Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Heringsdorf, 24. August 1858

Heringsdorf 24.8.58.

Gestern war in jeder Beziehung ein schöner Tag für mich, mein lieber Ernst, laß ihn Dir kurz erzählen, damit Du Theil nehmen kannst an Allem, was um mich her und in mir vorgeht. Überhaupt weißt Du noch gar nicht recht, wie ich den Tag eingetheilt habe. Um 5 Uhr stehe ich auf, sehe noch etwas Morgenroth und dann rüste ich mich zum Spaziergang an die See, an der [ich] um 6 Uhr meine Badestunde habe. Bis jetzt habe ich noch immer schöne Wellen gehabt, in die ich mich mit einer wahren Lust hineinstürze, und die mir auch vortrefflich bekommen; etwas Husten habe ich noch ab und zu; allein den wird die See wohl fortspülen. All um den andern Tag baden die beiden kleineren Burchels mit mir, anfangs unter entsetzlichem Zethergeschrei, heute aber schon ganz vergnügt. Helene Brauchitzsch, die sehr an Magen und Brustschmerzen leidet, darf nicht mehr kalt baden, sondern nimmt warme Seebäder. Dann schmeckt das Frühstück vortrefflich. Dann bleibe ich mit den Kindern zusammen in der Halle sitzen und werfe von der Arbeit manchen Blick auf die See, oder ich sitze wie jetzt auf den Kirchenstufen und plaudere mit meinem lieben Schatz. Um 9½ oder 10 Uhr ziehe ich mich an, und dann bringe ich den übrigen Morgen entweder im Wald oder in der Halle zu. Um 1 Uhr wird Mittag gegeßen und dann lese ich, schlafe immer kurze Zeit dabei ein, woran wohl das Herumtummeln in der frischen Luft || den ganzen Tag schuld ist. Um 4 Uhr wird Kaffee getrunken und dann ein weiterer Spaziergang gemacht oder erst später an die See gegangen, die ich immer nicht genug ansehen kann. Nach dem Abendbrod (8 Uhr) lesen wir Arndt, oder spielen oder treiben uns noch im Freien herum, und wenn Alles zu Bett ist, greife ich zur Reise und verfolge nur gar zu gern meinen kühnen Alpensteiger in die herrliche Gottesnatur; leider kann ich nur nicht ordentlich hintereinander drin lesen wegen Helene Brauchitzsch. Jetzt an den köstlichen Mondscheinabenden, an denen ich mich ganz besonders nach Dir sehne, bin ich mit Heinrich noch bis 10½ Uhr am Strande gewesen.

