Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Heringsdorf, 23./24. September 1858

Heringsdorf 23.9.58.

Guten Abend, mein lieber Herzensschatz; ich muß nothwendig ein wenig mit Dir plaudern, obgleich es schon recht spät ist. Gestern Abend wollte ich Dir schon mein Herz ausschütten, das ganz erfüllt wara von Allem Schönen, das ich den Tag über genoßen hatte; allein rasende Kopfschmerzen und nothwendige Flickereien zur Wäsche, in der wir uns mitten drin befinden, (eine entsetzliche Prosa nach der Mondscheinpartie) ließen mich nicht dazu kommen. So lange ich noch einen Punkt vom Neptun sehen konnte, der Dich davon in die Ferne trug, stand ich noch in Swinemünde am Bollwerk; dann bestieg ich meinen kleinen Einspänner. Ich hatte eine herrliche Fahrt, d. h. windig war es, aber so wunderbar schöne Beleuchtung, daß ich mit Gewalt aus meinem traurigen Grübeln herausgerißen wurde und mich völlig der schönen Natur hingab, freilich jeden Schritt bedauernd, Dich nicht an meiner Seite zu haben, um Dich an dem schönen Farbenspiel ergötzen zu können. Der See sehr schön blau, die Misdroyerberge ganz dunkelblau, Streckelberg und Langenberg ganz golden von der Sonne beschienen und Heringsdorf aus den bräunlich gefärbten Bäumen so klar hervortretend, daß ich wirklich ganz entzückt war. Vater Grimm, mein Kutscher war dazu so redselig, daß ich nicht Zeit hatte, traurig zu sein. Die offene, biedere Natur des Mannes amüsirte mich sehr. Er frug nach allen Personen aus, die abgefahren waren und freute sich neue Glieder unserer Familie gesehen zu haben; daß Du mein Bräutigam bist, wußte er schon und bemerkte dabei: „Na da haben Sie sich einen netten Jungen ausgesucht, der hat’s in den Augen.“ Das war mir freilich nichts Neues, allein es gefiel mir von ihm. Zu Hause angekommen beim herrlichsten Wetter, kramte ich meine Sachen wieder in mein Zimmerchen ein, dann setzte ich mich mit der Arbeit || nach dem Wald heraus und ertappte mich dabei auf ein paar verstohlene Thränen, die ich aber rasch unterdrückte und mir die schönen Tage in’s Gedächtniß zurück rief, wo wir Natur und uns so herrlich genoßen hatten. Dann war ich wieder bei Dir auf dem Schiff, bis Du in Stettin warst. Groß war meine Freude über das schöne Wetter, das mich hoffen ließ, daß Dir die Reise nicht geschadet hat. Ich sehe mit großer Sehnsucht dem morgenden Tag entgegen, der mir Nachricht von Dir bringen soll. Folge nur dem guten Beispiel Deiner Änni, deren Lippe fast ganz wieder gut ist und der Husten dito; natürlicher Weise bin ich in folge deßen sehr unglücklich, nicht baden zu können. Nach Tisch suchte ich unser liebes Siestaplätzchen auf, das mir schöner als je vorkam, aber mir war so einsam und traurig, daß ich mich kaum darüber freuen konnte; sehr ermüdet schlief ich ein und las nachher noch im York die Schlacht bei Möckern. Deine Reise verdiente ich nicht in solch schlechter Stimmung; ich werde den York nun erst beenden und dann in die Alpen reisen, was ich übrigens mit meinen Gedanken jetzt alle Augenblicke thue und Gletscher, Felsen und wilde Bäche deutlich vor mir sehe. Nach dem Kaffee beglückten uns Wallenstedts mit einer sehr langen Visite, um mir feierlichst Glück zu wünschen, obgleich ich doch schon einmal mit ihm zusammen war, fast hätte ich losgelacht. Um 6½ Uhr gerade, als ich Dich glücklich zu Haus wußte, ging ich an den Strand, der vom Mond zauberhaft beleuchtet war. Je dunkler es wurde, desto mehr wirkte der Mondschein auf meine ohnehin schon sehr erregte Phantasie. Ich fand mich treu regirt in dieser Naturferne; die See stark bewegt, wie mein Inneres auch; darüber der klare lichte Mond, aus dem mir Deine lichten Augen entgegenstrahlten, die ebenso wie über dem Meere ein sanftes Silberlicht über mein Leben ergoßen haben; ach Erni, Du machst mich ruhig, Du machst || mich gut, drum liebe ich Dich auch so innig; ach ich fühlte eine so unnennbare Sehnsucht nach Dir, daß mir der Kopf schwindelte; ich glaubte Dich mit meinen naßen Blicken vom Mond herunter ziehen zu müßen, manchmal griff ich neben mir nach Deinem Arm, allein faßte nur die Luft, und doch warst Du mir ja so nahe, und ich Dir, begrüßte mit Dir Dein liebes Zimmer, in dem wir schon manche glückliche Stunde zusammen verlebt haben. Sei nicht bös, daß ich mich so aufgeregt habe, ich will es gewiß nicht wieder thun; daß ich Dir auch alles unnützes Zeug schreibe, was ich anfange, mir ist aber immer, als müßte ich Dir Rechenschaft von meinen Gedanken und Handlungen geben; sie fließen unwillkührlich in die Feder. Mutter kam mir nach und wir gingen zusammen den Strand auf und nieder. Im Rücken des Mondes konnten wir den Kometen bewundern, der auch sehr klar am Himmel stand, und die schöne matte rothe Färbung am Himmel, das letzte Überbleibsel vom Abendroth. Zum Schluß gingen wir noch auf den Herrensteg, wo Mutter mich gewaltsam fort treiben mußte, so lieb sah der Mond mich an und erhielt dafür auch 1000, 1000 Grüße für meinen Schatz. Ich kann mich kaum einer so klaren Mondnacht erinnern. Um 11 Uhr ging ich noch einmal um das Haus herum; die Bäume waren magisch beleuchtet und so hell, daß ich die Jenaer Gedichte, die ich zufällig in der Tasche hatte, ganz deutlich lesen konnte. Dabei fällt mir ein, daß es 11 Uhr lange durch ist und ich in’s Bett muß. Dein Bildchen war das letzte, was ich gestern vor dem Einschlafen sah und herzte und küßte; Du glaubst nicht, was Du mir dadurch für eine Freude gemacht hast. Alle Augenblicke sehe ich es an und freue mich über den lieben freundlichen Ausdruck. Gute Nacht, schlaf süß, morgen hörst Du von heute. ||

