Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Heringsdorf, 3. Oktober 1858

Heringsdorf 3.10.58.

Bis jetzt habe ich vergeblich auf einen Brief von Dir gewartet, den ich aber heute noch bestimmt zu bekommen hoffe, mein lieber, lieber Schatz. Mittwoch waren es acht Tage, seit Du mich verließest, mir kommt die Zeit viel länger vor und wie lang wird sie noch bis zum Wiedersehen sein, denn in der nächsten Woche denkt Mutter noch gar nicht an Reisen. Jeder einzelne Tag ist mir freilich im Umsehen dahin, ich nähe fleißig, wobei meine Gedanken eine so liebe Beschäftigung haben, so daß sie immer und immer zum lieben Erni wandern und sich das so zur Gewohnheit machen, daß ich ordentlich erschrecke, ertappe ich sie mal wo anders. Zwischendurch lese ich mit großen Intereße die Iliade, die sich sehr leicht und gut lies’t und täglich freue ich mich über die gelungenen Bilder dazu, an denen man wirklich griechische Form und Schönheit studieren kann. Das ist denn wieder ein herrlicher Anknüpfungspunkt für schöne Stunden, die ich mit Dir zusammen im Museum zugebracht habe; den ersten Platz in der Erinnerung nimmt mein schöner Apollo aus der Rotunde aus einem ganz bestimmten Grunde ein. Ich lebe mich so mit den griechischen Helden ein, daß ich in dieser Nacht fortwährend Achilles betrübten, gesenkten Blickes bei den Schiffen im Traum sitzen sah. Meine größte Freude ist in Deiner Reise zu lesen, wobei ich immer mit Dir jauchze und mich über die herrliche Natur freue, in die ich mich nach Deiner treuen Schilderung lebhaft hinein versetzen kann: Den Gardasee habe ich so lange auf der Karte angesehen, bis er das schönste tiefste Blau erhielt und ich in seinem Spiegel immer Dein Bild sah. Verona muß Dir ganz besonders gefallen haben und heute werde ich Dich nach Venedig begleiten, worauf ich mich sehr freue. Damals hast Du den 14 Sept. auch sehr schön im Sarkathal zugebracht. Es fängt an hier recht kalt zu werden, so daß das Kaminfeuer Abends sehr angenehm ist. Auf meinem kleinen Stuhl sitze ich vor dem praßelnden Feuerchen und sehe mir Dein liebes Bild an, das beim Erwachen meinen ersten Blick bekommt, auch die schönen Farrenkräuter blättere ich dann oft und oft um und finde jedes Mal eine neue Schönheit an || jedem einzelnen heraus. Sie haben ein besonderes Intereße für mich, da ich die meisten Punkte, wo Du sie gepflückt hast, kenne, bis auf wenige einzelne, die ich aber nach Deinen Erzählungen so lieb habe, als wäre ich wirklich da gewesen. Täglich danke ich dem lieben Gott, daß er mir die Erinnerung in’s Herz gelegt hat, wie wäre sonst unsere Trennung so schwer, wie rasch würde manches schöne Bild, das Natur den Menschen einprägt, verschwinden, wie viel schmerzlicher noch, träte der Tod von geliebten Wesen an uns heran, an die wir uns so freundlich und oft erinnern können. Und wie liebt die Erinnerung die Harmonie, daß sie Alles, was dieselbe stören könnte, entfernt und nur mit reinen, lichten Wellen an das Ufer des Geistes anschlägt. Dabei komme ich auf unsere liebe Ostsee, die jetzt meist bewegt und sehr schön gefärbt ist; vom Dunkelblau bis in’s ganz helle Grün spielt sie in den verschiedensten Farben. Himmel, Wald und Misdroyerberge sind auch mitunter sehr schön gefärbt, so daß ich hübsche Eindrücke immer mit nach Haus bringe. Ist es häßlich und windig, gehe ich in den Wald, der schon sehr bunt und gelb ist; zwischendurch findet man aber auch noch schöne grüne Buchen, die dem Auge ordentlich wohlthun. Wahres Licht und Leben fehlt mir überall.

