Anna Sethe an Ernst Haeckel, Heringsdorf, 20. August 1858
Heringsdorf 20.8.58.
Der Brief an Tante Bertha ist gestern nicht abgegangen, weil Mutter heute noch Flunder mitschicken will, da kann ich es doch nicht laßen, lieber Schatz Dir einen Gruß mitzuschicken; ich vermuthe Dich wenigstens wieder in Berlin. Ich bin recht begierig auf die Resultate Deiner Jenaer Reise, über die ich mich sehr gefreut habe. Ich war ganz melancholisch in den Tagen, weil ich immer noch nicht baden konnte; aber nun habe ich eben (es ist 8 Uhr) zum ersten Mal mich tüchtig mit den Wellen herumgejagt und [bin] ganz glücklich in unserem lieben bedeutungsvollen Element. Gestern war die See sehr wild, ich habe köstliche Stunden an ihr zugebracht, allein heute hat sie sich schon wieder etwas beruhigt; ich war nach 9 Uhr mit Heinrich noch einmal am Strande, um ein beabsichtigtes Feuerwerk zu sehen, das aber entweder schon vorbei [war] oder des Sturmes wegen nicht stattgefunden hatte. Die See war tobend wild, ein schauriges Dunkel, nur von dem hellen Leuchtthurm von Swinemünde erleuchtet. Das schönste Feuerwerk sahen wir aber auf dem Rückweg; zwischen den Bäumen brach aus dunkelblauen Wolken der milde Mond hervor, der nun bald seine ganze Scheibe || präsentiren wird. Ich lebte an dem Augenblick nicht in der Gegenwart, sondern dachte so mancher Stunde, die wir zusammen mit dem Mond verlebt haben und unwillkührlich tauchte mir der Abend wieder in der Erinnerung auf, da ich Dich ja gestern auch schon in der Nähe Berlins wußte, wo Du von Merseburg zurückkamst; ich war so selig Dich wieder zu haben und hatte den Abend gar nicht erwarten können; dann träumte ich mich drei Wochen älter und ein unendlich glückliches Gefühl durchdrang mich, mein liebes, liebes Herz wiederzusehen. Willkommen denn in Berlin, wo gewiß viel Arbeit Deiner wartet, namentlich wenn die Reise noch im October vor sich geht, aber dann sollst du auch 14 Tage ausruhen bei Deiner Änni, das wird Dir die Arbeit versüßen. Jeden freien Moment, d. h. wenn Helene Brauchitzsch nicht bei mir ist und das ist leider nicht oft, benutze ich für Deine Reise, die mich nur zu sehr in die herrliche Alpenwelt versetzt; gar oft frage ich mich bei argen Strapatzen, würdest Du das aushalten können und dann jubelt es immer ja in mir in der Aussicht auf all das Schöne, was ich zu sehen bekomme und das gemeinsam mit dem besten Menschen auf der Welt, einem Stückchen Natur, die ich so unbeschreiblich lieb habe. Gestern Abend || spät, als Alles schlief, war ich auch auf dem Naßfelde und habe die herrliche Gasteiner Ache um ihren schönen Lebenslauf beneidet, das ist auch ein wildes, ungezügeltes Naturkind, hat aber doch auch ruhige Momente, wo sie frische Matten bewäßert und die Leidenschaften schweigen läßt. Dahin strebe ich ja auch, mein lieber Erny, möchte Dich auch so gern ein zartes Blümchen finden laßen in meinem unruhvollen, starren, aufbrausenden Wesen. Suche nur, gewiß Du sollst noch welche finden, außer einer Rose, dem Sinnbild der Liebe, die voll und kräftig in mir Dir entgegenschlägt und nie, nie verwelken soll. Ich fühle mich schon ganz halb ohne Dich; ich leide an völliger Gedankenarmuth bis auf einen einzigen Gedanken mit dem ich mir die Entbehrung versüßen kann. Ich habe manches tiefe, ernste Gespräch mit der Helene Brauchitzsch geführt, aber sie versteht mich doch nicht wie Du. Ich habe keine Lust meine Lieblingspunkte aufzusuchen, mir fehlt immer etwas. Ich lese noch immer an den Mährchen der Alhambra, Abends mit den Anderen zusammen den Arndt, wenn Helene und ich nicht zusammenspielen, wodurch auch wehmütige Gefühle in mir wach gerufen werden. Die Stunden werden auch wieder kommen. ||