Gestern nach dem Frühstück, während wir Preißelbeeren zum Einmachen aussuchten, erschien der Prediger Richter, Hermine und mich im Namen seines Patrons, des Gutsbesitzers Kiepert zu bitten, deßen Geburtstag Mittags oben am Gesellschaftshaus und Nachmittag in Corswant feiern zu helfen was wir annahmen. Wir nahmen denn auch unter vielen netten Leuten um 2 Uhr ein vortreffliches Diner mit köstlicher Ananasbowle und Eis unter herrlichen grünen Buchen bei guter Musik ein, die Frau Kiepert zur Überraschung aus Swinemünde bestellt hatte. Doch ich habe meinem Tagesbericht vorgegriffen. Um 11½ Uhr war ich an den Strand gewandert, um Onkel Julius dort zu erwarten. Nachdem ich 1 Stunde in Gluthitze geschmort hatte, || wanderte ich durch die Dünen wieder zurück und erfuhr zu Haus, das Onkel Julius, der schon um 11 Uhr angekommen war, schon da gewesen sei und verschiedene Briefe da gelaßen hatte, außer einem an mich von Tante Bertha, den ich mir selbst holen mußte. Meine Erwartung war groß, und trotzdem ich wie gekocht war, unternahm ich noch den heißen Weg durch die Sonne und erhielt dann zur Belohnung noch einen zweiten lieben, lieben Brief, der mich so sehr erfreute. Leider war die Zeit schon vorgerückt und ich konnte zu Haus nur Deinen Brief halb lesen, steckte ihn aber ein und konnte ihn vor dem Gesellschaftshaus, das dicht bei unserem liegt, fertig lesen, da die Gesellschaft noch nicht ganz zusammen war. Sie bestand aus Herrn und Frau Kiepert, sehr netten, offenen, natürlichen Menschen und ihren beiden Knaben von 8 und 9 Jahren, einem Referendarius Kerbel mit Frau aus Berlin, welche letztere sehr musikalisch ist, und einer wenig angenehmen Cousine; Krinoline und gedrechseltes, zieriges Wesen machten sie für mich unnahbar; ferner dem Prediger Richter, dem Bruder der Frau Kiepert und Frau, die zu dem Tage hergekommen waren, auch sehr netten Leuten. Wir waren in der schönen Natur sehr vergnügt. Sehr nette Toaste wurden ausgebracht von Richter auf Kiepert, das Leben mit dem Meere vergleichend, von Kiepert auf seine Frau, die er allen || jungen Mädchen als Musterfrau empfahl; dann wieder von Richter auf die Abwesenden, wobei ich, wie Du denken kannst mein Glas ganz besonders klingen ließ, Du herziger Schatz. Um 4½ Uhr wurde nach dem lieblichen Corswant aufgebrochen, einer Försterei unter prächtigen Buchen an dem schönen, rings bewachsenen Wolgastsee gelegen. Die Damen fuhren Alle; ich konnte meiner Lust zum Gehen nicht widerstehen und schloß mich den Fußgängern an; der Weg ist reizend durch die schönsten Buchen- und Eichenpartien mal der saftig grünen Ahlbecker Wiese nahe, und konnte mich nicht genug über die herrliche Natur freuen; fand auch prächtige Orchedäen, die das Zimmer schmücken. Ab und zu sangen Kiepert und Richter zweistimmig, was unter hohen Bäumen sehr gut klang. Wir kamen gleich nach dem Wagen an und noch ehe der Kaffee da war, wurde schon Quartett gesungen; nach dem Kaffee folgte eins dem andern, ich setzte mich in einiger Entfernung hin und während sie: stille Nacht, heilige Nacht und andere schöne Sachen sangen, las ich in aller Ruhe Deinen Brief und wünschte nichts mehr, als Dich an meiner Seite zu haben und den schönen Gesang mit anzuhören. Dann ging es an den See herunter und bei Sonnenuntergang stimmte das Quartett weiter an: Seht, wie die Sonne schon sinket und währenddem trat der Mond allmählich hinter Wolken hervor und stand bei || unserer Abfahrt voll und klar über dem schönen See. Tausend, tausend Grüße habe ich ihm aufgetragen; er beleuchtete uns auf der ganzen Strecke zwischen Bäumen hervorsehend; leider mußten wir ihm den Rücken kehren, wozu ich mich nicht recht entschließen konnte, und das Gesicht ihm beständig zuwandte. Weißt Du, daß gestern in 4 Wochen der 20 ist und da können wir leicht zusammen diesen herrlichen Genuß haben. Ich bin sehr, sehr glücklich, mein lieber Schatz in diesem Gedanken, der mich auch Nachts im Traum