Mittwoch Nachmittag tranken wir beim Förster Kaffee, wo es still und ruhig unter den Bäumen war und gingen von da nach der Wolfschlucht, wo leider der Sonnenuntergang vergeblich auf sich warten ließ, die [!] der hübschen Swinemünder Bucht erst die rechte Färbung gibt. Zu Hause angekommen, wurde wie allabendlich in den Huberschen Skizzen aus Irland gelesen, die sehr intereßante, mir ganz neue Aufschlüße über die jammervollen Verhältniße Irlands geben. Direkt nach dem Abendbrod verfügen sich Untzers nach oben, wo sie, wie ich glaube, noch eine Betstunde abhalten. Mutter sitzt dann noch ein klein Weilchen bei mir und ist auch sie zu Bett, bin ich mit meinem Erni ganz allein, und das sind die schönsten Stunden. ||

Donnerstag Morgen faltete ich Wäsche zusammen und ging dann noch an den Strand zur geistigen Erholung von allzu prosaischer Beschäftigung. Große Segelschiffe, von der Sonne beschienen belebten die See ungemein. Nach dem Kaffee machte ich wieder mit Untzers einen Spaziergang an den Strand, wo scharfer Wind wehte; eigentlich wollten wir nach dem Langenberg, auf den ich mich schon sehr gefreut hatte; allein am Fuße des Berges, fand Tante Julchen es für Gustav und sich zu anstrengend und so mußte die Sonne ohne uns über dem Achterwaßer untergehen, was ich so gern gesehen hätte. Du kannst Dir keinen Begriff von Tante Julchens Zimperlichkeit, Besorgtheit und Ängstlichkeit um ihren und Onkel Gustav’s Cadavre denken, der kaum einen Schritt ohne ihre Erlaubniß thun darf. Bald weht der Wind zu stark, dann muß der Rockkragen in die Höhe gemacht werden, dann kommt ein Sonnenstrahl, wird der Regenschirm aufgespannt, weil sie keine Sonne vertragen können, Schatten aber auch nicht, denn da ist es zu kühl; so hat sie kaum Zeit an irgend Etwas Anderes zu denken und ich mühe mich an ihrer Seite vergeblich ab, sie für die verschiedensten Sachen zu intereßiren, allein Alles schlägt fehl, und Unterhaltung unterbleibt. Das ist mir aber so peinlich, wenn ich einmal mit anderen Menschen zusammen bin, daß ich nicht traurig darüber bin, daß sie morgen früh abreisen und Dir diesen Brief mitnehmen wollen. Dennoch freue ich mich sehr, daß namentlich Onkel Gustav der Aufenthalt hier so gut gethan hat, wenigstens nach seinem Aussehen zu urtheilen, das sehr viel beßer ist. Was macht den Dein unnützer Mund? Ich hoffe in Deinem Briefe Gutes von ihm zu hören. Von Hermine und Karl kamen Freitag auch endlich Briefe, wonach sie sich wieder sehr behaglich in ihrer Wohnung fühlen. Hermine schickte mir einen Brief von der guten Doktorin mit, die Dich herzlich grüßen läßt und meint, || Du seist doch Deiner damaligen Versicherung in Ziegenrück, nie ein Mädchen zu lieben, bald untreu geworden, billigt aber Deine Wahl sehr, da sie mich auch gern hatte. Von Agnes Stubenrauch aus Frankfurt hatte ich auch einen sehr lieben Brief, die sich herzlich mit mir meines Glückes freut. Ihr ist auch schon der Vetter bedenklich in den Briefen vorgekommen, wenn ich ihr im vergangenen Winter schrieb, daß ich zuweilen mit Dir quatre main spielte oder läse. Beruhigen sich denn Deine Freunde? In ihrer Stelle thäte ich es, ändern a können sie ja doch nichts an der Sache, sondern nur wünschen, daß die Liebe Dich in der Wißenschaft nicht hemmt, und Du ein glücklicher Mann wirst, wozu ich Dich doch nicht allein machen kann, kannst Du Deinen Durst nach Wißen und Fortschritten in der Erforschung der Natur nicht stillen, wobei Dir nur mit der geringsten Leistung helfen zu können, meine Hauptfreude sein wird. Säße ich nur erst neben Dir in Deinem Zimmer und könnte Dir die Gläschen waschen und allerlei andere Puseleien abnehmen, wie glücklich wollte ich sein. Donnerstag Abend um 9 Uhr sah ich den Kometen wundervoll vom Ende der Terraße vor unserem Hause. Wie ein kleiner Mond stand der große leuchtende Stern da und sein gekrümmter Schweif so breit und lang an dem tiefblauen, mit flimmernden Sternen bedeckten Himmel, daß ich mich von dem Anblick gar nicht wieder losreißen