Vorgestern Abend habe ich großen Genuß nach langer Zeit gehabt; ich hörte in einem Concert den Violinisten Keller aus Berlin und den Pianisten Kortmann aus Stettin, die beide vorzüglich und mit tiefem Verständniß der Sachen, die sie vortrugen, spielten. Namentlich die Mendelssohnsche d Dur Symphonie enthielt reizende Melodien; ein Klavierstück: le réveil du lion, in dem bald das wilde Brüllen des Löwen in den tiefen Baßtönen, bald in zart lockenden Tönen die zärtliche Natur des Thieres nachgeahmt wurde. Ich dachte der Löwenscenen aus dem Sommernachtstraum, der kostbaren im zoologischen Garten, wo Du spielend mit dem Waldkönig verkehrtest. Die Erinnerung ist doch eine herrliche Mitgabe der göttlichen Natur. Sie zieht sich wie ein Silberbach durch’s Leben, die erdigen häßlichen Theilchen in den Abgrund der Vergangenheit begrabend, b nur mit freundlichen lichtvollen Wellchen den Grund des Herzens bespülend. Ich, zum Vergleichen sehr geneigt knüpfe an alle Erlebniße schon Erlebtes an und bemühe mich, wenn auch Manches fehlt, mir den Genuß nicht stören zu laßen. Auf diese Weise werde ich nie die Lust zum Leben verlieren, das für mich trotz seiner || Unvollkommenheiten so viel Reize hat, daß ich täglich mit Dank gegen Gott erwache, der mich in’s Leben gerufen hat und nun mich ein treues Herz hat finden laßen, das auch Seine göttliche Natur in sich trägt, in dem Streben nach Gutem und immer Höherem, nach Wahrheit und Klarheit. Lieber Erny, ich fühle mich so gering Dir gegenüber, bin aber darum nicht traurig, es ist gewiß das Rechte und ist uns da nicht auch ein schönes Ziel gesteckt, dem nachzustreben mir nie Lust und Muth fehlen wird. Lieb Schatzchen laß Dir einen innigen Kuß geben, ich liebe Dich unaussprechlich und muß doch immer wieder davon sprechen. Sei mir nicht bös darum, Du mußt mich nehmen wie ich bin, Du magst aber auch daraus machen, was Du willst. Natur hat uns zusammengebracht und soll uns auch zusammenhalten. Heute möchte ich Dich gar gern bei mir haben. Eben ist mit Sethens eine schöne Partie verabredet; um drei Uhr nach dem Fangel, einem niedlichen Forsthause an einem prächtigen See, dem Schmollensee gelegen mit schönen Ufern, von da durch prächtigen Buchwald nach dem Langenberg, von dem || ich Dir schon viel vorerzählt habe, da sind wir hoch über dem Meere, an deßen Ufer wir den Rückweg nach dem freundlichen Dörfchen antreten. Meine Zeit ist zu Ende, die Kiste wartet auf mich, und mein Schatz gewiß auch auf einen Brief von seiner Änni. Tausend Grüße Deinen lieben Eltern. ||
[Erste Beilage, Gedicht auf Rudolph Virchow]
Ein Inserat heute aus der Volks-Zeitung theile ich Dir noch mit:
In die Kammer!
Reformer Du! Besiegle Deinen Bund
Und ruf mit Lebenskenntniß Thaten wach!
„Das ganze Leben muß es sein“ – so sprach,
Obsiegend, wohl vor Jahren schon Dein Mund.
Laut ward jedem Haßer endlich kund:
Philanthropie allein, die milde brach
Heillose Feßeln, machte stark aus schwach,
Verbannte Wahn – Der Kranke ward gesund! –
In enger Zelle wohnte des Lebens Pracht,
Reich wirkend noch im winzigsten Gespinst
Cellären Elements; doch auch der Schritt
Hinaus in’s Leben führt zur Lebensmacht!
O thu den Schritt! – Wie sehr auch Scheelsucht grinst –
Wer klar denkt, Gutes will, den führst Du mit.
Nicht wahr, das ist treffend und wahr und gefällt Dir gewiß. In der Kammer ist es gestern auch wieder recht lebendig hergegangen. Habe ich Dir denn schon erzählt, daß wir heute Abend Beide bei Ehrenberg sein sollten? Klugheit ist doch eine edle Gabe Gottes!
Deine unnütze Aenni. ||
Polycystinae
Anthagatisc Prosapinae, testulae capitulo celluloso globoso in vertice spinuloso, spectura ampla bipartia basalis, articulo altero dilitato hemisphaerico cellulis maioribus in series longitudinales dispositis ornato, aperturae postremae amplae marginae spinoso. Longitudo totius – 1/26’’’, capituli diameter 1/84’’’ spinarum taminatium longitudo capitulo brevior. In singular articulo secundo cellularum serie 4–5.
[Zweite Beilage]
Deine Liebe hat mich beschlichen,
Wie der Frühling die Erde,
Wann der Winter nun ist entwichen,
Kaum merkt sie, daß warm es werde.
Aber der Sinne herrliche Kraft
Hat schon das Herz ihr gerühret,
In der Wurzel regt sich der Saft,
Noch ehe der Zweig es spüret.
Der Schnee zerschmilzt, die Wolken zergehn,
Die erste Blüth’ ist entglommen ||
Dann sieht sie in voller Glut sich stehn,
Und weiß nicht wie es gekommen.
(weißt Du es?)
Beinahe hätte ich vergeßen, Dir zu gratuliren, Glückspilzchen zu Deiner prächtigen Reisegesellschaftnach dem schönen Italien; es freut mich sehr für Dich. Winter über’s Jahr haben wir uns wieder. Ade, ade!
a eingef.: in; b gestr.: und