Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Heringsdorf, 27. August 1858

Heringsdorf 27.8.58. | Abends 10 Uhr.

Eben gehen Sethens Alle fort, liebster Ernst, so daß ich nicht eher zum Plaudern mit Dir kommen konnte, aber nun hoffe ich auch noch ein ganzes Weilchen mit Dir und dem Mond zusammen zu sein, der sein silbernes Licht auf mein Papier wirft und mir Kuß und Gruß vom Liebchen schickt. Tausend, tausend Dank für Deine lieben Zeilen, die ich heute lange in der Tasche herumtragen mußte, da ich sie in dem Augenblick erhielt, wo wir uns, d. h. Heinrich und ich, ferner Heinrich, Marie und die beiden Adelheids zum Langenberg rüsteten. Am Strande schien mir die Sonne gerade in die Augen und war die Nähe der Kinder zu gefährlich, weshalb ich rüstig vorwärts schritt an der schön beleuchteten See und dann durch den prachtvollen Buchenwald, den ich mit Wonne zum ersten Mal in diesem Jahr betrat; könnte ich Dir nur so leicht schreiben, wie wohl und glücklich, Dir immer am nächsten [ich mich] in der freien Natur fühle; dummer Weise kann ich nicht jedes Ach und O bei mir behalten, weßwegen ich mir sammt den Mondscheinbegeisterungen immerwährende Neckerei zuziehe. Heinrich machte mich heut besonders schlecht wegen meines Sturmschrittes, der aber gar nicht so arg war; wenigstens dachte ich mich an Deiner Seite in einem viel beßern || Tempo, ein Gedanke, der mich ganz selig macht; mochte auch sein, daß Dein Brief in meiner Tasche die Füße schneller hob, kurz ich kam etwas eher oben an und nach einem flüchtigen Blick auf das großartig vor mir ausgebreitete Meer konnte ich ein Stückchen von Deinem Brief lesen, ehe die Nachzügler zu mir stießen. Dann ging es weiter nach dem Gerüst, von wo eine prächtige Aussicht Dich gewiß auch entzücken wird. Auf dem Wege dorthin las ich die reizenden Gedichte, die mir ganz wie der Herzenserguß meines lieben Erni klingen, drum schreibe ich sie auch seiner Feder zu; nur ist mit dem Eichbaum und Epheu eine kleine Verwechselung vorgegangen, die ihrer eigenen Natur widersprechen. Wie hübsch, daß Du mir so ausführlich über die Jenaertage schreibst, in die [ich] mich nach der Nationalzeitung schon ganz hineingelebt hatte; nach Deinem Rath in diesem Punkt muß ich schließen, daß ich Dir darüber im letzten Brief zu schreiben vergaß; die Berichte waren recht gut geschrieben, aber führten mich doch lange nicht wie die Deinen in den Festzirkel ein. Ich kann mir denken, wie das frische freie, ungezwungene Leben und die von Innen herauskommende Begeisterung Dich lieben Naturmenschen angesprochen haben, dank Max Schultze, der Dich zu dieser Reise nach dem lieben Jena vermocht hat! – Diese Reise zu Deiner Braut, wie Deine || Freunde sagen, die bittere Ironie dieses Passus hat mich sehr amüsirt; Du hast sie auf einen guten Irrweg geführt, trotzdem sie Dich durchschaut haben. Lieber Erni, geht es mir doch jetzt ebenso; immer meine ich von den Leuten auf meine Liebe angesehen zu werden und sie ihnen durch meine Reden und Worte merken zu laßen; ich glaube etwas Egoismus ist dabei auch im Spiele, ist er aber nicht verzeihlich, wenn das ganze Wesen von Liebe durchdrungen ist, von Liebe zum besten Menschen auf der Welt. Schatzchen, wie kannst Du mich nur um Verzeihung bitten wegen der trüben Stunden, die wir schon zusammen verlebt haben, ich möchte sie nicht mißen und habe Dich nur noch lieber dadurch gewonnen, weil sie mir klar Dein Herz mit den unvermeidlichen Kämpfen zeigten, die Wißenschaft und Liebeskraft, nothwendig in Dir hervorrufen mußten. Ich konnte mich ganz in Deine Seele hineindenken und wußte ja nur zu gut, daß das wild bewegte Waßer seinen klaren, glatten Spiegel wieder erlangen würde. Und sollen wir nicht auch trübe Stunden durchleben; gedeiht die Blume nicht bei Sonnenschein und Regen? Ich habe es selbst schon empfunden, wie schwere Zeiten der Trauer und Herzensarmuth den Menschen reifen laßen, wozu ich freilich Sonnenschein auch sehr nothwendig gebrauche. Bitte mir es || nicht mehr ab, sondern laße mich immer tiefen Blick in Dein Herz thun, in dem Dunkel und Klarheit, Zweifel und Gewißheit, Egoismus und hingebende Liebe wie in jeder menschlichen Brust eng bei einander wohnen. Mein Herz, ich liebe Dich so innig, daß ich meine, Dir dies Alles gar nicht erst sagen zu brauchen, und doch fließt die Lippe über, die Dir bald, bald wieder einen Kuß geben wird. Ich zähle schon Tage und Stunden, die ich Dich noch entbehren muß. Schönes Wetter bestelle ich alle Tage dem Himmel für diese Septemberzeit und darauf sieht er mich seit einigen Tagen so blau an, daß ich meine in meines Erni Augen zu sehen und ich bin der Erfüllung meines Wunsches gewiß. Einen so klaren Tag wie heute, haben wir noch nicht gehabt; mit bloßen Augen konnte ich nicht allein Rügen, sondern auch das Schloß in Puttbus auf der anderen Seite jedes Haus in Misdroy unterscheiden. Blumen habe ich mir auch viele mitgebracht, wage sie aber nicht Onkel Julius mitzugeben, der derartige Reiseutensilien nicht liebt, Du sollst sie bald mit mir zusammenpflücken. Vor ein paar Tagen habe ich eine Menge gerippter Muscheln mit nach Hause gebracht, die alle bewohnt waren. Ich versuchte aus einigen die Thierchen herauszunehmen, allein nach einigen Versuchen || konnte ich es nicht fernerhin über’s Herz bringen, die kleinen niedlichen Thierchen, die ich durch Dich ordentlich lieb gewonnen habe, zu tödten, und nahm die Muscheln wieder mit in die See; da reißt mich heute der Dr. Wilde, der jetzt in Stargard praktischer Arzt ist, ein Bekannter von Dir und auch von meinem Bruder Heinrich, aus meinem Wahn und sagt mir, daß die Thierchen schon todt seien, wenn man die Muscheln findet. Wir trafen ihn auf dem langen Berg, von wo er den Rückweg mit uns zusammen machte; da haben wir viel über Dich geplaudert, eine seltene Wonne für mich. Er fragte mich, ob ich Dich kennte, worüber ich beinahe hell auf gelacht hätte; Hermine und Bertha kannte er und wunderte sich, daß ich Blondine eine Schwester dieser beiden Brünetten sein sollte. Er ist ja gewißer Maßen an Deinem Cursus schuld, den er Deinem Vater als dringend nothwendig eingeredet hat. Er ist acht Tage hier gewesen, um, wie er sagt, seine Hyppochondrie hier zu laßen, was ihm auch gelungen sei; die Welt sagt, er sei der verehrten Dame seines Herzens nachgereis’t. Im Ganzen hat er mir einen etwas verschrobenen jedenfalls unklaren Eindruck gemacht, ich weiß ich, ob ich irre. – ||