konnte. Mutter hat ihn in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend noch schöner gerade unserem Hause gegenüber gesehen, mich aber leider nicht geweckt, um diesen Genuß zu theilen. Freitag begann mit einem trüben, häßlichen Morgen, allein später hellte es sich auf und Nachmittags spazierten wir bis zur einbrechenden Dunkelheit am Strande auf und ab; die Möwen tanzten lustig über den Wellen und ich hatte mich auf Sturm gefreut, statt deßen || regnete es gestern Morgen, so daß ich mit Untzers im Walde nach dem Präsidentberg ging, den Du, glaube ich gar nicht gesehen hast; bist dadurch aber an Eindrücken nicht ärmer, denn die sonst sehr niedliche Aussicht nach Heringsdorf herüber ist gänzlich zugewachsen. Es jammert mich ordentlich, wenn ich an den ausgeholzten Stellen des Waldes vorüber gehe, wie man Gottes schöne Natur so verstümmeln kann und doch b fordert die Cultur es nothwendig; undankbar darf ich auch nicht sein, denn in dem Augenblick zündet Johanna das Kaminfeuer an, deßen praßelnde, knisternde Flamme mich an den einzigen Abend erinnert, wo ich zu Deinen Füßen dort saß; so nahe meinem geliebten Wesen, nach dem mich unendliche Sehnsucht ergreift; Erni, ich glaube manchmal, wenn es möglich wäre, wir haben uns zu lieb, wir können nicht ohne einander sein, ach lieber Schatz, denk’ des wonnigen Moments, wenn ich nach Italien zuerst wieder in Deine Arme darf, wie selig wollen wir dann sein! In der flackernden Flamme, die das ganze Zimmer hell erleuchtet und lange Schatten an den Wänden zeichnet, liegt etwas Geheimnißvolles und das paßt gerade zu meiner Stimmung, in die ich durch Deinen Aufenthalt in Venedig versetzt bin. Da wird das Zimmer zum Canal Grande, auf dem eine schwarze, mystische alte Barke, die Dir damals gar nicht gefallen hat, weil sie gleichsam für ein Brautpaar wie bestimmt ist, vor meinen Augen hin- und herschaukelt und drin sitzen zwei glückselige Leute: Erni und Änni. Das sind unnütze Träume, weg mit ihnen. Ich habe durch Deinen Bericht ein deutliches Bild von dem wunderbaren Venedig erhalten und mir dabei die einzelnen Bilder aus den Stereoskopen in’s Gedächtniß zurückgerufen, die doch sehr anschaulich waren. Die Stereoskopen, denkst Du noch des 5ten Mais, wo wir beide Nichts sahen, als die kleine Partie || im Tuilleriengarten! Wie haben wir doch mit der Natur Schritt gehalten, mein lieber Schatz, mit ihrem Erwachen ist auch in uns ein Frühling erwacht, der hoffentlich noch einen blüthenreichen Sommer, einen reifen Herbst folgen läßt, wo unsere jetzigen Gefühle in nie alternder Frische das ruhige schöne Ebenmaß erreicht haben der Griechen, wenn die Leidenschaften ausgetobt haben und der edle, reine, aufrichtige Gedanke, der solchen Gefühlen zum Grunde liegt in der That sich verkörpert; ja ein edles, reines und wahres Leben wollen wir führen, uns weder durch die Liebe, noch den Haß der übrigen Menschen knechten laßen, sondern in geistiger Freiheit untereinander und mit ihnen leben, nämlich denen, die einem gleichen hohen Ziele nachstreben und edler Gefühle fähig sind; so können wir uns rechtfertigen vor Gott und unserem Gewißen und haben Frieden, den man so leicht haben kann und doch so selten hat. Ideale können Wirklichkeit werden, mein lieber Erni. In Deiner reinen, kindlichen, für alles Hohe und Schöne offenen Seele, voll Individualität und Selbstbewußtsein, ohne welche ein Mensch nach meiner Ansicht nicht zur Klarheit kommen kann, und Deinem tiefen religiösen Gefühl, so sehr Du es auch abläugnen willst, Du hegst es in Deiner Brust, das sagt schon Dein Gesicht und beugst Dich vor einem Gott; in diesem schönen Menschen, finde ich meine Gedanken verkörpert, die ich mir immer von einem Mann machte, dem ich einst angehören möchte, und fast beschämt stehe ich da vor Dir, der Du mich eines solchen Glückes würdigst, wie es nicht Vielen zu Theil wird. Es gibt Gott sei Dank viel glückliche, Double-Menschen, allein daß man sagen könnte sie hätten Alle ihr Ideal erreicht, ist