Anna Sethe an Ernst Haeckel, Heringsdorf, 28./29. September 1858

Heringsdorf 28.9.58.

Vor einer Stunde bekam ich Deinen herzlieben Brief, mein bester Schatz, der mich ganz glücklich gemacht hat, so daß Mutter und Onkel und Tante sich über mein strahlendes Gesicht amüsirten. Ich hatte von früh Morgen an bestimmt einen Brief erwartet, war zweimal vergeblich auf der Post und gegen 1 Uhr, als ich mit meiner Arbeit und dem Uhland nach dem Wald heraus saß und den Postboten kommen sah, steige ich ihm entgegen und bekomme auch richtig einen Brief, aber nicht von Dir, sondern von Auguste Jungnickel aus Breslau, einer Stettinerin, die ich recht lieb habe; daß dennoch ihr Brief nicht so aufgenommen wurde, wie er es verdiente, kannst Du denken. Vorgestern bekam ich auch zwei herzliche Briefe, einen von der Regierungsräthin Schrader aus Stettin, die sich einbildet, ich habe mich schon auf Annchens Taufe verlobt, und einen von Magdalene Dieckhoff, die merkwürdiger Weise sehr glücklich über Deine italienische Reise schreibt aus Egoismus, weil sie in diesem Falle mich in Berlin, wohin sie Anfang October kommt, ordentlich genießen könne. Täglich muß ich mich, wie Du nach jedem Briefe über den prac. arzt in der Anzeige ärgern, denn Jedermann hält Dich wirklich für einen solchen Schwindler, und das kommt mir entehrend für Dich vor. Du armer Schatz, wirst so bedauert von Deinen Freunden, die Deiner wißenschaftlichen Carriere wirklich den Hals brechen wollen, und das hast Du doch gar nicht vor. Ich kann ihnen beim besten Willen nicht beistimmen und Dir ein Ach und O zurufen, wenn ich bedenke, wieich unendlich reich, glücklich und zufrieden [ich] in Deinem Besitze bin, machte ich Dich auch nicht einmal das Zehntel so glücklich, bedauern könnte ich Dich nicht. Wer die Liebe, dieses zarte und doch feste Band zweier gleicher Seelen nicht kennt, kann nicht darüber urtheilen. Ich habe nichts Schöneres, Edleres und Höheres auf der Erde kennen gelernt, als das Gefühl des Einssein in unseren beiden Personen und dies Ineinanderleben zweier Seelen, die wie für einander geschaffen sind. So wird meine Liebe Dir die religiöse geistige Bestimmung der menschlichen Existenz, den Gott immer klarer machen, wie ich durch Deine Briefe Einsicht in die Natur und ihre Geheimniße, der Wahrheit || immer näher kommen werde, selbst das Geringste werde achten lernen und aus dem Alltagsleben des Verstandes hinaus dem Geiste, dem unruhigen Gesellen an unserer Brust immer neue Nahrung bieten kann, wovon ich bei Dir immer Vorrath finde. In diesem gegenseitigen Austausch werden wir glücklich werden und Keins dem Anderen ein Hemmniß sein. Wie Du durch mich jetzt vielfach gebunden bist und manche frühe gefaßtea Paßion und Lust aufgeben mußt, so werde ich späterhin stark werden, Dich entbehren zu können, wozu ich ja bald die besten Vorstudien mache, sollte sich Dir noch einmal die Gelegenheit nach den Tropen bieten, dem sehr natürlichen Ziel aller Naturforscher. Ich kann mehr aushalten als Du denkst, und werde ich jetzt auch manchmal weich und wehmüthig in dem Gedanken an das Trennungsjahr, Du wirst erfahren, daß ich die Trennung leicht trage, daß ich mir wie immer, auch