vielfach beschäftigt. Sonntag hatten wir zu Mittag Besuch von dem Frankfurter Adolf Bennecke, der unter den Greifswalder Jägern steht und als solcher in Swinemünde auf dem Durchmarsch zum Manoeuvre nach Stettin ist. Wir gingen nach 5 Uhr nach der Wolfsschlucht, da sich das Meer trotz einiger Unklarheit schön presentirte; auf dem Rückweg begegnete uns Familie Kiepert und musikalische Freunde, von denen wir wieder mit um nach der Wolfsschlucht genöthigt wurden, wohin sie den Weg gar nicht kannten. Wir willigten ein und hörten an einem Abhang, vor uns die Ahlbecker Wiese bei Sonnenuntergang zum ersten Mal das Quartett musiciren, was mir ein großer Genuß war. Ich hatte so lange nicht singen hören und nun in meiner lieben Natur, wo es noch || viel beßer klingt. Den größten Theil des Rückwegs legten wir nicht durch den Wald zurück, sondern gingen quer durch die Dünen nach dem Strande, wo ein neuer Genuß unserer wartete. Der Mond stand über dem Meer und färbte mit seinem rosigen Lichte (es war noch nicht dunkel und der Mond noch nicht silbern) wunderbar schön die an’s Ufer anschlagenden Wellen. Lange stand ich auf dem Herrensteg und verfolgte Welle um Welle bei so schöner Beleuchtung. Das war noch nicht genug, und nach dem Abendbrod trat Heinrich noch eine Wanderung mit mir an den Strand an; der Mond stand in vollster Pracht nicht mehr über dem Meere, theilte aber Allem sein magisches Licht mit. Das sind kostbare Genüße für mich, die ich so gern mit Dir theilte. Ich bin in Gedanken viel bei Dir gewesen im lieben Jena, deßen Fest merkwürdiger Weise ein ganz besonderes Intereße für mich hatte. Mit einer wahren Gier habe ich alle Artikel darüber in der Zeitung verschlungen und mich herzlich gefreut, über die frische Thatkraft und Freiheitssinn, der noch in der deutschen Jugend wohnt, besonders aber über den Aufschwung in allen Zweigen der Wißenschaft, die im lieben Jena so besonders liebevoll und erfolgreich gepflegt wird. Ach Liebchen, mir schlug das Herz, machte ich || mir klar, dort vielleicht mit Dir zu leben. Ich kann mir denken, welchen Genuß Du dort gehabt hast, möchte aber gern noch näher über Deine Erlebniße dort wißen. Und wie hübsch, daß Du Dich noch im Schwarzathal herumgetummelt hast; ich glaubte Du hättest Dich länger dort aufgehalten, und vermuthete schon Dich eine Seitentour nach dem schönen Ziegenrück machen, da habe ich geirrt. Ich habe mich sehr gefreut, daß Du das größte Jenaer Fest mitgemacht hast, allein ich bin ganz glücklich, daß meine Gedanken Dich nun wieder an bestimmten Plätzchen suchen können, bald an Deinem Schreibtisch, bald auf der Universität, nur nicht in No 4. Grüße Tante Bertha herzlich und danke ihr für den Brief und erzähle ihr von uns. Mutter ist immer noch erkältet und sehr matt; Hermine und die Kinder frisch und munter. Letztere hatte lange vergeblich auf einen Brief von Karl erwartet, bis der Euere aus Berlin mit dem lieben Bericht von Dir zusammen ankamen. Seitdem hat sie wieder Briefe gehabt, die aber durchaus nicht hypochrondisch [!] sind. Was macht denn die Alte wieder mit ihrem Finger; da wirst Du armer Schatz Dich gewiß über Schulzenpflaster ärgern; tröste Dich, mir geht es ebenso mit Mutter, die spät Abends, ohne etwas umzuhängen herausläuft, und natürlich die Erkältung [nie] los wird. Grüße Deine Eltern herzlich von mir, von Mutter und Hermine. Dir einen innigen Kuß von Deiner Aenni.a ||

Onkel Julius hat viel Schmerzen und ist gar nicht recht. Heute hat er ein warmes Seebad genommen. Könnte er nur ordentlich länger in der See baden, ich glaube, das würde ihn curiren; allein er denkt nur sehr kurz hier zu sein. b

Einliegenden Brief bittet Mutter an Tante Julchen zu besorgen.

a unleserlich wegen Siegelabdruck, Text sinngemäß ergänzt: Aenni; b kopfüber stehende Adresse: „An Ernst“

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
24.08.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34419
ID
34419