Freitag Mittag 12 Uhr. Je näher die Zeit heranrückt, lieber Ernst, wo ich Deinen Brief bekommen kann, desto unruhiger werde [ich], und da glaube ich die Zwischenzeit nicht beßer anwenden zu können, als mit Dir zu plaudern, damit mein Brief gleich abgehen kann, bekomme ich Deinen. Gestern Morgen hatte ich mit der Wäsche zu thun; dann bei der Arbeit nahm ich Uhland’s Gedichte vor und lernte des Sängers Fluch. Es war wieder ein herrlicher Tag; bei dem schönen Wetter werdet Ihr gewiß Sehnsucht nach Wald und See bekommen; es ist gar zu reizend hier; das ewige Blau des Himmels tagtäglich erinnert sehr an Italien. Gestern lief wieder ein Gratulationsbrief ein von Olga Schlözer und ihrer Mutter, die uns beide sehr lieb haben und auf’s Herzlichste schreiben. Die kindliche Naivität Olgas amüsirt mich; sie glaubt eine Braut bewege sich nur in lauter Poesie (was sie wohl möchte, aber –) und sehr verstohlen fragt sie, ob man in einem Briefe an die Braut auch von prosaischen Dingen reden dürfe. Nach Tisch wurde wieder etwas geruht und gelesen und nach dem Kaffee trat ich mit Taschen gerüstet eine längere Wanderung an. Ich ging erst ein Stückchen in den lieben Buchenwald hinein, dann in die Dünen, um Disteln für meinen Schatz zu suchen, der mir in Gedanken auf Schritt und Tritt folgte. Ich kam an wundervollen Exemplaren vorbei, aber alle braun und vertrocknet; ich war sehr mißgestimmt darüber, doch wurde mir auf der anderen Seite Freude zu Theil; der Mond stieg als feuerrothe Scheibe über dem Meere auf und ging allmählich zu seinem silbernen Licht über. Nach langem beharrlichen Suchen habe ich dann ein paar kleine frische Exemplare gefunden und eingelegt; im nächsten Jahr sollst Du beßere haben. Den Rückweg legte ich am Strand zurück, wo ich große Muscheln für Dich suchen wollte, doch waren sie alle beschädigt, also nichts für Dich. Ich lagerte mich noch ein ¼ Stündchen auf dem Herrensteg und ließ mich vom Vollmond bescheinen und lebte ganz auf in Dir, mein süßes Herz. Es war ein köstlicher Abend. Bis 9 Uhr saßen wir noch in der Halle, den Mond gerade vor uns, dann wurde es kühler und die vernünftige Anna ging hinein, spielte etwas Klavier, arbeitete und schrieb dann noch an ihren Schatz. Ich muß abbrechen, es geht zu Tisch. ||