das Gute, das diese Zeit bietet, heraussuchen und sie nutzen werde. Erni hab’ einen Kuß für Deinen Brief, der mich Dir wieder um Vieles näher gebracht hat, wie schön, daß diese Gedankenbrücke besteht. Ich muß dabei an ein Gespräch denken, daß ich Sonntag Vormittag mit der Profeßorin Klenze hatte, der ich in Deinem Namen mit meinen Besuch machte. Sie fragte, ob wir uns auch ordentliche Briefe schrieben; ihr Sohn und seine Frau Braut hätten das in fünf Jahren noch nicht gelernt; sie schrieben sich nur äußere Begebenheiten, eine Gefühlsseite würde nie berührt. Ich wußte nicht recht, was ich darauf antworten sollte, ohne dem Brautpaar, das sich gewiß ebenso lieb hat, wehe zu thun. Denn dabei hört meiner Ansicht nach Alles auf. Wie Vieles bewegt Einen nicht, was man dem Anderen mittheilen muß, wie entwickelt man sich nicht immer mehr aus dem gegenseitigen Gedankenaustausch, der, kann er nicht mündlich sein, doch im Briefe statt finden kann? Erni, ich kann mich nicht in eine Seele hineindenken, die nur fühlt, ohne den Gefühlen Worte zu geben, und wenn das auch nicht allen Menschen gegenüber, so doch dem, mit dem sie ein ganzes Leben zusammen leben und denken will. Ich sage Dir Alles, was ich denke, mag es noch so dumm und unüberlegt sein, ich weiß, Du hast Geduld mit mir und hast ebenso Deine Fehler, wie ich und alle Menschen, hast aber auch ein so liebes, warmes und reiches Herz, das man darauf || wie auf einen Fels bauen kann. Ich bin sehr glücklich, Dich ganz zu durchschauen, Dich zu verstehen, sonst könnte ich Dich nicht glücklich machen; wäre Deiner unwerth. Ich plauderte gern noch lange mit Dir, allein die böse 11 Uhr kommt immer viel zu schnell und gehorchen muß ich doch. Tante Julchen will sich sogar täglich überschlagen, wie ungesund das sei, Abends zu schreiben, allein wollte ich alle ihre ängstlichen, unnöthigen Vorsichtsmaßregeln und Warnungen befolgen, ich wäre fast so schlecht bestellt, wie der arme Onkel Gustav, der keinen Schritt, Nichts, Nichts thun darf ohne ihre Erlaubniß. Wie Quincke als Arzt mit ihnen fertig wird, soll mich wundern. Ich schaffte in seiner Stelle zunächst das Stirnbändchen und viele anderen Pingeleien ab, von denen Du Dir gar keinen Begriff machen kannst. Nun gute Nacht, lieber Schatz, schlaf süß, Dich ganz wieder gesund und sei bei mir im Traum; im Wachen bist Du es ja immer. Ich habe nur Einen Gedanken, das ist der Gedanke an Dich. –

Mittwoch früh. Guten Morgen mein lieber Erni, mein Erstes soll wieder der Brief an Dich sein, damit er womöglich noch Morgen in Deinen Händen ist. Das Meer rauscht heute wundervoll, die Wellen haben immer nur einen Klang und das Erni, Erni klingt mir immer in die Ohren; die unnützen Dinger bilden sich wohl gar ein, ich könnte den Namen vergeßen, weßhalb sie ihn mir fortwährend zurufen oder beßer gedacht, sie wollen mir etwas Liebes anthun und plaudern mir da stets von meinem Schatz. Hätte ich Dich nur hier, das denke ich stündlich, namentlich an den vorigen Tagen, wo wir weitere Touren machten, auch nach dem lieben Corswant, konnte ich diesen Gedanken nur schwer unterdrücken. Mutter schlug ernsthaft vor, ob Du uns nicht abholen könntest und dann