich verstehe Dich sehr wohl, daß die Naturforscher nach einem ganz anderen Maßstabe beurtheilen werden müßen; sie sind einerseits wirklich um ihr Glück und Befriedigung an sich und der Wißenschaft zu beneiden, und doch möchte ich nicht mit ihnen tauschen; die größten Knechte des Egoismus, haben sie keine Ahnung von dem wonnigen Gefühl, das Halm so wunderschön in seinem Liede: was ist Glück? in den Worten ausgedrückt hat: Laß ganz aus Dir das Ichsbewußtsein schwinden – Tauch unter wie in’s Meer in Dein Empfinden – Beglückend nur fühl selber Dich beglückt – Gieb ganz Dich hin und lerne froh entrückt – Je mehr Du gibst, nur reicher dich zu finden. – Lieber Erni, wäre ich bei Dir gewesen, ich würde Dich beruhigt haben und Dir die trostlosen Tage erheitert; dank Deinem lieben Vater, der Dich aus Zweifeln und Sorgen gerißen hat. Wenn ich diese wenige oder mehr schmerzliche Theilnahme Deines Freundes bedenke, die Dir ungemein wehe thun muß, (denn wie freue ich mich über die herzliche, liebevolle Theilnahme von allen Menschen, die mir nahe stehen) könnte ich sehr traurig werden, je den Wunsch der Veröffentlichung gehabt und ihn jetzt erfüllt zu haben; allein der Verstand || sagt mir, es sei viel beßer so; Du würdest diese Behandlung später von Deinen Freunden ebenso erfahren haben, sobald sie zu wißen bekommen hätten, von wann sich die Verlobung datirt, und frage Dich selbst, wärst Du nicht unwahr Deinen Freunden gegenüber geworden, die Dich so lieb haben und Dir mit einem offenen, wahren und warmen Herzen entgegenkommen? Ihre Beurtheilung und Unzufriedenheit mit unserem Verhältniße, soll sie nicht in meinen Augen herabsetzen, obgleich eine gewiße Furcht und Bangigkeit mich befällt in dem Gedanken, sie zu sehen, denn mir grollen sie gewiß am meisten, obgleich ich unschuldige Ursache an Deinem Unglück bin. Unschuldig freilich insofern nicht, als Gott mich eben geschaffen hat, wie ich bin, daß Du mich darum lieb gewannst und ich Dich, so daß es schließlich kaum anders kommen konnte, wenn Du nicht Deine natürlichen menschlichen Gefühle ganz verläugnet hättest. Erni, wenn ich Dir wirklich Ursache, Veranlaßung zu Deiner Annäherung gegeben habe, verzeih mir; habe ich mich Dir nur von meiner besten Seite gezeigt und Dir zu lebhaft mein Intereße an Deiner Persönlichkeit, an Deinem regen, geweckten, thatendurstigen Geiste bewiesen habe, so ist es gewiß völlig unbewußt geschehen, mit keinen Gedanken an ein so heiliges, ernstes Verhältniß. Ich glaube mich nicht zu hoch zu schätzen, wenn ich sage, dazu ist mein Herz zu aufrichtig und rein, um diesen Vorwurf auf mir sitzen || zu laßen. Nie würde ich mich, am allerwenigsten einem Manne gegenüber, so wegwerfen, so jede Weiblichkeit mit Füßen treten, mich Jemanden aufzudrängen und ihm moralisch seine Liebe abzwingen zu wollen. Erni, überlege es Dir wohl, untergrabe ich so völlig Deine wißenschaftliche Laufbahn, die Dich bisher so glücklich gemacht und Dich so ohne Sorgen hat leben laßen, ich flehe Dich an, verstoße mich, oder wenn Du das nicht kannst, vergiß mich und dies ganze halbe Jahr, und lebe nur Deiner Wißenschaft; und hast Du schöne Reisen und befriedigende Kenntniße gemacht, und sehnst Dich nach Jahren a nach einem häuslichen Heerde, so sieh zu, ob ich Dir noch genüge, ich werde Dich dann noch ebenso in der Stille und Zurückgezogenheit lieben, wie jetzt, denn von Dir ganz laßen kann ich nicht:
Ich bin der Epheu, Dir getreu,
Sei Du der Eichbaum mir;
Ich laß im ganzen Leben nicht,
Im Tode nicht von Dir.
Da hast Du meine ganze Seele, wie sie denkt und fühlt, und in Hinsicht auf Dein Bestes, auf Dein Glück, das mir am Meisten am Herzen liegt, wiederhole ich noch einmal die Bitte, handele nach Deiner reiflichen Überlegung; ich bin mit Allem zufrieden. Meine besten Jahre gingen also darüber hin, meint Dein Freund. Was nennt er denn die besten? Meint er die Jahre, soviel es auch sein mögen bis zu unserer Vereinigung, sollten so dahingeträumt werden? Erni ich hoffe, sie soll meine geistige, meine weibliche Entwickelung || ausfüllen, ebenso wie jedes andere Jahr; und sind denn das nicht die besten Jahre, wo wir Beide gemeinsam an uns arbeiten und unsa ergänzen und kann das nicht auch der Fall sein, wenn wir noch nicht verheirathet sind, selbst wenn wir lange getrennt sind und nur brieflich Gefühle und Ansichten aussprechen können? Ernst, ich muß wohl eine ganz andere Auffaßung vom Leben, vom körperlichen sowohl, wie vom geistigen haben, denn ich verstehe solche Aussprüche Deines Freundes eigentlich nicht. Bin ich zu dumm dazu, oder habe ich falsche Ansichten, belehre mich, lieber Schatz, Du weißt, daß ich Alles gern von Dir annehme.