So eben kommen Deine lieben Zeilen, mein herziger Schatz, und ich eile die meinen noch heute auf die Post zu bekommen, damit Du zum Sonntag eine kleine Freude in Deiner Trübseligkeit hast; doch bin ich schon froh, daß Du Dich etwas beßer fühlst, da wird das schöne Wetter hoffentlich den stomatitis catarrhalis bald gänzlich verscheuchen, verliere nur nicht den Muth und denk an Dein Lieb, die freilich auch allein [ist], aber in so schöner Natur, die unwillkührlich fröhlich stimmt. Ich sehe überall mit doppelten Augen und werde Dir frische Bilder mit nach Berlin bringen, wo ich vielleicht eher bin, als wir Beide denken. – Das muß ja eine entsetzliche Fahrt gewesen sein, nicht geeignet einen traurig gestimmten Kranken zu erheitern, desto mehr freute ich mich immer über den hellen erfrischenden Sonnenschein. Deine Mutter hat sich hoffentlich für ewige Zeiten ausgeängstigt; es ist doppelt schlimm, wenn die Angst aus so gutem Herzen kommt; grüße die beiden Alten herzlich und sage ihnen, wie dankbar ich bin für die große Freude Eures Hierseins. Die Schatten deßelben treten bei mir schon stark in den Hintergrund; die schönen Stunden, deren es an Deinem Bette doch auch manche gab, sind ein heller Lichtpunkt in der Erinnerung für lange Zeiten und wir wollen sie uns nicht durch die Kehrseiten des Lebens rauben laßen. Auf Dich scheinen ja die Gratulationsbriefe ebenso wie auf mich zu regnen; ich wollte sie wären alle beantwortet, hab Dank für die beiden Anzeigen, die ich nun auch mit einem Briefe abgehen laßen muß. An Beschäftigung fehlt mir es nicht, nur an Einem, der mir ja ganz angehört. Herzchen wie freue ich mich, Dich bald wieder zu haben, und dann sind wir Beide ganz frisch! Wie kommt denn Quincke zu der Äußerung, daß ich Dich unter dem Pantoffel hätte, ist das wahr Schatzchen? Nein, laß Dir das nicht gefallen und behalte Du die Herrschaft über mich, das ist viel beßer für mich. b Bin ich zu Haus nicht nothwendig, wandere ich heute nach der Wolfschlucht, um Sonnen-||untergang und Mondaufgang dort zu sehen; Sonntag weißt Du, wo Du mich bei schönem Wetter zu suchen hast; da werde ich den Sonntag vor vierzehn Tagen in der Erinnerung noch einmal durchleben und nicht einsam in der deutschen „Waldeinsamkeit“ sein. Was schreibt denn Hein und was sagen Deine Berliner Freunde zu Deiner Verlobung? Sind Deine Befürchtungen gerecht gewesen, oder freuen sie sich Deines Glückes? Du schreibst nichts davon. Ich eile zum Schluß, damit der Brief fortkommt. Mutter grüßt mit mir Euch Alle herzlich.

Dir einen Kuß von Deiner treuen Änni. Schreib recht bald. ||

a eingef.: war; b gestr.: Werde

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
24.09.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34422
ID
34422