noch ein paar Tage hier bleiben; doch ich weiß, daß daraus nichts wird, drum quäle ich erst gar nicht; bis jetzt weiß ich noch nichts über unsere Abreise, Mutter hat es nicht gern, wenn ich sie danach frage, also abwarten; die nächste Woche sind wir gewiß noch ganz hier. Höre mal, Tante Bertha verstehe ich nicht, daß Du ihr denn den Brief von mir nicht gegeben und meines Wißens habe ich außer diesem letzten drei Briefe an sie geschrieben, die doch hoffentlich nicht verloren gegangen sind; daß wir bei Deinem Hiersein nicht an sie schrieben, wird sie wohl verzeihen, denn da war die Zeit edel. Ich freue mich sehr, daß es ihr so gut geht und sie wohl und munter wiederzusehen; grüße sie herzlich von mir. Meine Briefschulden wachsen täglich dermaßen, daß ich ungerechte unmöglich auf mir sitzen laßen kann. || Nun werde ich die Tage einzeln mit Dir durchgehen:

Freitag Nachmittag nach Absendung Deines Briefes war ich wirklich noch in der Wolfschlucht, wo ich freilich keinen Sonnenuntergang hatte, von einem Baumstumpf oberhalb der Ahlbecker Wiese, dem Punkte hinter der Wolfschlucht aber einen großen Genuß. Die wunderbarsten Wolkengebilde vom Mattviolet bis zum tiefen Schwarzgrau zogen über die friedliche grüne Wiese hin und ferner Donner rollte in den Lüften; ich saß dort ¼ Stunde festgebannt und ließ mich von der einbrechenden Dunkelheit erst aus der Nähe des Plätzchens treiben, wo wir einen Vormittag in der Sonne zugebracht haben, entsinnst Du Dich deßen? Wegen der Dunkelheit wollte ich direkt zu Hause, allein plötzlich sah ich durch die Bäume den freundlichen Mond blinken, der mich an den Strand lockte; er stand prächtig am Himmel und ich setzte mich ihm gerade gegenüber am Ufer auf ein Boot und ruderte mit meinem Erni zusammen durch’s Leben. Ich, die ich sonst nur in der Gegenwart lebe, ertappe mich jetzt meist in der Vergangenheit oder Zukunft; mehr noch in ersterer, wo die schönen mit Dir hier verlebten Zeiten unauslöschlich im Gedächtniß bleiben. Fast jeder Baum und Weg erinnert mich an Dich. Zu Hause saßen wir noch lange in der Halle, dem lieben Mond recht nahe. Sonnabend Vormittag, als wir beim besten Wäschetrocknen waren und ich mit Plätten feiner Wäsche beschäftigt, fahren Untzers uns überraschend vor; daß ich mich sehr gefreut hätte, kann ich nicht sagen, allein sie sind so gut und glücklich über ihren Aufenthalt, der besonders Onkel Gustav gut zu thun scheint, daß man sich freuen muß, sie hier zu haben. Das Beste ist, daß sie sehr mobile sind; so wanderte ich denn gleich Sonnabend Nachmittag mit Onkel nach dem Präsidentenberg, nach der Wolfschlucht, wo gute Beleuchtung war und dann durch die Dünen an den Strand, wo wir noch lange auf- und abgingen und den Mond prächtig aufgehen sahen; wir standen auf dem Damensteg, wo ich lebhaft des Abends am 15 dachte, wo wir dort den Mond zuerst zusammen an der See sahen. Unterhalten ist schwer mit Onkel Gustav, denn mich beschäftigt doch so vieles Andere, als blos das Religiöse, was bei ihm noch dazu so verschroben ist, daß ich darauf gewiß nicht das Gespräch bringeb. Sie wohnen über uns nach der See hinaus, frühstücken allein; bringen überhaupt den Vormittag allein zu, was