nicht der Fall; die Gewohnheit macht viele Menschen glücklich; uns soll sie kein Bindemittel, nur die Schule des Lebens sein, die || den Kern, die einige Seele einschließt. Mir ist es manchmal ganz wunderbar, wenn ich wieder einen Brief bekomme, worin man mir Glück wünscht, ich habe ja alles Glück, was wünschen mir die Menschen dann, doch sie sind gutc und wollen mir Liebe erweisen. Noch sonderbarer wird mir das mündliche Gratuliren in Berlin sein, das ich erst überstanden wünschte, mir graut etwas davor; doch dann haben wir auch Ruhe und in der Stille können wir uns unseres Glückes freuen, noch viel miteinander lesen und sehen und spielen, so viel Deine Zeit zuläßt und werde ich ruhig und gefaßt Dich ein Jahr laßen, nach welcher Frist Du hoffentlich gesund und frisch zu Deiner Änni zurückkehrst. Bei Italien fällt mir ein, Tante Julchen sagte heute, von Bochum sei schon ein Brief an die Familie Klostermann nach Messina abgegangen, worin sie Dich derselben empfehlen in der Voraussicht, Du reis’test jetzt im Oktober; der Brief, den Du in Händen hast, wird auf diese Weise auch sehr alt werden. Sonnabend Nachmittag ging es wie gewöhnlich an den Strand, wo plötzlich drei Bräute zusammen standen, aus den drei einzigen Familien, die hier außer Wallenstedt noch existiren. Da haben wir tüchtig gelacht es waren Frl. Sommerfeld, Belitz und ich. Frl. Belitz fährt Mittwoch unter Sommerfelds Schutz ab und Letztere wollten mich bereden, ein Gleiches zu thun, du weißt wie gern, da es aber nit kann sein, bleib’ ich allhier. Nun ist es Abends 9½ Uhr geworden und kein Brief von meinem Erni ist gekommen, steht mir nun auch die Freude bevor, bin ich doch etwas ungeduldig geworden, da ich bestimmt einen zu bekommen hoffte. Hast Du auch Tante Bertha meinen Brief gegeben, kleines vergeßliches Strick? Also Tante Gertrud hat wirklich gratulirt. Schreibt sie auch von wiederkommen? Ich wünschte, sie schneite in Aurich ein, || Tante Bertha wird ihre Anwesenheit wieder nicht sehr wohl thun, und übrigens kann Jeder sie entbehren. Wie freue ich mich über August’s Versetzung nach Berlin, namentlich für Mutter, die gewiß manche Stunde mit den Enkelchen zubringen wird. Ich habe es mir immer sehr angenehm gedacht, mit einer verheiratheten Schwester an einem Ort zu sein und das hat es auch gewiß, ich bin neugierig wo sie Quartier finden werden, denn danach wird sich der Verkehr doch etwas richten. Grüße sie, sowie Heinrich und die kleinen Dinger herzlich von mir; da wird No 4 auf einmal lebendig; es ist mir ganz komisch, daß wir sie nicht dort empfangen können. Zu gleicher Zeit mit Helenens Brief mit dieser Nachricht kam auch einer von Helene Brauchitsch’s Vater aus Annaburg, der in den salbungsreichsten aber gewiß gut gemeinten Ausdrücken Mutter, mir und Dir Glück wünscht zur Verlobung und für Helenens Aufnahme dankt. Er erinnere sich Deiner noch als ein selten kräftiges Kind, und hätte allen Respekt vor Dir in Hinsicht auf Deine sehr achtbaren Eltern. Mich kannte er leider nicht, doch und nun kommt eine Fluth von tugendhaften Voraussetzungen; dabei küßt er der in jeder Zeile hochzuverehrenden Frau schließlich noch brieflich die Hand; ich glaube meine Feder sträubte sich gegen solche Redensarten, wobei sich der Schreibende glaube ich nichts denkt; wenigstens erwacht dies Gefühl beim Lesen derselben. Herr Salzsieder, der Bernsteinmann in seiner kleinen Bude erkundigte sich gestern bei mir, ob Du Arzt wärst, und als ich es ihm verneinte, sagt er: „Das ist nur gut, denn das sind Alle Fuscher“; das amüsirte mich königlich. Nun eile ich zum Schluß, wünsche Dir eine gute Nacht, bestelle Dir noch einen Gruß für Dein Zimmer und besonders Deinen Alten und bitte Dich, mich nicht wieder so lange auf einen Brief warten zu laßen. Einen innigen Kuß von

Deiner treuen Änni

a gestr.: sie; b gestr.: bringt; c korr. aus: lieb

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
03.10.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34424
ID
34424