Nun etwas von meinen Tagesbegebenheiten. Dienstag Nachmittag hatte ich zuletzt mit Dir geplaudert; als ich gegen Abend den Brief auf die Post trug, begegnete mir der Kreisrichter Böhmer aus Stettin, aber so verändert durch die Pocken, die er sehr heftig gehabt hat, daß ich ordentlich erschrak, und in meinem Herzen dachte, es ist doch recht gut, daß sie Dir keine Spuren hinterlaßen haben, obgleich Du mir darum kein Gränchen weniger lieb wärest; warum hätte ich sonst wohl an dem Sonntag mit Dir gespielt, Du lieber, lieber Herzensschatz? Mittwoch machten wir mit Sethens zusammen eine höchst verunglückte Partie nach Corswant. Um 10 Uhr fuhren die Übrigen (Heinrich Sethe, Marie und ich gingen) beim schönsten Wetter aus. Bei der Ahlbecker Wiese lagerten wir Drei uns und frühstückten und als wir gestärkt den Weitermarsch antreten wollten, bricht ein Regen los, der stärker und stärker wurde, so daß wir ganz ohne Schirme sehr durchnäßt im Forsthause ankamen und darin leider bis Nachmittag 3 Uhr die meiste Zeit des Regens wegen zubringen [mußten]. Die Rückfahrt war herrlich und Abends brachte mir der Mond aus Wolken hervor tausend, tausend Grüße von Dir. || Gestern war ein gänzlicher Regentag, den ich theils mit nothwendigen Briefen, die seit Monaten meiner warteten, theils mit Flicken und Lesen zugebracht habe. Um 6 Uhr ging ich an den Strand und wanderte dort bis 7½ Uhr umher, mich nicht satt sehen könnend an der in jeder Minute wechselnden Beleuchtung, die starken italienischen Charakter hatte. In solchen Momenten verliere ich mich ganz in meine Liebe und bin für die übrigen Menschen nur halb da, denen ich gewiß einen wunderbaren Eindruck mache. Etwas zusammen nehmen kann ich mich [ ] doch, als die vor Clara Brauchitzsch [ ] ganz unbefangen sagt, [ ] Ernst Haeckel gefallen oder Derartiges. Den Abend lasen wir uns Arndt vor. Heute Morgen habe ich ein köstliches Bad gehabt, sehr starke Wellen, die mit solcher Gewalt kamen, daß sie mich um und umwarfen, und das Wasser eisig kalt. Der übrige Morgen verging mit Haartrocknen und Wäsche legen. Den übrigen Tag kennst Du und wenn ich Dir nicht noch vom morgenden erzählen soll, sage ich Dir gute Nacht, da es bereits 11½ Uhr geworden ist, und ich um 6 Uhr schon wieder im Waßer sein muß. Deinen Eltern von uns Allen die herzlichsten Grüße. Dir einen innigen Kuß von Deiner Änni

felicissima notte! ||

An Ernst

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
27.08.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34420
ID
34420