mir ganz recht ist. Mittags eßen wir zusammen, dann werden entweder gleich Partien gemacht, oder geruht, d. h. ich gelesen [!], dann zusammen Kaffee getrunken und ein Spaziergang gemacht. Vor Tisch muß ich dann vorlesen; täglich bringt Tante Julchen ein anderes Heftchen mit herunter, die mir gleich das verdächtige Aussehen von Tractätchen hatten. Eins aus dem rauhen Hause, „Die Heimath des alten Mannes“ || ist sehr spannend geschrieben, aber so voller Bibelsprüche und religiöser Tendenzen, was mich nicht anspricht; ich liebe nicht eine so mit den Haaren herbeigezogene Religion, wenn sie nicht aus dem innersten Herzen kommt, ohne viel Reden davon zu machen, hat sie für mich keinen Werth. „Drei Tage aus Gellerts’ Leben“, auch eine rührende Geschichte hat mir beßer gefallen. Dazwischen lese ich den kräftigen York, den ich gestern zu Tode begleitet habe. Die siegreichen Schlachten habe ich mit wahrer Begeisterung gelesen; bei diesen glorreichen Thaten der Vorzeit erwacht wirklich Patriotismus, der mir sonst eigentlich gänzlich fehlt. Das ist ein edler, strenger, hochherziger, durchaus sittlicher Charakter in dem finsteren York, der das Schicksal fast aller großen Männer getheilt hat. Undank ist der Welt Lohn, hat er in reichem Maße vom König erfahren, der uneingedenk der furchtbaren Strapazen; Entbehrungen, aber großen Thaten, die York mit seiner Armee bestanden hat, den echt preußischen Krieger mehrfach zurückgesetzt hat. Nun beginne ich die Ilias und begebe mich mit Eifer in die Alpen zu meinem Erni. Bald nach dem Abendbrod um 9 Uhr begeben sich Untzers zur Ruhe, da habe ich noch zwei schöne Stunden vor mir, in denen gelesen oder geschrieben wird. Der Leitartikel in der Sonntag-Nationalzeitung: „Gemüthlichkeit und Gewißen“, hat mir seiner Wahrheit und trefflichen Seitenhiebe auf Minister und Königin wegen sehr gefallen; dafür ist die Nummer auch mit Beschlag belegt. Gestern las ich auch, daß Virchow in Karlsruhe von der naturforschenden Versammlung einen Orden bekommen hat; bei der Gelegenheit wird sehr begeistert des Großherzogs erwähnt, der sich Aller Herzen, auch die der fremden anwesenden Gelehrten gewonnen hätte; das ist mir neu, denn bei seinem Volk soll er wenig beliebt, desto mehr seine Gemahlin es sein.

Sonntag war ein nebeliger, trauriger Tag; kalt und Regenverkündend; ich gab daher die Solitüde auf und war sehr tugendhaft, der Klenze einen Besuch zu machen und von da auf den Kulm zu spazieren. Bei der Gelegenheit habe ich meinen niedlichen Regenschirm eingeweiht, der prächtig leicht und so bequem zu faßen ist; Deine lieben Eltern haben mir eine große Freude damit gemacht und mein Erni einen sehr guten Geschmack gehabt. Da es bei Tisch etwas heller wurde und man nicht wußte, wie das Wetter in den nächsten Tagen sein würde, wurde gleich nach Tisch nach dem Fangel gefahren, dort, wo es sehr zugig war, Kaffee getrunken und weiter nach dem Langen-||berg gefahren, wo wir wieder [!] Erwarten klaren Sonnenuntergang hatten. Ich wäre gar zu gern gegangen, aber allein wollte Mutter es nicht zugeben und mein Begleiter fehlte leider. Zu Hause fand ich Briefe vor, auch von Helene Brauchitsch, die Dich grüßen läßt.