Im Stillen hatte ich immer gehofft, Dein Brief würde sagen, daß Jacobis in diesen Tagen nach Berlin übersiedelten, so schwämme ich jetzt schon auf dem Waßer und in acht Stunden wäre ich bei Dir. Übrigens ist es recht gut, daß die Versuchung mir gar nicht geboten ist, denn so entzündet, wie mein Auge ist, hätte ich doch nicht reisen können. Den ganzen Sonntag über war ich sehr unruhig in Erwartung eines Briefes von Dir gewesen, bis ich ihn endlich Montag Mittag, während Mutter Untzers nach Swinemünde begleitete, erhielt. Gut, daß Mutter nicht da war und meine Thränen nicht sah, die durch die letzten Seiten || Deines Briefes wieder getrocknet worden. Mein Zustand ist wirklich Mitleid erregend, wer weiß, wie ungern ich ohne Thätigkeit bin; denn seit Montag kann ich nichts thun; Alles thut dem Auge sehr weh; dieser Brief an Dich ist die erste Beschäftigung und ich fürchte, auch bald mit aufhören zu müßen; hoffentlich geht es heute auf; ich habe auf Mutter’s Rath wiederholt eine gebratene Zwiebel aufgelegt, die Alles wieder gut machen soll. In meiner schlechten Stimmung am Montag hatte ich Deine Reise vorgenommen, die mir schon so manche angenehme Stunde bereitet hat, allein es wollte nicht gehen mit dem Lesen; da kam Dein lieber Brief, der meine Ungeduld und meinen Unmuth strafte über diese kleine Unbequemlichkeit und meine Seele nur Dir und allein für Deinen Kummer und Leid öffnete; darüber vergaß ich mich ganz. Tausend Dank, lieb Herz, daß Du mir Alles offen schreibst, was in Dir vorgeht; Du hörst ja auch Alles unnütze und dumme Zeug, was meine Seele bewegt. Deine Zeichnungen und Text von Carus habe ich gefunden und soll nicht vergeßen werden. Noch eins; unter den Noten ist eine Don Juan-Ouvertüre in kleinem Format, gehört sie Dir? Sonst laße ich sie Helene Brauchitsch mit noch anderen vergeßenen || Sachen zukommen. Ich bin natürlich bei dem Winde und rauhen Wetter ganz an das Zimmer gebannt, freue mich über die Wolken und gegen Abend über die schöne rosige Beleuchtung der Misdroyer Berge vom Fenster aus. Gestern Abend habe ich mich freilich wohl verwahrt hinaus gewagt und mich über den glänzend hellen Kometen gefreut, der jetzt schon sehr tief steht. Sein großer, breiter Schweifel reicht bis in den Wagen hinein und ein Schweif stand gestern Abend über dem mittleren Stern des Kometen mit bläulich silbernen Licht, ein zweiter feurigerer Stern mit röthlichem Licht; ich vermuthe dies ist der Arctus zum Sternbild des Botener gehörig, in dem er nach der Nationalzeitung vom 5 October stehen sollte. Es sah ganz reizend aus. Wie halten es doch Menschen einen einzigen Tag ohne reelle Beschäftigung aus? Mir kommen diese Tage wie Jahre vor. Ich freue mich gar sehr auf Dich, lieber Erni, und wünschte nur meinen Gedanken des Wiedersehens eine bestimmte Richtung geben zu können, so müßen wir in’s Unbestimmte hoffen; Ende nächster Woche denke ich jedenfalls bei Dir zu sein. Gut, daß ich noch mit Arbeiten und Büchern versehen bin, so daß ich die Zeit ausfüllen kann. || Untzers werden Euch wohl von uns berichtet haben; ich bin froh, daß ich ihnen durch meine jetzige Unbrauchbarkeit nicht noch lästig gefallen bin. Übrigens so kraßer Egoismus wie in diesen beiden Leuten steckt, findet sich bei keinem Naturforscher. Sie beschäftigen sich nur mit sich und ihrem Körper, sind also, für den häuslich-gemüthlichen Verkehr gänzlich unbrauchbar. Mutter ist jetzt in ihrem Element; sie baut Mauer, macht Gartenanlagen, hält Zwiespräche [!] mit den Heringsdorfer Büdnern wegen Verbeßerung und Verschönerung Heringsdorf’s und ist wenig oder gar nicht im Zimmer. Da bin ich denn meinen süßen Gedanken allein überlaßen, die stets in Berlin weilen. Heute Abend sind Wallenstedts und die Profeßorin Klenze hier, die morgen abreis’t; ich werde gewiß sehr intereßant sein. Mutter grüßt Deine Eltern und Dich herzlich und läßt Deiner Mutter besten Dank für die freundlichen Zeilen sagen und Dich bitten, in Deinem nächsten Brief zu schreiben, was Du von Jacobis möchtest. Von mir Allen Grüße, besonders Deinen Alten, Tante Bertha, Heinrich und Jacobis. Verzeihe für dies Mal der Einäugigen die Weitläufigkeit im Schreiben und denke nach wie vor gut von Deiner glücklichen Änni.
a eingef.: uns