Montag wurde Vormittags sehr eifrig Wäsche gelegt, wobei meine Gedanken statt bei Handtüchern und Servietten zu sein, stets in dem Zimmerchen spazierten und viel mit Dir plauderten; so legte es sich viel beßer Wäsche. Nachmittags wurde nach Corswant gefahren, auch wieder gefahren, was mir sehr sauer wurde. Wo Fahrweg und Fußweg sich trennen, am Fuße des Wurzelberges stiegen Onkel Gustav und ich glücklicher Weise aus und legten den übrigen reizenden Weg zu Fuß zurück. Ach Erni, wie gern hätte ich Dich an meiner Seite gehabt; die Eichen und Buchen waren noch so frisch und grün, wogegen überall anders die gelbe Farbe entschieden ihr Recht geltend macht; und die Sonne hatte sich mit solchem Wohlgefallen über und zwischen ihnen gelagert, daß ein Ach des Entzückens nach dem Andern über die Lippen kam und Onkel Gustav sehr viel von Dir mit anhören mußte. Dort saßen wir unten am See und spazierten dann rechts am Ufer des prächtig beleuchteten Sees entlang, wo ich sehr schöne Brombeeren für den Schnabel und niedliche Farrenkräuter für meinen Erni fand. Deine entzückenden Farrenkräuter vom Geburtstag sehe ich fast täglich mit neuer Wonne an und freue mich über jedes einzelne Blättchen. Der ganze Rückweg wurde zu meiner Freude zu Fuß gemacht; durch ein Mißverständniß ging Tante Julchen auch mit, so daß Mutter allein fuhr. Dabei bemerkte ich, wie schwer es mir wird langsam zu gehen, da ich rascher gewohnt bin. Immer war ich ein Stückchen vor, kehrte dann wieder zu ihnen zurück, kam aber immer wieder unwillkührlich in einen schnelleren Schritt hinein. Im Heringsdorfer Walde sahen wir in einer Oeffnung, durch die Bäume den Kometen merkwürdig klar unter dem großen Bären und zu Haus überraschte uns der Mond, der eine schöne Wolke unter sich gerade der Halle gegenüber stand, so daß der Silberstrahl auf dem Meere das ganze Zimmer magisch beleuchtete und eine unwiderstehliche Anziehungskraft hatte. Dennoch mußte ich widerstehen, weil ich nicht allein an den Strand sollte, und schaute ihn mir also von der Halle aus an. || Gestern sah das Wetter wieder sehr bedrohlich aus; die trübe Beleuchtung paßte wohl zu Untzer’s Stimmung, die an diesem Tage vor einem Jahre Julius verloren hatten. Am Tage vorher sprach ich viel mit Onkel Gustav über ihn; gestern aber wagte ich es nicht recht; es ergriff mich sehr, als ich gestern auch gerade im York den Tod seines ältesten Sohnes Heinrich bei dem Überfall von Versailles las, den die Mutter nurc wenige Tage überlebt hat; den alten York hat dieser doppelte Fall ganz mürbe gemacht und doch hatte er noch einen Sohn und Tochter, welche letztered freilich nach wenigen Jahren auch starb; das Schicksal von Untzers, ihr einziges Kind so in der Blüthe der Jahre zu verlieren, ist wirklich sehr hart. Ich machte Vormittags zwei Besorgungen und sah mir die etwas bewegte See vom Kulm aus an. Nach dem Kaffeetrinken wanderte ich mit Untzer’s an den Strand, blieb dort aber nur ½ Stunde, weil Tante Julchen vor dem heraufziehenden Regen nach Haus floh. Ich mußte mit, trotzdem ich sehr gern noch geblieben wäre, denn die dunkele Beleuchtung mit einzelnen kleinen hellrosa Lichtwölkchen dazwischen gefiel mir sehr, und es war so warm und milde, daß ich Alles ablegen mußte. Am Abend, als ich nicht mehr zur Arbeit sehen konnte, wanderte ich noch etwas in den Wald und vergeblich auf die Post, die mir aber eine Stunde später Deinen lieben, lieben Brief zustellte. Lieber Schatz, laß Dich nicht von Deinen Freunden ärgern, verfolge Deine wißenschaftliche Carriere mit allem Eifer und gib es nicht zu, daß sie mir, als einem Hemmniß auf Deiner Laufbahn grollen; ich will Dich gewiß nicht stören, aber lieb haben muß ich Dich nun einmal, ich kann nicht von dir laßen; Deine ganze Persönlichkeit, Deine liebe, tiefe und wahre Seele übt eine solche Gewalt über mein Herz aus, daß ich mir mich nicht mehr vorstellen kann ohne Deinen Besitz. Deine Freunde sollst Du auch ganz eben so lieb behalten, die Dir und denen Du so viel verdankst. Mein Herz ist wenigstens weit genug, daß meine lieben Freundinnen, mit denen ich durch schön verlebte Jugendjahre eng verbunden bin, neben Deinem Hauptplatz immer noch ein kleines Winkelchen im Herzen finden, woraus Du sie gewiß nicht verdrängst. Selbst von Mädchen, mit denen ich eigentlich gar nicht e correspondire, laufen herzliche Briefe ein, ein Beweis daß ich ihnen noch nicht gleichgültig geworden bin. || Erni, könnte Vater uns doch einmal in unserem Glücke sehen; ob er wohl weiß, daß ich glücklich und zufrieden bin; es ist eine geheimnißvolle Existenz dort oben; ich fühle mich geistig ihm immer noch nahe und denke sehr gern an ihn zurück; dabei verwischen sich auch die kranken und traurigen Zeiten der letzten Jahre immer mehr und ich sehe sein gemüthlich zufriedenes Gesicht, wie es so schön auf dem Bilde wiedergegeben ist, in unserer Mitte, wo er so gern war. Dank dem Himmel, daß ich einen so guten, lieben Vater gehabt habe; sein reines, wahres Leben ist mir ein schönes Vorbild für das ganze Leben. Dein Bildchen sehe ich den Tag über unzählige Mal an und freue mich sehr, Dich wenigstens auf diese Weise stets um mich zu haben. Deinen Eltern sage 1000 Grüße von mir, ferner Allen, die einen haben wollen. Quincke nimmt gewiß einen an. Mutter läßt Dich, sowie die Eltern herzlich grüßen und Deiner Mutter sehr für ihren Brief danken; sie hofft aber nicht, daß sie Mutter mißverstanden habe und wünscht durchaus nicht, daß Tante Lotte etwa in Mutter’s Auftrag mit Tante Bertha über ihr gespanntes Verhältniß sprechen soll; das wäre Mutter sehr unangenehm. Einliegenden Brief besorgst Du wohl an Heinrich, und solltest Du selbst in No 4 sein, grüße mein liebes Zimmerchen, das mich hoffentlich bald wieder aufnimmt. Heute ist ein prächtiger Herbsttag, wohin die Wanderung gehen wird, weiß ich noch nicht, jedenfalls aber das weiß ich, daß Du mir sehr fehlst und Alles nur halben Reiz für mich hat, ist es auch undankbar gegen die schöne Natur, die menschliche Natur behauptet auch ihr Recht. Was macht denn Dein Klavierspiel; ich spiele gewöhnlich Vormittag etwas und freue mich schon jetzt darauf, die weiße Dame mit Dir zusammen zu spielen, die mir sehr gefällt. Onkel Gustav und Tante Julchen grüßen Dich herzlich. Alles, Alles grüßt Dich, die Halle und der hübsche Blick auf die stark bewegte See, der Wald, unser Siestaplätzchen und der Weg nach dem hübschen Baum dort oben; an unserem Plätzchen bin ich noch nicht wieder gewesen, denke aber heute hinzukommen. Dort haben wir selige Stunden verlebt, an die ich mich während des kommenden Jahres festklammern werde: Wir haben schon schöne Zeit miteinander verlebt, was wir dankbar anerkennen müßen, und erfüllt das Jahr unserer Beiden Hoffnungen, stehen uns noch schönere Zeiten bevor. Ade, Herzensschatz, laß Dich trösten und schreib bald Deiner Änni.

a eingef.: gefaßte; b korr aus.: bringen; c korr. aus: auch; d eingef.: letztere; e gestr.: corres

Brief Metadaten

ID
34423
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen (Provinz Pommern)
Datierung
29.09.1858
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
14,3 x 21,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34423
Zitiervorlage
Sethe, Anna an Haeckel, Ernst; Heringsdorf; 29.09.1858; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_34423